Einer der häufigsten Fragen, die aufkommen, wenn ich über meine Vorstellungen zu Bildung spreche, ist jene, wie zu gewährleisten sei, dass alle Schüler am Ende die Lehrplananforderungen erfüllen werden, wenn sie selbst ihren Lernprozess steuern sollen. Nicht jeder Schüler sei eben interessiert oder begabt in Mathematik oder Fremdsprachen. Eine Kollegin meinte gar während meiner Präsentation, sie finde die Ideen ja sehr interessant, aber was tun mit jenen, die sich für „rein gar nichts“ interessieren?
Leider nein, Piaget
Meine darauffolgende Antwort widerspricht einigen berühmten Denkern der jüngeren Geschichte derart radikal, dass ich sie wohl genauer ausführen sollte: Ich weiss nicht, wie es möglich sein könnte, aber ich muss es auch nicht wissen. Weder müssen Kinder für mich bis zu gewissen Altersstufen gewisse Fertigkeiten erlernt haben, noch müssen sie dies überhaupt erst. Und spätestens jetzt widerspreche ich damit Grössen wie Piaget, Rudolph Steiner (Waldorf-Schule) oder Montessori – und habe trotzdem nicht vor, von meiner Meinung zu dem Thema abzusteigen.
Traditionell war die Schule als Institution konzipiert, in dem der Grossteil oder gar die Gesamtheit des Lernens stattfand. Unter anderem aus finanziellen, aber auch ideologischen Gründen wurde die Schulzeit für bestimmte Altersstufen, für Kinder (und später Jugendliche) eingeführt. Da (abgesehen von reicheren Schichten, die sich Privatlehrer leisten konnten) der Zeitraum der Kindheit und Jugend damit derjenige für das Lernen und Wachsen vorgesehene war, musste diese Zeit effektiv genutzt werden. Als festgestellt wurde, dass Kinder dem Denken von Erwachsenen nicht in gleicher Art und Weise folgen konnten, wurde eben „zu ihrem Besten“ gehandelt, wurden sie eben zum Lernen verpflichtet, ohne verstehen zu müssen.
Ich will nicht behaupten, dass Steiner und Piaget falsch lagen. Für ihre jeweilige Zeit waren ihre Aussagen vielleicht sogar zutreffend. Jedoch könnte es sein, dass sie Ursachen und Wirkungen etwas vertauscht haben. Eine besonders gute Phase für das Erlernen von Sprachen korreliert vielleicht zufällig mit einem erhöhten Mass an Aufmerksamkeit der Umgebung, mit bestimmten Erwartungshaltungen oder anderen Einflussfaktoren, die nichts mit einer universellen natürlichen Entwicklung eines Menschen zu tun haben müssen.
Meine tägliche Erfahrung bestätigt für mich, dass Lernen überall (also auch ausserhalb der Schule), jederzeit (auch nach den entsprechenden Phasen) und von jedem unterstützt (nicht nur von Lehrern) stattfinden kann. Ein Beispiel ist, dass ich mit 23 in einem Jahr recht flüssig Portugiesisch von null auf lernen konnte. Und bitte kommt mir nicht damit, dass ich besonders intelligent wäre, es gibt genug andere Beispiele dafür. Heute gibt es alleine mit dem Internet einfach eine viel höhere Dichte von Lernquellen, aber auch einen Bewusstseinswandel, dass das Lernen nach der Schule bei weitem noch nicht abgeschlossen sein muss.
Zeitloses Lernen
Wenn wir die Idee in Frage stellen, dass Menschen bestimmte Lerninhalte in bestimmten universalen Phasen erlernen müssen, gar nur in jenen erlernen können, so ermöglicht dies eine differenzierte Sicht, ermöglicht die alternative Hypothese, dass Menschen grundsätzlich das Potential haben, in jeder Phase ihres Lebens das zu lernen, was sie zur Bewältigung ihrer aktuellen Schwierigkeiten lernen müssen. Es würde bedeuten, dass die Frage, wie es möglich sei, alle Schüler trotz ihrer Freiheit dazu zu bringen, bestimmte Lerninhalte bis zu einer bestimmten Altersstufe zu erlernen (ein Paradoxon), hinfällig sei. Stattdessen stellt sich eine andere Frage: wie kann dieses Lernen ermöglicht werden, wenn jemand erkennt, dass diese Lerninhalte für ihn wichtig sind?
Eine junge Dame warf die Frage auf, was passieren würde, wenn jemand nach einigen Jahren erkennt, dass er doch ganz gerne einige der sonst in Schulen vermittelten Lerninhalte erlernt hätte, doch jetzt war es zu spät? Die Antwort darauf ist simpel: Er könne jederzeit damit anfangen. Mit dem Willen, etwas zu erreichen, dürfte der Prozess viel schneller vonstattengehen als üblich, und wenn nötig, würde er eben etwas länger benötigen.
Mensch ohne Unterschied
Die logische Folge wäre, all die aufgesplitterten Organisationen von Kindergarten, Volkschule, Mittel- und Oberstufen sowie Erwachsenenbildung zusammenfassen zu können. Erwachsene Analphabeten können von und mit Kindern lernen. Anstatt diejenigen zu verachten, zu brandmarken, die im aktuellen Schulsystem nicht das fanden, was sie brauchten, können Menschen, die lernen wollen, die Unterstützung vorfinden, die sie brauchen, wenn sie dies möchten, unabhängig vom Alter oder davon, wie sie (bereits) sein sollten.
Die Gewalt, die von verallgemeinerten Definitionen ausgeht, kann mindestens so schwer verletzen wie physische oder psychische Gewalt. Menschen mit Beeinträchtigung etwa sind nur deswegen beeinträchtigt, weil sie mit einem als universal wahrgenommenen Standard verglichen werden. Ein Lehrplan, ausgehend von dem Konzept eines normalen Schülers, beeinträchtigt abnormale Schüler, und damit einen jeden Menschen, denn was einen Menschen von einer Maschine unterscheidet, ist eben gerade seine Besonderheit, seine In-Effizienz im Hinblick auf seine Fremdsteuerung.
Wann funktioniert das Ding endlich, wie es sollte, fragen sich die vielen klugen Ingenieure, die tagtäglich an der grossen Maschine Schule herumschrauben. Und hören nicht, wie ein jedes knirschendes Zahnrad, ein jeder Dampfablass eine Wahrheit in die Welt schreit, die in keiner Betriebsanleitung stand:
Wir wollen nicht funktionieren.
Wir wollen leben.
Niklas