Als ich heute an der pädagogischen Hochschule war, um nachzuschauen, wann ich meine Defensio haben sollte (warum das nicht online einsehbar ist, ist mir schleierhaft), besuchte ich wieder einmal die dortige Mensa, weil nicht nur das Essen dort sehr schmackhaft, sondern auch die Betreiber des Restaurants sehr nette Menschen sind, die ich gerne treffe.
Während ich mein Mittagessen verspeiste, überhörte ich zufällig einige der Gespräche der anderen Studenten, die über zu haltende Unterrichtseinheiten zu diskutieren beziehungsweise in einem Fall eher gelangweilt eine Aufgabe für die Hochschule zu bearbeiten schienen. Und dann wurde mir wieder einmal bewusst, wie sehr sich das alles in unseren Alltag verfestigt hat: unhinterfragt herauszufinden, wie etwas am besten funktioniert. Wie funktioniert diese Mathematik-Aufgabe? Wie bringe ich zwanzig Kinder in meiner begrenzten Zeit dazu, danach vorzeigbare Ergebnisse abliefern zu können?
Verlorene Fragen
Die Fragen, die mir persönlich viel zu selten gestellt werden, sind andere Fragen: Warum soll ich diese Mathematik-Aufgabe überhaupt bewältigen? Warum ist die Lösung des Lösungsheftes die richtige? Warum ist 1+1 nicht eine andere Zahl, zum Beispiel 10 (wie etwa im Binärzahlensystem)? Was soll ich lernen? Was ist für mich persönlich wichtig? Wann soll ich lernen? Wer soll lernen? Muss ich mein Weltbild verändern, um ein Problem, eine Frage zu bewältigen, oder jemand anderer ebenso? Für wen oder was soll ich lernen?
Was ist mit diesen Fragen passiert? Im Alltag scheinen sie überhaupt nicht mehr gestellt zu werden. Irgendwann im Leben dürften diese Fragen auf so definitive Art und Weise beantwortet worden sein, dass ein Neu-Fragen gar nicht mehr in Frage kommt. Wenn die Antworten auf diese Fragen nicht mehr als ohnehin fraglos vorausgesetzt werden, sondern immer wieder neu gestellt werden, können die Antworten nicht nur variieren, sondern sogar weitreichende Konsequenzen haben.
Möglicherweise finde ich dann keinen für mich persönlich nachvollziehbaren Grund mehr, eine bestimmte Mathematik-Aufgabe überhaupt anzugehen. Möglicherweise komme ich zu anderen Lösungen als das Lehrbuch, und stehe zu meiner Lösung, selbst wenn andere etwas Anderes behaupten mögen? Möglicherweise fange ich dann sogar an, meine Lösung zu argumentieren und die Argumente für alternative Lösungen auf Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten und auch die Herkunft dieser Differenzen zu untersuchen. Vielleicht mag es sogar sein, dass ich mich dann darauf einlasse, dass es möglich sein kann, dass es verschiedene Perspektiven und jeweils für sich „wahre“ Lösungen für ein Problem gibt, weil ein fassbares Problem immer nur eine Abstraktion der Wirklichkeit ist und diese Wirklichkeit ja von jedem etwas anders wahrgenommen wird.
Kritik und Toleranz
Ein Lehrer, der sich traut, seine Schüler selbst Antworten auf Fragen zu finden, und sie sogar mit gezielten Fragen dazu auffordert, starr erscheinendes weiter in Frage zu stellen, begibt sich auf sehr dünnes Eis. Eine Zersplitterung in subjektive Perspektiven birgt die Gefahr, dass keine gemeinsamen Bezugspunkte mehr gefunden werden und dies auch eine soziale Zersplitterung nach sich zieht. Wenn ein jeder alles in seiner eigenen Perspektive sieht, wie kann dann den Erfahrungen anderer noch vertraut werden? Wie kann dann der Autorität des Lehrers noch vertraut werden?
