Warum Gewalt kanalisiert und nicht verboten werden sollte

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Ich war einigermaßen erstaunt, als mich einige der auf den ersten Blick friedfertigsten Schüler unserer Schule darauf ansprachen, ob ich nicht bei ihrer NERF-Schlacht zusehen oder auch mitmachen wolle. Ich war davon ausgegangen, dass dies eher etwas für unsere „Wilderen“ sein würde, die sich auch so gerne balgen oder gegenseitig ärgern, doch hier waren auch einige der sonst eher schüchtern oder in sich gekehrt wirkenden Schüler plötzlich sehr aktiv bei der Sache. (Für alle, die mit dem Begriff NERF nichts anfangen können: es handelt sich dabei um Spielzeugwaffen aus Plastik, die Schaumstoffpfeile schießen und in der Funktionsweise an die Vorbilder echter Waffen angelehnt sind. So gibt es etwa einfache Pistolen, Maschinengewehre, Shotguns bis hin zu Mörsern. Die Pfeile sind so leicht, dass kaum Verletzungsgefahr besteht, wenn nicht zufällig in die Augen des Gegners getroffen wird.)

Was ich in der Folge beobachtete, war ein sehr koordinierter „Krieg“ zweier Gruppen, die sich selbst gegenseitig Regeln auferlegt hatten bzw. diese je nach Situation auch an die Bedürfnisse der Mitspieler anpassten. Es wirkte nicht allzu verschieden von den Ball-Abwerfspielen, die wir selbst als Schüler im Turnunterricht immer gerne gespielt hatten, und als ich dann von einem Schüler eine seiner kleinen NERF-Pistolen geliehen bekam, um mitmachen zu können, fühlte es sich auch nicht sehr anders an. Später entwarfen die Kinder noch eine Art Zombie-Jagd-Spiel, bei dem sich diejenigen mit ihren Waffen einer Horde Gehirn-hungriger Zombies erwehren musste, mit entsprechenden Regeln.

Interessant war dann, dass sich nach einigen Wochen einige der älteren Schüler unserer Schule zu beschweren begannen, sie würden immer wieder von den jüngeren Schülern mit ihren NERFs bedroht. Obwohl jene „Waffen“ keine reale Gefahr darstellten, entstanden offensichtlich Situationen symbolischer Gefahr, in denen jüngere Kinder sich durch das, was ihre Waffen in der realen Welt darstellen würden und auch im Spiel auslösten, stärker fühlten, als sie waren. Die meisten der Größeren waren vernünftig genug, den Jüngeren ihren Denkfehler nicht anhand der wahren Kräfteverhältnisse aufzuzeigen, sondern die Sache in die Schulversammlung zu geben, wo das Problem (aus meiner Sicht) sehr sinnvoll gelöst wurde: NERF-Waffen dürfen zukünftig (wie alle potentiell gefährlichen oder waffen-ähnlichen Gegenstände an unserer Schule, z.B. Messer) nur in den dafür vorgesehenen Kursen hervorgeholt werden, ansonsten werden sie bis zum Ende des Tages von uns in Sicherheit verwahrt. Und natürlich gibt es seitdem auch von Kindern organisierte NERF-Schlacht-Angebote, die gut besucht werden.

Gewaltlosigkeit durch Gewalterfahrungen

Es ist interessant zu beobachten, welche Fortschritte jene Kinder in den NERF-Schlachten im Hinblick auf Gewalt machen. In diesen Schlachten bauen sie sich Schutzbunker aus Kissen, versuchen sich vor feindlichen Geschossen zu verstecken, „sterben“, wenn sie getroffen werden, werden wiederbelebt, zittern um ihre Teammitglieder, kurz: erleben viele Konsequenzen von Gewalt in sehr ungefährlicher Form symbolisch am eigenen Leib. In dem sie eine Geiselnahme symbolisch nachspielen, erleben sie die Situation und die damit verbundenen Problematiken nach, und auch die Konsequenzen. Natürlich nur ansatzweise, aber ich glaube, es ist kein Wunder, dass viele jener Kinder im sonstigen Umgang mit anderen Kindern ein sehr gutes Gefühl für die Grenzen des Anderen entwickelt haben. Es ist für sie – soweit ich das beobachten konnte – eine Art Rollenspiel, um Situationen auszutesten, in die sie „in echt“ nie kommen wollen würden.

Ein ähnlicher Sachverhalt erscheint mir auch bei Computer-spielenden Kindern und Jugendlichen der Fall zu sein. Dabei wird ja auch von vielen Wissenschaftlern angenommen, dass häufiges Spielen etwa von Ego-Shootern dazu führt, dass die Hemmschwelle für Gewalt durch die Gewöhnung sinkt. Tatsächlich scheinen mir die meisten meiner Schüler sehr gut zwischen dem, was in einem Spiel geschieht, und dem, was in der Realität passieren würde, unterscheiden zu können, was sich in Aussagen wie „Im echten Leben würde ich das nie machen!“ oder „Das ist so krank!“ spiegelt. Und trotzdem spielen sie gerne solche Spiele. Auch ich selbst habe seit ich sehr jung war Computerspiele gespielt, bei denen es (mehr oder weniger abstrakt dargestellt) auch darum ging, Gegner „auszuschalten“. Es war eine Quelle, die Erfahrung zu machen, dass Menschen dazu fähig sind, andere Menschen zu verletzen oder sogar zu töten. Eine Erfahrung, die ich für sehr, sehr wichtig halte.

