Ich lese gerade ein Buch von Falko Peschel über Offenen Unterricht, und was dort (zumindest in den ersten 178 Seiten) eher als Nebensatz erwähnt wird, erscheint mir wert, einen eigenen Artikel darüber zu schreiben: es ist gar nicht so einfach, zu wissen, was man (tun) will. Nichtsdestotrotz wird dies in manchen (alternativen) Schulen zumindest phasenweise von den Kindern verlangt – um sich dann zu wundern, wenn eine erste Reaktion oft auch Überforderung oder Langeweile ist. In all der Freiheit, die wir an der Situation der Kinder als Erwachsene wahrnehmen (was nicht bedeutet, dass sie sie wahrnehmen müssen), steckt auch eine große Herausforderung. Es ist leichter, das zu tun, was von einem verlangt wird. Nicht unbedingt sinnvoller oder zielführender im Hinblick auf Selbstbestimmung oder Selbsterkenntnis. Aber oft leichter.
Wer sich vor die Aufgabe gestellt sieht, eine Handlung auszuführen, muss sich überlegen, wie die Handlung umgesetzt werden kann, muss die entsprechenden Bewegungen steuern und am Ende anhand einer internen oder externen Norm überprüfen, ob die Handlung abgeschlossen ist oder noch der Überarbeitung bedarf. Wer jedoch tun soll, was er will, muss zusätzlich noch die Balance wahren zwischen dem Ergebnis und seinem Willen, muss sich die Normen zur Endbewertung selbst entwerfen. Während externe Arbeitsaufträge im Regelfall vorgegebene Anfänge und Enden haben, gleicht das selbstbestimmte Tun eher einer grundsätzlich unbegrenzten Spirale von Wollen, Handeln und daraus entspringendem neuen Wollen, das weder das Ergebnis des Handelns noch den Willen selbst unverändert lässt und zu einer zunehmenden Komplexität des Ichs führt.
Wer weiß wirklich, was er will?
Wenn ich mich in meiner näheren Umgebung umsehe, so treffe ich kaum auf Menschen, die mir den Eindruck erwecken, dass sie wissen, was sie tatsächlich wollen. Vieles von dem, was Erwachsene um mich herum tun, tun sie aus der Not von Bedürfnissen heraus oder aus Gewohnheit: Essen, Trinken, Schlafen, Fernsehen, zur Arbeit gehen, jemanden sagen, dass sie ihn liebhaben, mit jemandem schlafen. Ein erstaunlich geringer Anteil unseres Alltagslebens scheint tatsächlich darauf zu basieren, was jemand will. Selbst diejenigen, denen oft nachgesagt wird, dass sie „wissen, was sie wollen“, wissen oft eher, was sie nicht wollen: dass man sie schlägt, dass sie einen Job machen, der ihnen keine Freude bereitet, dass man schlecht über sie redet. Aber zu wissen, was man wirklich will, und dies tatsächlich umzusetzen – wie wenige Menschen erfüllen diese Kriterien tatsächlich?
Ich halte die Frage für berechtigt, ob es sich bei der Forderung mancher Pädagogen, den Kindern doch die Möglichkeit zu bieten, das zu tun, was sie wollen, nicht um eine Reaktion einiger Pädagogen auf das Gefühl ist, selbst nie die Möglichkeit dazu gehabt zu haben. Nicht, dass ich ein Zulassen von dem, was Kindern wichtig ist, nicht für sehr sinnvoll erachte. Aber ich frage mich, warum manche dann überrascht sind, wenn das, was weder sie noch ihre erwachsenen Freunde und Bekannte mit ihrem Vorsprung an Erfahrung zusammenbringen, bei Kindern dann nicht ohne Phasen der Langeweile, Irrwege und Fehlversuche funktioniert.
Tun, was man glaubt, zu wollen
Ganz allgemein halte ich die Begrifflichkeit des Satzes „tun, was man will“ für ein wenig problematisch, weil es impliziert, dass man tatsächlich weiß, was man will. In meiner Erfahrung handelt es sich bei diesem „Wollen“ im Regelfall eher um Vermutungen, was man wollen könnte. Wie oft in meinem Leben habe ich nicht geglaubt, etwas zu wollen, nur um dann, als ich es exakt wie gewollt erreicht hatte, feststellen musste, dass mir das Ergebnis so gar nicht passte! Da ich diese Erfahrung oft genug machen durfte (und ich danke jenen, die mir diese Freiräume ermöglicht haben, dafür), habe ich für mich daraus geschlossen, dass mein Wille zwar die Richtung meines Tuns vorgeben kann und soll, aber ich immer offen sein sollte für die Konsequenzen meines Handelns und ob diese nicht meine Willens-„Richtung“ beeinflussen sollten.
