Wenn die Form zur Falle wird

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

(Alle Aussagen von anderen Personen habe ich so verstanden, das bedeutet nicht, dass sie es auch so gemeint haben. Nur zur Sicherheit..)

Ich bin nun seit gut einem ¾-Jahr bei meinem Freund René im Tai-Chi-Training (er nennt es „Verein für innere Kampfkunst“), und er hat immer wieder einen interessanten Gedankengang erwähnt: dass seiner eigenen Erfahrung nach (doch immerhin über 10 Jahre der Praxis) in Tai-Chi-Kursen oft sehr viel Wert auf das Erlernen einer korrekten Form gelegt wird (man kennt vielleicht die Bilder aus chinesischen Parks). Weiter meinte er, dass es üblich sei, nach 10, 15, 20 Jahren der Praktizierung dieser Form irgendwann (vielleicht!) die Prinzipien dahinter zu verstehen. Er hingegen vermittle lieber direkt die Prinzipien, so dass man sie – auch ohne die vollständige Form perfekt zu beherrschen – sofort im Alltag einsetzen und praktizieren kann. Die Form vermittelt er auch, aber mehr als „Bonus“.

Da ich die Vorteile des Zuganges Woche für Woche nicht nur an mir, sondern auch an den anderen Teilnehmern des Kurses beobachten kann, stellt sich die interessante Frage, ob denn nun die spezifischen Tai-Chi-Bewegungsformen nicht auch ganz weggelassen werden könnten. Zusätzlich meinte René auch, dass man in einem realen Kampf ja nicht davon ausgehen könnte, dass sich der Gegner exakt so bewegen wird wie in der Form vorgesehen, man müsse schon auch in stimmigem Kontakt gehen und bleiben, um auf die Bewegungen des Gegners adäquat reagieren zu können, und würde dabei oft von der eingelernten Form abweichen.

Die Nützlichkeit der Form

Und doch hat das Erlernen der Form seine Nützlichkeit, wie ich nach einigen Monaten fast täglicher Übung feststellen konnte: sie erhöht den Bewegungs-Spielraum. Am Anfang waren einige der Bewegungen der Form für mich sehr schwierig auszuführen („unmöglich“ war des Öfteren der Gedanke), aber mit der Zeit wurde mir immer mehr klar, dass dies nicht an der universellen Unmöglichkeit von Körperbewegungen an sich lag, sondern an meinen eigenen inneren Blockaden, die mir das Praktizieren der Form überwinden half.

Unlängst im Kurs meinte René zu mir, dass ich ihm in der Sensibilität mittlerweile beinahe gleichwertig wäre, aber er eben noch den Vorteil der langjährigen Praxis habe. Was er damit vermutlich meint, ist, dass er über die Jahre bereits mehr der inneren Blockaden abgebaut hat als ich, was es ihm ermöglicht, mich über meine Blockaden im (Übungs-)Kampf zu überwinden. Man sieht es ihm auch an seinen Bewegungen an, die sehr frei wirken. Es geht im Tai-Chi (soweit ich das verstanden habe) genau darum, die inneren Blockaden des Gegners zu erfühlen und ihn gewissermaßen über diese Blockaden „auszuhebeln“, was einen sehr wertvollen Übungsraum auch für die eigene Selbst-Erkenntnis bietet.

Worauf ich im Grunde hinaus will, ist Folgendes: Dass die Bewegungen der Tai-Chi-Formen ganz bestimmten Abläufen folgen, hat ihren nützlichen Hintersinn, nämlich den eigenen Bewegungs-Spielraum zu erhöhen und Blockaden, die diesen Einschränken, aufzulösen. Damit entsprechen die einzelnen vorgeschriebenen Bewegungsabläufe gewissermaßen dem, was ich an anderer Stelle hier auf diesem Blog „konstruktive Grenzen“ genannt habe: das Endziel ist es, sie überflüssig zu machen, weil sie ihren Zweck, den Bewegungsspielraum in einem bestimmten Bereich zu erhöhen, irgendwann erfüllt haben.

Dies ist, richtig angewendet, ein konstruktiver Anteil der Funktion der Form. Ein anderer hat viel mit Identität zu tun, und ist potentiell gefährlicher. Wenn ich die Form ausführe, bin ich Tai-Chi-Praktizierender. Weiche ich von ihr ab, bin ich es nicht mehr. Wenn ich die Gruppenzugehörigkeit brauche („Ich bin ein Tai-Chi-Mensch“), werde ich möglicherweise in einer Form verharren, die ihren eigentlichen Zweck (Erhöhung des Bewegungs-Spielraumes) längst erfüllt hat, und aufhören, mich weiterzuentwickeln. Das potentiell konstruktive Ritual wird dann rasch zum Selbstzweck, zur Falle.

