Ich habe bereits in vielen Büchern den Gedanken wiedergefunden, dass (Regel-)Schulen deswegen oft Schwierigkeiten verursachen, weil sie von Erwachsenen für Kinder entworfen wurden. Einige bedeutende Pädagogen haben dann darauf aufmerksam gemacht, dass es Sinn macht, die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder herauszufinden, anstatt eine Schule auf die angenommenen Bedürfnisse der Kinder zu begründen. Doch selbst dieser Ansatz scheint mir zu kurz zu greifen, weil das Ergebnis häufig eine Schule ist, die zwar für die aktuellen Bedürfnisse einiger Kinder gut geeignet erscheint, aber für den durchschnittlichen Erwachsenen kaum auszuhalten wäre.
In der Regelschule wird das Problem dadurch gelöst, dass Schüler mit zunehmendem Alter die Schule verlassen können. „Erwachsen sein“ bedeutet damit, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. An vielen freien Schulen wird das Prinzip dann wiederum umgedreht, indem sich die Erwachsenen an die kindliche Umgebung anpassen und Verhaltensweisen annehmen, die sie im Alltag mit anderen Erwachsenen kaum zeigen würden. Damit wird es erheblich schwieriger, mit der eigenen Vorbildwirkung zu arbeiten.
Eine Alternative dazu, die (glücklicherweise, wie ich finde) an unserer Schule sehr konsequent durchgezogen wird, ist es, die Schule von vornherein so auszulegen, dass sie für Erwachsene konzipiert ist. Überprüfungsfrage: Wären alle meine Schüler erwachsen, welche Regeln/Strukturen könnten ihrem Tun und Lernen möglicherweise unnötigerweise im Weg stehen? Nur, weil eine Regel oder Struktur sich für die Mehrheit der Schüler als vorteilhaft herausgestellt hat, bedeutet dies nicht, dass es a) so bleiben muss und b) nicht auch andere Schüler unnötigerweise benachteiligen kann.
Mit einer Schule für Erwachsene beginnen…
Konkret bedeutet dies, die Grundstruktur der Schule, die für alle notwendig ist auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. An unserer Schule beispielsweise wäre dies die Regel, dass niemand (auch ein Lehrer nicht) jemanden zwingen kann, etwas bestimmtes zu tun, sondern nur, etwas bestimmtes zu unterlassen. Dazu gibt es den „Stopp!“-Ausruf, den Lehrer wie Schüler gleichberechtigt verwenden können und der dafür sorgt, dass die individuellen Grenzen aller gewahrt werden. Alle anderen Bereiche, die an vielen Schulen vorgegeben werden, sind von den Schülern frei wählbar: was sie machen, wie sie es machen, mit wem sie es machen, und so weiter. Das hat den Grund, weil sich in der Freiheit gezeigt hat, dass die völlig unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder nur schwer von außen unter einen Hut zu bringen sind und es viel effektiver ist, dies in ihre Selbstverantwortung zu legen. Auch Erwachsene haben nach bisheriger Erfahrung nichts gegen diese Regelung.
Darauf aufbauend haben wir seit diesem Sommer eine große Anschlagtafel nach dem FreeSkool-Konzept, an die ein jeder, der vor ihr steht, Ideen für Angebote eintragen kann, seien es Lehrer, Schüler, Eltern oder externe Personen. Der Initiator eines Angebots kann nun für den Raum und die Dauer seines Angebots festlegen, welche speziellen Regeln für dieses Angebot gelten sollen, und die Besucher akzeptieren durch ihr Erscheinen diese Regeln – wie es auch bei Erwachsenen-Veranstaltungen im Regelfall ist. Und wie bei Erwachsenen-Veranstaltungen gilt auch hier: Niemand muss erscheinen, niemand muss Angebote initiieren. Und es gilt das Gesetz der zwei Füße: wer merkt, dass eine Sache ihn nicht weiterbringt, kann ja auch wieder gehen. Aber niemand anderem dafür die Schuld geben, dass er geblieben ist.
Die unterschätzte Vorbildwirkung
Eine Schule so zu entwerfen bzw. weiterzuentwickeln, dass sie auch Erwachsenen eine anregende Umgebung und Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung bietet, hat viele Vorteile. So fällt es in einer solchen Umgebung erheblich leichter, zwischendurch einmal die Rollen zu wechseln und bei einem Schüler „in die Lehre zu gehen“. Ein Schüler, der seit vielen Jahren turnt, hat mir beispielsweise auf meine Anfrage beigebracht, wie man sich nach Sprüngen gut abrollen kann, ohne sich zu verletzen. In einem solchen Umfeld ist es sehr einfach, nach dem „relative-Meister“-Prinzip zu handeln, nachdem eine Schule für jeden ein ganzes Netzwerk an Menschen ist, die in manchen Bereichen mehr Erfahrung haben als ich selbst, und die mir daher weiterhelfen können. Aus einer geringen Anzahl von „absoluten Meistern“ (=Lehrern) wird damit ein Netzwerk „relativer Meister“ – mit fantastischen Möglichkeiten.
