Was zu beachten wäre: Hilfsmittel für Hacker-Kinder

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einigen Tagen schrieb ich über die Figur „Aaron, die Hacker-Schnecke“, die Kindern helfen soll, den grundlegenden Prozess des Hackens ihrer Umgebung bewusst zu machen. Einer der Hauptgründe, warum der Begriff „Hacker“ in vielen Ohren wie ein Synonym für „Krimineller“ klingt, ist die oft erstaunliche Unfähigkeit jener Enthusiasten, die Auswirkungen ihres Hackens auf andere Menschen in ihr Handeln einzubeziehen. Bis auf einige wenige Ausnahmen dringen die wenigsten Hacker tatsächlich in fremde Computer ein, um dort aktiv Schaden anzurichten. Es geht um die Schwierigkeit des zu lösenden Problems (z.B. wie umgehe ich Sicherheitsvorkehrungen?). Dass selbst ohne aktiven Vorsatz, jemandem zu schaden, anderen Personen Schaden entstehen kann, wird ausgeblendet und oft erst im Ernstfall realisiert (wie etwa in diesem TED Talk beschrieben: Der Vortragende erzählt, dass er rausfand, dass er negative Beträge per Online-Banking versenden konnte – und tatsächlich Geld von anderen Konten abzog! Aber er gab der Bank Bescheid).

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen Hacker beispielsweise aus politischen Gründen versuchen, sich in fremde Computer oder Webseiten einzuhacken. Etwa, als Aaron Swartz sich Zugriff auf Zig-Millionen wissenschaftliche Dokumente beschaffte, für die man bezahlen musste, um sie danach frei online zu stellen. Er wollte damit wohl die Wissenschaft weltweit um einen Quantensprung weiterbringen. Ihm war wohl bewusst, dass er damit die Privilegien einiger an der ursprünglichen Lösung gut verdienenden Menschen gefährdete. War ihm auch bewusst, dass auf dieser Lösung wohl ein ganzes System basierte, mit entsprechenden Förderungen für die Publizierenden und so weiter? Dass sein mutiger Schritt, so verständlich er auch sein mag, ohne Vorwarnung ein System in Frage stellte, von dem sehr viele Menschen jahre-, vielleicht jahrzehntelang profitiert hatten? In diesem Fall wurden rechtliche Schritte gegen ihn eingeleitet, und ein – aus meiner nicht juristisch geschulten Sicht – absurdes Strafausmaß von über 50 Jahren Haft plus zahlreicher Zahlungen vom Gericht für sinnvoll befunden. Swartz, der unter anderem mitverantwortlich für zahlreiche Standards im heutigen Internet war und es somit zu einem beachtlichen Teil mitgestaltete, nahm sich daraufhin selbst das Leben.

Was wir aus der Geschichte lernen können, sind mehrere Schlüsse. Erstens ist es nicht gewährleistet, dass das, was ich für (ethisch) richtig halte, auch für alle anderen als (ethisch) richtig gilt. Viele Forscher werden sich sehr gefreut haben, dass sie nun Zugriff auf Milliarden wissenschaftliche Arbeiten haben, die sie sich ansonsten schlicht nicht leisten konnten. Die Idee, wissenschaftliche Arbeiten und Forschung mit einem Preis fürs Lesen zu versehen, läuft der Idee der aufeinander aufbauenden Forschung einerseits völlig zuwider. Nichtsdestotrotz gibt es Menschen, die dies für richtig zu halten scheinen. Und nicht unbedingt nur, weil es asoziale Menschen sind. Vielleicht machen sich diese Menschen auch einfach mehr Gedanken darüber, wie diejenigen, die am Forschen sind, auch bezahlt werden können – und eine Art „Lese-Gebühr“ für die Produkte ihrer Arbeit einzuführen, dürfte ihnen als einfache Lösung erschienen sein.