Einer gleichen Weltsicht anzuhängen, sorgt für eine gemeinsame Identifikation, sorgt für ein Gefühl der Geborgenheit. Die Gratwanderung besteht darin, innerhalb einer sozialen Gruppe verschiedene Meinungen zulassen zu können, ohne dass die Gruppe dadurch auseinanderbricht. Die Kehrseite des kritischen Denkens, will der Andersdenkende nicht zum Einzelgänger werden, ist immer die Toleranz. Ich glaube, dass Toleranz da möglich ist, wo das Andere nicht bedrohlich wirkt, und der Schlüssel zur Verringerung des Bedrohungsgefühls eine gute, tiefe Kommunikation ist. Dies bedeutet, dass ein gemeinsam geteilter Sprachraum (wünschenswert wäre wohl eine Weltsprache neben den lokalen Sprachen, die tatsächlich ein jeder spricht, aber auch Übungen in Körpersprache und Mimik) um so wichtiger wird, umso vielschichtiger einen Welt wird.
Identifikation durch Homogenität?
Für Jahrhunderte war es die Lösung, eine möglichst homogene Masse an Menschen zu schaffen, um den Frieden zu erhalten, sei es im Großen im Sinne der Nationen, sei es im Kleinen in einer Schulklasse. Unterschiede würden nur Neid und Konflikte schüren, hieß es. Durch eine kollektive und definitive Beantwortung der oben genannten Fragen für alle konnten sich viele Menschen durch diese gleichen Antworten zu Grundfragen des Lebens verbunden fühlen. Doch die rasch zusammenwachsende Welt konfrontiert tagtäglich mit völlig verschiedenen Lebenswelten, gewachsen aus verschiedenen lokalen Problemen. Eine Zivilisation wird in der Wüste anders aussehen als in Österreich, weil sie über viele Jahre hinweg völlig andere Probleme lösen musste.
Ich glaube, es macht wenig Sinn, mit der alten Problemlösung fortzufahren, möglichst alles gleich zu machen. Die verschiedenen Lösungen zu verschiedenen Probleme, die da entstanden sind, haben für die bestimmten Orte und Zeiten durchaus einen Sinn und – wie beispielsweise an YouTube-Videos aus der ganzen Welt ersichtlich – auch einen Wert. Das Andere, das Neue, es hat einen Reiz auf diejenigen, die nur das Bekannte gewohnt sind. Es macht vielleicht manchmal Angst, aber es zieht auch an. Es ist ein sehr ambivalentes Phänomen, das uns hier begegnet.
Kritisches Handeln
Die spannende Frage für mich besteht nun darin, wie es möglich ist, Menschen zu ermöglichen, eigene Standpunkte einzunehmen, ohne dass sie sich dadurch sozial isolieren, also eine Kultur der Toleranz schaffen, die diese verschiedenen Standpunkte aushält oder sogar für wünschenswert erklärt.
Die Königsdisziplin besteht jedoch dann darin, dieses kritische Denken auch in ein Handeln übergehen zu lassen, das ausgehend von der Kritik eine Verbesserung anstrebt, allerdings unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das, was jemand als Verbesserung empfindet, von jemand anderem als Verschlechterung empfunden werden kann, was Kommunikation und gemeinsames Handeln nach einer gemeinsamen Vision so wichtig macht.
Die Goldfrage ist nun: wie lässt sich ein solches kritisches, aber doch tolerantes Denken und Handeln trainieren? Es ist eine schwierige Frage, bei der es vermutlich mehr als eine, vielleicht sogar unendlich viele Antworten gibt. Aber ich glaube, sie ist es wert, sich damit zu beschäftigen, weit wertvoller als die Frage, wie ich jemandem den Inhalt eines Lehrplanes beibringe.
Über Beiträge dazu freue ich mich natürlich – in Form von Kommentaren, Emails etc.: bunterrichten@gmail.com
Danke,
Euer Niklas