Zu Besuch in der Freien Schule Leben und Lernen (Selent, Deutschland)

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

So, nach knapp 500 km und entsprechend vielen Stunden stand nun die nächste Schule auf meiner Liste, dieses Mal eine, die mir bereits in der Einladungs-Email einen Link zu einem Rap-Video der Kinder geschickt hatte. Es versprach also spannend zu werden. Schon in der nahegelegenen Landeshauptstadt Kiel erklärten mir einige nette Männer den Weg und halfen mir sogar, einen Radbolzen, der sich gelöst hatte, wieder anzuschrauben. Aber zur Schule und ihre interessanten Details:

Eine wirklich basisdemokratische Schulversammlung

Nachdem sich ja beinahe jede Schule, die heutzutage etwas auf sich hält, das Wort „demokratisch“ an die Fahnen heften möchte, was sich dann jedoch meist darin beschränkt, Morgen- oder Abschlusskreise abzuhalten, in denen bestimmte Tagesthemen kurz durchbesprochen werden, fand ich hier zum ersten Mal eine wirklich ziemlich basisdemokratisch durchorganisierte Schule vor. Innerhalb der geltenden Gesetzeslage und bei Beachtung sicherheitstechnischer Grundsätze können die Schüler gemeinsam mit den Lehrern hier tatsächlich alle Regeln mitbestimmen. Weder werden Entscheidungen, die dem Lehrkörper nicht passen, zurückgenommen, noch werden die Entscheidungen unterschwellig von den Betreuern beeinflusst. Geleitet werden diese Versammlungen von den Schülern selbst, wobei im Regelfall mindestens ein Betreuer beiwohnt. Die Sitzungsthemen werden bis zum Dienstag gesammelt, dann abgearbeitet.

Das Lösungskomitee

Bei Konflikten, die die Schüler nicht von selbst untereinander lösen können, gibt es die Möglichkeit eines Lösungskomitees. Dabei wird versucht, den Konfliktparteien die Sichtweise des Gegenübers verständlich zu machen und eine gemeinsame Lösung gesucht. Geleitet ebenso von den Schülern, wiederum in Anwesenheit von mindestens einem Betreuer.

Ein Zertifikatssystem der Freiheit

Über den Erwerb von Zertifikaten ist des den Schülern möglich, verschiedene Stufen der Bewegungsfreiheit zu erlangen. Stufe 1 ermöglicht es, sich im Haus frei bewegen zu dürfen, Stufe 2 gilt für das ganze Schulgelände und Stufe 3 gilt auch für eventuelle Ausflüge in den Wald und Ähnliches, also auch außerhalb des Schulgebäudes. Erworben werden diese Zertifikate durch Prüfungen über die entsprechenden Regulierungen, abgesichert durch Unterregeln (z.B. Schulgebäude verlassen nur in Gruppen) und auch nur mit schriftlicher Einverständniserklärung der Eltern.

Individuelle Prüfungsvorbereitung auf externen Prüfungen

Zumindest in Deutschland ist es möglich, Externistenprüfungen sowohl für einen Hauptschulabschluss als auch einen Realschulabschluss abzulegen. Der Unterschied liegt in der Schwierigkeit. Für die entsprechenden externen Prüfungen gibt es die Möglichkeit, individuelles Coaching in Anspruch zu nehmen. Sollte sich ein Schüler entscheiden, die Prüfungen nicht ablegen zu wollen, ist ihm das auch (nach Sichtbarmachung der entsprechenden Konsequenzen) freigestellt. Der übliche Weg ist es jedoch, zuerst die Hauptschul- und dann die Realschulprüfung zu absolvieren.


Rollenspiele und Geschichtenerzähler

Besonders interessant fand ich auch, dass die Kinder begannen, ein Rollenspiel zu spielen. Da waren sie dann eben Orks, Elfen und Zwerge (Herr der Ringe lässt grüßen) und mussten gemeinsam so manches Abenteuer bestehen. Dabei gibt es üblicherweise einen Erzähler, der eine Rahmengeschichte erfindet und erzählt, sowie die Charaktere, die auf Aufforderung des Erzählers bestimmen, wie ihre Figur in der erzählten Situation handelt. In längeren Abständen werden auch Live-Rollenspiele veranstaltet, bei denen die Kinder mit den Betreuern in den Wald gehen und die Kämpfe und Erlebnisse tatsächlich nachspielen, inklusive selbstgebauten Schilden und Schaumstoffschwertern. Welch großes Potential in dieser Idee liegt, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.

Eine Betreuerin erzählte mir auch von einem Englisch-Kurs, in der einer der Betreuer im Grunde genommen beständig eine Geschichte (eben auf Englisch) erzählte und die kleineren, die noch nicht so gut Englisch konnten, immer wieder dazwischen aufforderte, etwa einer Katze einen Namen zu geben und Ähnliches. Als sie dann immer besser Englisch konnten, konnten sie immer mehr Teile der Geschichte selbst bestimmen.

Aktuelle 5 Minuten

Auch eine interessante Geschichte finde ich die „aktuellen 5 Minuten“, die am Ende des Einstiegsphase als Angebot bestehen. Hier dürfen alle, die Neuigkeiten aus aller Welt (Zeitungen, Nachrichten, …) zu erzählen haben, diese kurz erzählen (wie eine Art von News-Ticker), manchmal werden auch Neuigkeiten kurz durchdiskutiert. Die aktuellen 5 Minuten dienen neben einem groben Überblick über aktuelle Nachrichten auch dazu, für die Kinder interessante Themenbereiche für neue Angebote zu erkennen.

Abschließendes

Ich habe jetzt die letzten Tage in Kiel, der nahen Landeshauptstadt verbracht, und ich glaube, Kiel ist genial zum Wohnen. Die Menschen hier, die ich getroffen habe, sind sehr freundlich und hilfsbereit. Gestern habe ich in der Fußgängerzone Straßenmusik gemacht. Geld ist nicht sonderlich viel zusammengekommen, aber ein junger Mann, ebenfalls mit Gitarre, hat sich dann dazugesetzt und wir haben gemeinsam musiziert, später, als der wieder gegangen war, setzten sich dann noch einige andere hinzu, unter anderem eine junge schwarze Frau mit einer enormen Soul-Stimme und ein marokkanischer Trommler. Mit dem eingenommenen Geld haben wir dann in der Wohnung zweier anderer Frauen noch gemeinsam gekocht, Musik gemacht (ich hab an dem Tag sicher 8 Stunden Gitarre gespielt, ich frage mich, wie meine Finger das ausgehalten haben) und dort übernachtet. So nebenbei liegt Kiel auch noch an der Ostsee und hat viele Grünflächen. Ich glaube, hier lässt es sich schön wohnen…

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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