Zweitens, dass es Menschen gibt, deren Bedürfnisse im Sinne der zu befürchtenden Konsequenzen mehr Gewicht haben. Gegenüber einer (vermutlichen) Minderheit der von den Gebühren profitierenden Menschen stehen eine Masse an anderen Menschen, die von einer freien Verfügbarkeit der wissenschaftlichen Arbeiten profitieren würden. Aber Menschen, die von einer freien Verfügbarkeit womöglich ökonomisch so getroffen werden, dass sie Angst um ihre Existenz haben, haben ein anderes Gewicht in einem (politischen) Konflikt. Die eine Seite will ihre Arbeit erleichtert haben, die andere Seite fürchtet um ihre Existenz. Wer wird grimmiger für seine Sache kämpfen? Zusätzlich kommt noch hinzu, dass in einem Wettstreit (vor allem in den Staaten) Geld und Macht durchaus eine Rolle spielen. Anwaltskosten sind zu bezahlen, die öffentliche Meinung für sich einzunehmen und so weiter. Dies ist erheblich leichter, wenn man finanziell ungebundener ist und die entsprechenden Kontakte besitzt. Also kurz gefasst: wie sehr ist jemand von meinem Handeln persönlich betroffen oder sogar beeinträchtigt? Und welche Macht hat er faktisch über mich?

Es scheint, als wäre ich (wieder einmal) massiv vom Thema Schule abgekommen. Aber in diesem Fall hilft uns das Beispiel durchaus, inner-schulische Prozesse zu verstehen. Versetzen wir uns in die Situation eines Schülers, der seine Schulklasse hacken will. Was weiß er von der großen weiten Welt, und was sie von ihm will? Weiß er, dass es einen Lehrplan gibt, Leistungsstandards? Dass seine Eltern den Anspruch an ihn haben, dass er eines Tages auch ohne sie zurechtkommt? Wie kann er Entscheidungen treffen, die diese Punkte einbeziehen, wenn sie ihm weitgehend vorenthalten werden? Zudem gibt es durchaus Bedürfnisse, die Menschen in seinem Umfeld besonders wichtig sind, während andere weitgehend vernachlässigbar sind. Eltern beispielsweise ist die Transparenz des Schulgeschehens üblicherweise eher unwichtig, oder dass es demokratisch organisiert wird – solange die Leistungen passen. Aber wehe, wenn das Kind plötzlich in den Leistungen abfällt! Da wird das Kind plötzlich zur Sau gemacht, oder dem Lehrer die Schuld gegeben (ob berechtigt oder nicht), Transparenz gefordert oder der diktatorische Stil des Lehrers verantwortlich gemacht, der vorher noch „für Ordnung sorgte“.

Grenzen der kindlichen Freiheit

Es ist eine interessante Ironie vieler freier Schulen, dass sie ihren Schülern gerne Freiräume gewähren wollen, die von den Eltern nicht unterstützt werden, und sich dann wundern, dass die Kinder mit trotzigen Gesichtern Übungszettel machen, die sie von zuhause mitbekommen haben. Die autonome Freiheit des Kindes ist in der Schule eine Illusion – sie ist immer abhängig von den Einstellungen der jeweiligen Eltern. Aber der angehende junge Hacker sozialer Systeme sieht auch hier wieder keine Einschränkung, sondern nur ein Problem, für das er eine Lösung finden könnte. Die Leistungserwartungen der Eltern zu erfüllen kann eine Lösung des Problems sein, und vielleicht ist es in vielen Fällen die einfachste. Eine weitere könnte es sein, den Eltern zu zeigen, dass ihr Bedürfnis ernstgenommen wird, aber ein alternativer Vorschlag vorgetragen wird, ihr Bedürfnis so zu erfüllen, dass die Lösung auch den Bedürfnissen des Schülers mehr entspricht.

So könnte etwa ein Schüler, der vom Tod eines nahen Verwandten so getroffen ist, dass er sich schulisch nicht mehr konzentrieren kann und droht, die Klasse zu wiederholen (was seine Eltern ängstigt, er würde die Schule abbrechen und ihnen noch lange auf der Tasche liegen), mit seinen Eltern die Lösung finden, die Klasse in Ruhe zu wiederholen und sich dafür im Jetzt die benötigte Zeit zu nehmen, seine Trauer auszudrücken. Die Eltern, beruhigt, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Trauerphase und nicht um eine allgemein ablehnende Haltung gegenüber den schulischen Aufgaben handelt, können diese Lösung möglicherweise akzeptieren. Der Schüler hat einen Hack gefunden, der sowohl seine Bedürfnisse wie die seiner Eltern einbezieht und zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung führt.