Die Falle der Form in der Religion

Was ich weiter oben über Tai Chi geschrieben habe, lässt sich auch auf viele andere Lebens-Bereiche umlegen. Nehmen wir das große Thema Religion/Spiritualität. Gerade in unseren Zeiten stehen uns zahlreiche verschiedene Zugänge zu diesen Themen zur Verfügung, die uns (ich bin da gern optimistisch) ausnahmslos als „Übergangs-Formen“ dienen können, um unseren Bewegungs-Spielraum (der auch psychisch/seelisch verstanden werden darf) zu erweitern. So hat für mich die jüdisch-christliche Tradition und Überlieferung viele wertvolle „Formen“ und auch Rituale anzubieten, die uns Wachstumschancen eröffnen, aber auch ebenso der Islam, der Buddhismus, der Taoismus und viele weitere.

Jede dieser Zugänge hat seine Stärken wie auch seine blinden Flecken, ähnlich wie eine jede Übung zur Stärkung des Körpers auf manche Körperpartien besser und auf andere weniger gut auswirkt. Wer von uns würde sein Leben lang ständig nur die rechte Wade trainieren, und den Rest des Körpers völlig vernachlässigen? Und doch ist dieser Zugang in Bezug auf Religionen/Spiritualität weit verbreitet. Da wird Jahrhunderte lang darüber gestritten, welche Form die beste (oder gar die „einzig wahre“) sei, anstatt zu fragen, welche Form helfen kann, welche inneren Blockaden/Illusionen aufzulösen, und sich schlicht aus dem riesigen vorhandenen Fundus das zu wählen, was individuell stimmig wirkt. Man muss sich ja z.B. nicht offiziell Moslem nennen wenn man Angst hat, von Freunden dafür schief angeschaut zu werden, aber warum nicht soziale Identität und Nützlichkeit der einzelnen Formen an sich voneinander getrennt halten, und sich jeweils das an nützlichen Übergangs-Formen herauspicken, was individuell als hilfreich erlebt wird? Muss man ein wenig „spinnert“ sein, wenn man sich mit Chakren beschäftigt, und diese Beschäftigung selbst als hilfreich erlebt?

Die Falle der Form in zwischenmenschlichen Beziehungen

Wer des Öfteren mal meine Barfuß-Geschichten gelesen hat (oder mich persönlich kennt), der dürfte ohnehin mittlerweile erraten haben, dass ich klassischen monogamen Beziehungen sehr skeptisch gegenüberstehe, und nicht wirklich nachvollziehen kann, warum man sich einem von vornherein derart anstrengend konzipierten Sozialen System freiwillig unterwerfen will. Warum also nicht mal auch öffentlich und ohne Verschleierung durch eine Geschichten-Form anmerken, dass ich mir seit vielen Jahren nur noch offene Beziehungen vorstellen kann (und diese auch lebe), wo es dem Verständnis dieses Artikels dienen mag?

Ich kann den Sinn und Zweck einer klassischen Beziehung als Übergangs-Modell nachvollziehen, um mit einer Art Prototyp menschlichen Miteinanders im Umgang mit dem anderen Geschlecht (oder gerne auch dem eigenen, aber im Sinne der Lesbarkeit erwähne ich das nicht mehr extra) „starten“ zu können. Als eine Art konstruktive Grenze, als Übergangs-Form, innerhalb derer es anfangs einfacher ist, Liebe und Sexualität zu erfahren und zu erforschen, ähnlich wie eine vordefinierte Form im Tai-Chi helfen kann, die eigene Beweglichkeit zu erhöhen. Aber ich habe zu oft bei Freunden/Bekannten beobachtet, wie sich diese Übergangs-Form verfestigt und zum Selbst-Zweck wird, zum Teil einer gemeinsamen Identität wird, deren Verlust bedrohlich wirkt, was zu allerhand absurden Folgeerscheinungen führt.

Viele meiner Freunde/Bekannten finden sich dann mit der Zeit entweder in unbefriedigenden Beziehungen wieder, springen von Beziehung zu Beziehung oder verzichten von vornherein ganz auf eine Kombination aus sexueller Anziehung und emotionaler Intimität („Ich mache aus Prinzip nur mehr ONSs). Man fragt sich, in welche Rolle, in welche Form der neu kennengelernte Mann, die neu kennengelernte Frau, wohl passen könnte, und spielt mit dem Reiz der Unwissenheit, bis die Schematisierung vollbracht ist. Menschen werden kategorisiert in Familie, Freunde, Beziehung, Freundeskreis, ONS, …

Einige wenige (nach einigen Rückmeldungen teilweise auch von meinen Erzählungen inspiriert, was mich natürlich freut) trauen sich irgendwann dann doch, in das zu gehen, was ich für mich „stimmigen Kontakt“ getauft habe, in dem die etablierten Formen eine untergeordnete Rolle spielen, und das Miteinander anhand der Bedürfnisse der Betroffenen jeweils neu gestaltet wird. Nur zu oft werden dabei eigene und die Blockaden des Anderen auf diesem Gebiet der menschlichen Existenz allzu sichtbar und spürbar, und nicht immer ist die Überwindung einfach. Oft verändert sich das Miteinander drastisch, nachdem eigene innere Blockaden spürbar und damit auch bewusst werden, bisweilen ändern sich auch Leben von Grund auf.

