Paulo Coelho schrieb in einem seiner Bücher über die „dunkle Nacht des Glaubens“, die Situation, in der alle äusseren Umstände dafür sprechen, dass wir versagen werden oder bereits versagt haben, in denen einzig der Glaube an unseren Sieg, die Hoffnung, uns davon abhalten kann, aufzugeben. Dies seien die entscheidenden Momente, die darüber entscheiden würden, ob wir wirklich heldenhafte Entscheidungen zu treffen bereit sind, oder uns mit dem bereits erreichten zufrieden geben. Die meisten Menschen würden hier aufgeben, weil sie Angst haben, ihr Ziel nicht zu erreichen. Um meine geliebte Wassermetapher wieder einmal einzubringen, haben sie Angst, zu wenig mächtig, zu wenig druckvoll zu sein, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Dabei ist dies oft gar nicht nötig.
Ego
Wasser hat die wunderbare Eigenschaft, flüssig zu sein. In dieser flüssigen Form überwindet es so gut wie alle Hindernisse, gräbt sich mit der Zeit seinen Weg in die Richtung, in die es sich hingezogen fühlt. Dabei verändert das Wasser seine Form. Viele unüberwindbar erscheinende Hindernisse erscheinen deswegen unverwundbar, weil wir nicht bereit sind, unsere aktuelle Form (unser aktuelles Ich) aufzugeben. Während wir von Kindern noch geradezu verlangen, sich unseren Vorstellungen anzupassen, sind wir selbst oft zu starr, um unsere Hindernisse zu überwinden. Zu stolz. Soll doch der andere…
Tu
In einem Konflikt hilft uns Wasser auch, die Macht von Empathie zu verbildlichen. Wer bereits einmal dem Meer zugesehen hat, wie neue Wellen auf alte, bereits zurückwandernde treffen, dürfte bemerkt haben, dass die zurückrollende alte Welle der ans Land rollenden Welle die Kraft nimmt. Zwei Wellen, zwei Impulse in entgegengesetzte Richtungen verbrauchen sich nur gegenseitig. Hingegen bringen sich schräg aufeinandertreffende Wellen gegenseitig weiter, als sie alleine kommen würden. Mit nur einem Minimum an gemeinsamer Richtung kommen wir daraus folgend bereits weiter als alleine, und die für mich effektivste Möglichkeit, eine gemeinsame Richtung einzuschlagen, liegt im Versuch, den anderen wirklich zu verstehen, wirklich zu überzeugen, nicht ihn zu zwingen.
Nos
Abschliessend möchte ich aus aktuellem Anlass noch zur vermutlich mächtigste Implikation von Wasser, Meer und Wellen kommen: dem Kreislauf, der Einheit von auf und ab, heiss und kalt, Krankheit und Gesundheit, Kummer und Glück, Liebe und Freiheit. In meiner Erfahrung existiert das eine nicht ohne das andere, ist das eine nichts anderes als der Gegenpol des anderen auf einer einzigen Skala. Möglicherweise gab es wirklich einst einmal einen paradiesischen Garten, in dem alles eitel Wonne war, oder wir können ein Nirwana erreichen, in dem Leiden der Vergangenheit angehört. Alles, was wir dazu vermutlich tun müssen, ist zu sterben. Aber zu leben impliziert Veränderung, impliziert ein auf und ab, einen Wellengang entlang dieser Skalen.
Konfuzius meinte einst, wen man liebe, solle man loslassen. Wenn dieser Jemand dann zurückkomme, so sei er für immer unser. Er war nahe dran. Ich glaube, richtigerweise sollte man den letzteren Satz streichen. „Für immer“ impliziert ein Ende von Veränderung – Tod. Denn wenn wir nicht gerade necrophil veranlagt sind, sagen wir dem jeweils anderen dadurch, dass er sein persönliches Wachstum zu beenden hat. Ich glaube, es gibt keine ewige Liebe an sich. Liebe existiert nur im Moment.
So paradox es klingen mag, ich glaube, dass Liebe nur in diesem Loslassen längerfristig tragbar ist. Wenn ich den anderen loslassen kann, wenn ich es akzeptieren kann, dass sein Wachstum ihn auch dazu bringen kann, mir zu entwachsen, so kann ich mich in jedem Moment neu meiner Liebe zum anderen hingeben. Ansonsten „lieben“ wir eine tote Fassade und nicht den lebendigen Menschen dahinter.
Deus
Ich hatte das unglaubliche Glück, einen solchen Menschen kennenlernen zu dürfen, der dies (bewusst oder unbewusst) begreift. Der mir heute wieder einmal seine Zeit schenkte, was mich noch Stunden danach verzaubert durch die Strassen Curitibas wandern liess. Ich halte das übliche „Ich liebe dich“ als umgelegten Schalter für eine zauberhafte gemeinsame Zukunft für ein Hirngespinst, aber in diesen zauberhaften Momenten hast du mir in einer Kernreaktion einen Stern entzündet, der noch einige Zeit nachglomm. Danke dafür, dass du in jenen Momenten jener Mensch warst, der du warst, wer immer du jetzt bereits bist. Und während ich deinem Ich in diesen Momenten zusehe, wie es zurückkehrt in das Meer deines Potentials, freue ich mich bereits auf die nächste Welle, mit der du mich überraschen, umspülen, mitreissen und tragen könntest.
Wir waren alle, warden zwei, warden eins.
Es war eins, ward zwei, es waren alle.
Leben folgt Tod folgt Leben.
Vergehen und Wiederkehren.
Göttliche Kreise.
Niklas