Kindern bewusst zu machen, wie viele Menschen eigentlich ein Interesse an dem haben, wie sie sich verhalten, hat nicht nur den Zweck, ihnen zu helfen, bessere, durchdachtere und allgemeinverträglichere Lösungen zu finden – auch wenn dies eine wichtige Komponente ist. Es hat den schönen Nebeneffekt, dass es ihnen helfen kann, sie in ihrem Gefühl der Selbstwirksamkeit zu bestärken. Es hat eben doch eine Auswirkung, was sie tun oder nicht tun. Es ist doch wichtig, wie sie sich entscheiden. Und somit sind auch sie selbst wichtig. Es ist erstaunlich, wie wenig einem dies bewusst ist, solange man gut funktioniert. Möglicherweise erklärt sich damit auch die große Anziehungskraft des „Bösen“: den „Guten“ fällt nicht so sehr auf, wie wirksam sie auf eine ganze Reihe von Menschen sind. Bei „Schlechtem“ Verhalten reagieren plötzlich Menschen auf einen, die vorher in der eigenen Wahrnehmung gar nicht vorkamen.

Ist es nicht eine Überforderung für Kinder, ihre Schule zu hacken?

was zu beachten wäre
Das System Schule ist ganz schön komplex. Aaron freut sich schon darauf.

Schule, das ist ein sehr komplexes System mit der Aufgabe, ständig wechselnde Bedürfnisse von auch noch ständig wechselnden Personen irgendwie so zu kanalisieren, dass trotzdem alle halbwegs zufrieden sind. Es gibt nicht viele Systeme, die in ihrer Komplexität an das System Schule heranreichen, vor allem, weil es notwendigerweise ein lebendiges, ein lernendes System sein muss, wenn es langfristig überleben will. Ein System also, das das Hacken nicht nur ermöglicht, sondern eigentlich sogar notwendig macht. Kinder, die allerersten und oft auch besten Hacker dieser Welt, lieben es, sich schweren Herausforderungen zu widmen, wenn man sie lässt, und bei Misserfolgen einen Raum für sie öffnet, ihren Frust auslassen zu können. Warum sie nicht mit den schwierigsten Problemen der Menschheit befassen lassen, auf die noch kein Mensch eine endgültige Antwort gefunden hat, wohl je finden wird? Sind diese Probleme nicht viel interessanter als jene, die wir ihnen üblicherweise stellen, deren Antwort wir im Vorhinein wissen?

In meinem Plakat habe ich versucht, die Beziehungen des Systems zu den Nutzern (Schüler), den Eltern (über die Schüler), der Gesellschaft und den Stammklassen darzustellen. „Stammklassen“ deswegen, weil meine derzeitige Arbeit in einer speziellen Situation stattfindet, dass ich jeweils einige Kinder aus verschiedenen Klassen als Pioniere für meine „Neue Welt“ bekommen werde. Die roten Punkte, das sind die kritischen. Wenn die gesellschaftlichen Leistungsstandards nicht mehr erfüllt werden, die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann, die Eltern unzufrieden werden oder sonst etwas „rotes“ unberücksichtigt bleibt, wird es auf Dauer wohl negative Konsequenzen geben. Grüne Bedürfnisse können bei Nichtbeachtung zu negativen Konsequenzen führen, sind aber nicht so kritisch. Und, besonders interessant, ein Bedürfnis der Gesellschaft ist für den einzelnen Schüler relativ irrelevant, wird gar nicht von ihm erwartet, obwohl es für die Gesellschaft als Ganzes enorm wichtig ist: Innovation. Kaum jemand erwartet von Schülern, dass sie Neues, Besseres erfinden. Ich bin sehr gespannt, ob meine Pioniere die auf diesem Gebiet nicht viel von ihnen erwartende Gesellschaft nicht doch zu überraschen vermögen.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

Nächste Veranstaltungen