In einer Schule, die (auch) an den Bedürfnissen Erwachsener „Meister“ und Lernender orientiert ist, fällt es auch erheblich leichter, Eltern oder externe Personen dafür zu gewinnen, sich in der (Lern-)Gemeinschaft zu beteiligen. Und die Chancen erhöhen sich, dass Schüler zunehmend selbst nicht nur in einzelnen Erfahrungsbereichen eine gewisse Meisterschaft erreichen, sondern auch die Idee verinnerlichen, dass es Sinn macht, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen, die diese wiederum teilen – kurz, sich den Erwachsenen in der Schule durch die Vorbildwirkung angleichen und viele von deren Aufgaben mitübernehmen. An unserer Schule übernehmen viele Schüler sehr große Aufgabenbereiche des Schulgeschehens, und immer wieder kehren auch ehemalige Schüler zurück, um sich wieder einzubringen. Dies gelingt meines Erachtens deswegen so gut, weil wir strukturell darauf achten, dass Schüler, die in ihrer „Meisterschaft“ bereits viel Verantwortung übernehmen könnten, nicht auf unnötige formale Hürden und Regelungen stoßen, die sie davon abhalten.
Aber die Schule ist doch für die Kinder da…?!
Natürlich ist sie das. Auch. Und Kindern fehlen manche Fähigkeiten, die der durchschnittliche Erwachsene vorweisen kann. Zum Beispiel können viele von ihnen bei Schuleintritt noch nicht Lesen und Schreiben, was die Nutzung des offenen Stundenplans erschwert. Der Trick an der Sache ist nun die Richtung des Vorgehens. Gehe ich von den Bedürfnissen des Kindes und seinen Fähigkeiten aus („ich kann nicht lesen/schreiben und möchte wissen, was heute angeboten wird“) und baue meinen Schulalltag um die Befriedigung dieser Bedürfnisse, ist die Chance groß, dass ich mit der Lösung des Problems einiger Schüler für andere Schüler zusätzliche Probleme schaffe. Dann organisiere ich vielleicht (weil natürlich auch personelle Kapazitäten immer begrenzt sind) eine verpflichtende Zeit am Morgen, in der ich das Angebot für alle Kinder vorlese – auch für die, die schon lesen können. Oder die es gerade erlernen möchten, und für unsere Vorstellung zu lange brauchen. Die sind dann genervt von der Bevormundung, „stören“, …
Wenn wir aber davon ausgehen, was ein durchschnittlicher Erwachsener für eine lernfördernde Umgebung benötigt, so werden wir weitgehend auf allgemein verpflichtende Kompensationsmaßnahmen verzichten (die meisten Erwachsenen würden sich bevormundet fühlen und sie ablehnen). Wir würden aber wohl Werkzeuge überlegen, die es denjenigen, die es benötigen, ermöglicht, die Schule trotz ihrer noch nicht ausgebildeten Fähigkeiten zu nutzen, und versuchen, diese Werkzeuge (oder auch Lösungsmöglichkeiten, „Hacks“) in der Gemeinschaft zu verbreiten. So könnte etwa ein Kind entdecken, dass es sich die Angebote ja auch von jemandem auf Wunsch vorlesen lassen kann. Und wenn die Lehrer gerade keine Zeit haben, dass es ja auch viele andere Kinder gibt, die bereits lesen können.
Die letzteren Ideen (die durchaus auch von Lehrern entwickelt werden können) verletzen im Gegensatz zur ersten Lösung der verpflichtenden Vorlese-Runde das oberste Grundgesetz nicht: niemand darf jemand anderem befehlen, was er machen muss (Ausnahme: in der Schulversammlung beschlossene Regeln). Sie sind Werkzeuge, die die Entscheidung für oder gegen die Nutzung beim „Anwender“ belassen.
Funktioniert das an unserer Schule immer auf diese Art und Weise, und in Reinform? Nein, es wäre eine Lüge, dies zu behaupten, denn immer wieder geschieht es, dass Regelungen entworfen werden, die gegen diese inoffizielle Grundregel verstoßen. Aber langfristig habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Regelungen oft mehr Schwierigkeiten schaffen, als sie beseitigen.