Es ist für mich nach beinahe 10 Jahren „Praxis“ auf dem Gebiet die bisweilen anstrengendste, aber auch mit Abstand erfüllendste Art des Miteinanders, vor allem auch, weil ein solcher Zugang Räume eröffnet, um realen Bedürfnissen, die in keine etablierten Formen passen, Raum zu geben (wie häufig diese „un-passenden“ Bedürfnisse keinen Raum finden, wie traurig und gleichzeitig völlig absurd dies eigentlich ist, davon dürften sich viele, die sich mit diesen Themen noch nie beschäftigt haben gar keine Vorstellung machen können). Und bis auf wenige Ausnahmen bin ich mit den meisten Frauen, die mein Leben in diesen 10 Jahren gekreuzt und bereichert haben, noch in Liebe verbunden, auch wenn sich die Form des Miteinanders bisweilen über die Jahre sehr verändert hat, oder ein Beteiligter bisweilen Distanz benötigte, um neu und verändert wieder aufeinander zugehen zu können.

Ich habe zahlreiche Frauen kennengelernt (auch Männer, aber zu denen fühle ich mich – bisher zumindest – nicht körperlich hingezogen), die mir erzählt haben, dass sie entweder nur fixe monogame Beziehungen wollten oder nur One Night Stands. Ersteres verspreche ich aus Prinzip nicht mehr, weil ich dafür zu oft die Erfahrung gemacht habe, dass ich mehrere Menschen zur gleichen Zeit lieben kann (und damit nicht alleine bin, entgegen gesellschaftlicher Standards dürfte das die – jedoch kaum je offen eingestandene, weswegen es nicht so wirkt – Normalität darstellen). Zweiteres habe ich in meinem Leben bisher noch nicht hingebracht, selbst diejenigen Frauen, die sich von Anfang an sicher waren, dass das eine einmalige Sache sei, kamen früher oder später in irgendeiner Form wieder. Einfach, weil es sich für sie stimmig anfühlte, und für mich ebenso, und da doch immer etwas von Liebe mitschwang, das nach Ausdruck verlangte, selbst wo (z.B. aufgrund zu großer Entfernung) klar war, dass man sich nicht allzu oft würde sehen können.

Ich habe über all die etablierten und bekannten Formen von Beziehungen einiges lernen dürfen und anerkenne durchaus ihren Nutzen als Übergangs-Form, aber auf Dauer erlebe ich es als absurd, eine Beziehung in irgendeiner vordefinierten Form zu leben und nicht in stimmigem Kontakt. Nur in letzterem kann ich letztendlich jeweils die stimmigen Formen des Miteinanders finden, die mir und dem jeweils anderen tatsächlich entsprechen.

Die Falle der Form im Lernen allgemein

Schlussendlich möchte ich noch von einem Gespräch erzählen, das ich unlängst mit einem guten Freund führte, in dem er meinte, ihn würden „studierte Leute“ manchmal ziemlich nerven, weil sie oft so redeten wie die Bücher, die diese gelesen hatten: „Da kann ich mir gleich das Buch kaufen und es selber lesen“

Was mich zu einem weiteren relevanten Zusammenhang in Bezug auf Formen führt: wenn sich die Form verselbstständigt, zum Selbstzweck wird, und über den stimmigen Kontakt gestellt wird – was ist dann noch mein persönlicher, individueller Mehrwert? Suche ich als Mann „eine Beziehung“ mit einer Frau, ist die Frau damit gewissermaßen das Mittel Frau zum Zweck Beziehung? Oder gehe ich stattdessen in stimmigen Kontakt mit einem anderen Menschen, und finde gemeinsam die jeweils passende Form für diese Kontakt, während ich die etablierten Formen – wenn überhaupt – nur übergangsweise nutze, um meine inneren Blockaden zu überwinden? Lese ich ein Buch, lerne ich von jemandem, um meine eigene innere Bewegungsfreiheit zu steigern, oder tue ich es, um zu einem „anerkannten“ Vertreter der Lehre eines Anderen zu werden?

Oder bezogen auf den bunterrichten-Titelzusatz „Menschen helfen aufzublühen“: Nutze ich das Außen, um in der Überwindung des Außens mein Innerstes zum Vorschein zu bringen? Oder baue ich mir im Grunde nur selbst Beschränkungen auf, weil ich noch nicht nicht den Mut gefunden habe, meinem eigenen inneren Kompass zu vertrauen?

Niklas

P.S. einige Ankündigungen:

  • Morgen, 4.7., 20:00 halte ich im AberJa in Wien einen Vortrag: „Wer macht hier wen fertig?“ – Familien- und Rechts-Systeme über die systemischen Ursachen von Mobbing und totalitären Systemen. Mehr dazu (und zu anderen Vorträgen/Workshops) hier…
  • Auf mehrfache Anfrage ist seit einigen Tagen das Forum wieder online, aber fühlt sich viel zu wenig beachtet. Schenkt dem doch mal etwas Aufmerksamkeit und füttert es mit interessanten Themen, es freut sich darüber 😉
Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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