Ich bin für mich zu der Ansicht gelangt, dass es mich eher unglücklich machen würde, immer das zu tun, was ich will. Was mich glücklich macht, ist das zu tun, was ich glaube zu wollen, und an den Erfahrungen, die ich daraus ziehe, herauszufinden, was ich will. Es geht dabei weniger um das Tun selbst, sondern um die Selbsterkenntnis, die für mich rein durch das Tun entstehen kann. Ich kann in meiner Erfahrung letztendlich nicht herausfinden, was ich will, indem ich darüber nachdenke, sondern nur, indem ich das, was ich glaube zu wollen, ausprobiere und dann überprüfe, was das mit meinem Willen macht.
Angenommen, ich will lernen, Gitarre zu spielen. Stolz halte ich meine erste Gitarre in Händen, lege die Finger der linken Hand aufs Griffbrett, wie es meine Vorbilder tun, hole theatralisch mit der rechten Hand aus, lasse sie hinuntersausen wie ein Gitarren-Gott und – ein unschöner Haufen dissonanter Töne entsteht. Ich habe meinen Willen erreicht, eine Gitarre in der Hand zu halten und die Möglichkeit zu haben, zu spielen. Nun aber bemerke ich erst, dass zum Gitarre spielen mehr gehört als eine Gitarre, woraus der Wille entstehen kann, erste Akkorde spielen zu lernen, einige Lieder nachspielen zu können – oder sie schnellstmöglich wieder aus der Hand zu legen, weil es den Aufwand nicht wert erscheint. Das zu tun, was man glaubt, zu wollen, erzeugt ein Feedback, mit dem weitergearbeitet, weiter-gewollt werden kann, und deswegen ist es so wichtig, Freiräume zu haben, die Irrwege ermöglichen. Wer die Möglichkeit hat, das zu tun, was er glaubt zu wollen, der hat eine realistische Chance, auf Dinge zu stoßen, die er wollen könnte.
Wer ich bin
Wer es jedoch gewohnt ist, das zu tun, was andere wollen (oder vorgeben zu wollen), wie oft wird er unerfüllten Wünschen nachhängen, die ihm bei Erfüllung ebenso wenig glücklich machen würden? Oft habe ich bei Erwachsenen festgestellt, dass dieses Wollen bei ihnen dann zum „eigentlich wollen, aber“ wird: „Eigentlich würde ich ja gerne eine Weltreise machen, aber …“. Sie haben Angst, herauszufinden, dass das, was sie glaubten zu wollen, sie auch nicht glücklich macht. Und so „wollen“ sie viel und hüten sich, jemals zu tun, von dem sie vorgeben, es zu wollen, doch Angst haben, herauszufinden, dass sie sich geirrt haben.
Es ist immer leichter, externen Faktoren die Schuld am eigenen Unglück zu geben, als selbst dafür Verantwortung zu übernehmen. Diesen Anspruch von Anfang an an Kinder zu stellen, stellt in absoluter Form im Endeffekt eine riesige Über-Forderung an sie dar. Doch wenn klar ist, dass es nicht darum geht, dass sie immer wissen, was sie wollen, sondern darum, sich auf einen Weg der Selbsterkenntnis zu machen, auf dem Irrwege nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig sein werden (wie kann ich wissen, wer ich bin oder sein möchte, wenn ich nicht erfahren habe, wer ich nicht sein möchte?), und dass dieser Weg auch als Erwachsene noch weiterführen wird, kann es zu einer inspirierende Überforderung werden. Es gibt dann nämlich eine Frage, auf die anders als bei rund 99% des üblichen Schulwissens tatsächlich niemand eine Antwort hat und auch nicht für einen finden wird: Wer bin ich?
Vielleicht sollten wir Kindern, die mit dem Auftrag, das zu tun, was sie wollen, überfordert sind, die Frage anders stellen. Wer glaubst du zu sein? Wer, glaubst du, möchtest du sein? Wie können wir dir helfen, herauszufinden, ob du das wirklich möchtest? Dann ist es auch ideologietechnisch kein großes Problem mehr, Schülern anzubieten, doch bestimmte vom Lehrer angebotene Dinge auszuprobieren – ausprobieren kann man vieles, und ob man es wirklich mag, sieht man dann eben durch praktisches Erleben. Damit kann Schule zu einem Ort der Selbst-Erkenntnis durch Tun werden, die den Kindern ein reiches Angebot an Selbsterkenntnis-Ressourcen bietet, die ihm die Frage, wer es sei oder sein möchte, erleichtert.
Und ist nicht gerade dies auch Aufgabe der Schule?
Niklas