Der wichtigste Vorteil
Der allergrößte Vorteil an dieser massiven Reduzierung der für alle verpflichtenden Regelungen und Strukturen ist es, dass damit ein Freiraum entsteht, den ein jeder selbst nach seinem Gutdünken mit der für ihn besten Schulumgebung ausfüllen kann. Ein Kind, das in Räumen mit mehr als drei Menschen Panik bekommt, meidet eben dann Räume, in denen sich viele Menschen versammeln. Andere, die gerne in Gruppen zusammenkommen, machen dies. Mit der Zeit entwickelt sich eine dezentral organisierte weitgehende Individualisierung der Schulerfahrung. Die Schule kann für den einen ein Ort sein, an dem er seinen fixen Stundenplan mit fixen Kursen hat, in dem Lehrer vorgeben, was zu tun ist, während sein bester Freund, der die selbe Schule besucht, den ganzen Tag nichts anderes tut, als mit seinen Freunden Rollenspiele zu spielen. Alle möglichen Formen von Schule können bei der richtigen Organisation nebeneinander und miteinander existieren, anstatt gegeneinander zu arbeiten oder sich sogar gegenseitig auszuschließen.
Ebenso bedeutet dies, dass sie die einzelnen Pädagogen kaum mehr in die Haare kommen müssen, was die Pädagogik der Schule betrifft, solange sie sich auf eine minimale Grundbasis einigen können, die alles zusammenhält (was meist einfacher ist, als erwartet). So können in einer Schule 100%iges Montessori-Vorgehen neben Freinet-Pädagogik, Regelschul-Kursen wie kreative Neuschöpfungen existieren. Anstatt gegeneinander vorzugehen (wie es offensichtlich an vielen Schulen der Fall ist), können Pädagogen verschiedenster Weltbilder hier gut miteinander arbeiten und damit auch ein reichhaltiges und sehr vielschichtiges Angebot für die Schüler bieten. Dies ist keine Theorie, sondern gelebte Praxis an unserer Schule.
Mir war schon im Sommer, als die Idee nach einigen Konflikten, wie denn die gemeinsame Pädagogik zu sein hätte, aufkam, klar, dass es sinnvoll wäre, so vorzugehen. Aber nun, nach einigen Monaten des gemeinsamen Arbeitens mit Hilfe dieser „Schnittstellen-Pädagogik“, halte ich es für absurd, nicht so zu arbeiten.
Nun, zum Ende dieses Beitrages möchte ich dazu einladen, die eigene Schule einmal nach dem Gesichtspunkt zu beurteilen, wo sie a) „erwachsenen“ Schülern möglicherweise unnötige Steine in den Weg legen würde und b) wie man die betreffenden Regelungen so umorganisieren könnte, dass die Freiräume für alle erweitert, dafür aber „Krücken“ für diejenigen entworfen werden, die mit den Freiräumen noch nicht umgehen können. Die meisten Schüler arbeiten dann mit der Zeit selbst daran, dass sie die „Erwachsenen-Werkzeuge“ wie den offenen Stundenplan auch ohne Hilfe benützen können. So lernen zum Beispiel gerade einige unserer Kinder lesen und schreiben, weil sie keine Lust mehr haben, ständig jemanden um Hilfe bitten zu müssen.
Sie sehen, dass Erwachsene etwas benutzen, weil es für die Erwachsenen tatsächlich Sinn macht. Alle unserer Versuche, Kindern in Freiheit Systeme und Werkzeuge schmackhaft zu machen, die wir nicht selbst als Erwachsene über längere Zeit benutzen, scheitern, aber wenn wir etwas für uns selbst als sinnvoll betrachten, gibt es fast ständig Kinder, die uns dabei helfen wollen. So haben wir etwa eine Namensliste, auf der wir tagtäglich im Eingangsbereich abhaen, wer gekommen und wer gegangen ist. Mittlerweile übernehmen viele Kinder gerne das Abhaken – und lernen nebenbei Lesen. Das dauert dann oft länger, als wenn wir Erwachsenen es machen würden, aber wir ermöglichen den Kindern dadurch, dass sie authentische Erwachsene nachmachen können, die etwas tun, weil sie es für sinnvoll halten, nicht weil es „pädagogisch sinnvoll“ erscheint.
Derartige Prozesse mögen anfangs ein wenig ungewohnt sein, aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass sie zu den massivsten positiven Entwicklungen und auch Lernprozessen in unserer Schule geführt haben.
Niklas