Für beinahe ebenso wichtig halte ich es, jungen Menschen die Erfahrung zu ermöglichen, wie denn die Konsequenzen dieser Handlungen für die beteiligten Personen aussehen. Auch wenn ich mich für einen möglichst liebenswürdigen und gewaltfreien Umgang miteinander einsetze, glaube ich doch, dass es dazu notwendig ist, einem jeden Menschen im Laufe seines Lebens die Erfahrung machen zu lassen, warum dieser liebenswürdige und gewaltfreie Umgang mit den Mitmenschen für alle Beteiligten besser ist. Natürlich kann ich ihm auch einfach erzählen, dass dies so ist, oder ihm gewalttätige Handlungen verbieten, weil ich es ja besser weiß. Aber ich glaube, es ist eine Art Naturgesetz, dass eine jede Generation die Ordnung der alten, so gut sie auch sein mag, hinterfragen wird, bis sie entweder die Ideen der Älteren bestätigende oder widersprechende Erfahrungen gemacht haben. Dies lässt sich nicht ganz verhindern – und kann ja auch eine Quelle von Fortschritt sein.

Wenn wir nun aber davon ausgehen, dass gerade junge Menschen ihre eigenen Erfahrungen in den vielfältigen Möglichkeiten des menschlichen Miteinanders, der eben auch Gewalt miteinschließt, machen müssen, so erscheint es mir als Erwachsener sinnvoller, ihnen entsprechende Möglichkeiten, die ein geringes tatsächliches Verletzungspotential haben, nicht nur zu erlauben, sondern sie sogar zu fördern oder vorzuschlagen. In einer Schule, an der ich gearbeitet habe, haben sich die impulsiven (und damit oft in unpassender Umgebung und daher tatsächlich gefährlichen) Gewalthandlungen zwischen Schülern massiv vermindert, nachdem wir einige Male eine Art Ringkampf mit festen Regeln veranstaltet haben.

Gewalt als Folge der Entmenschlichung

Eine der bedrohlichsten Faktoren, die die Hemmschwelle für Gewalt senken können, ist die Entwertung des Anderen bis hin zum Unter- oder Nicht-Menschen, wie es mit Hilfe von massiver Propaganda etwa von den Nationalsozialisten gegen die Juden oder durch die US-Regierung im Vietnamkrieg unternommen wurde, aber auch bei Individualdelikten immer wieder vorkommt. Wenn ich in meinem Mitmenschen nicht mehr einen Menschen wie mich sehe, mit eigenen Ideen, Träumen, mit einer ganzen kleinen Welt, die nur er sehen kann, sondern ein Objekt, um das es nicht schade ist, wenn es nicht mehr ist, dann kann es problematisch werden.

Das Problem fängt nicht dann an, wenn ein Schüler dem erschossenen Gegner in seinem Computerspiel keine Träne nachweint. Es fängt dann an, wenn er seine Mitschüler und Mitmenschen nicht mehr als Menschen achtet – und ein häufiges Computerspielen als alleinige Ursache dafür zu erklären, halte ich für ein wenig zu einfach. Tatsächlich könnte sogar das Gegenteil der Fall sein: Nämlich dass er seine durch seine ihm unangenehme Situation in sich aufkommenden Impulse der Gewalt auf jene Art und Weise „ausleben“ kann, ohne tatsächlich jemanden dabei zu verletzen.

Gewaltlosigkeit durch Einsicht

Die wohl effektivste Methode, Gewaltlosigkeit zu erlernen, ist die Konsequenzen von Gewalthandlungen mitzuerleben. Gleichzeitig ist es auch die effektiveste Methode, gewalttätiges Denken und Handeln zu erlernen – abhängig von der eigenen Bewertung des Beobachteten. Wen beziehe ich in den Kreis der „relevanten“ Personen überhaupt ein? Betrachte ich nur die Konsequenzen für den Helden der Geschichte, der die Terroristen totschießt und am Ende seine Angebetete bekommt? Die Konsequenzen für ihn selbst sind ja nicht sonderlich negativ, wenn er kein Trauma aus der Sache bekommt oder Ähnliches. Beziehe ich vielleicht den im Kampf getöteten Freund in meine Betrachtungen mit ein, so wird die Sache schon nicht mehr so eindeutig. Wenn ich dann überlege, wie es den Familien der getöteten Terroristen wohl gehen mag, frage ich mich vielleicht, ob wirklich alle von ihnen sterben mussten. Und wenn ich dann noch überlege, ob alle von ihnen freiwillig Terroristen geworden sind, oder ob die Bezeichnung „Terroristen“ auf sie überhaupt zutrifft und nicht viel eher ich als der Held der Geschichte aus ihrer Sicht nicht ebenso ein Terrorist sein muss, dann wird die Sache noch mehr zum Nachdenken.

Ich glaube, es kommt darauf an, was ein Mensch für eine subjektive Erfahrung macht, wenn er eine Beobachtung macht, einen Film sieht oder ein Computerspiel spielt, mit welchen Figuren er sich identifiziert und welche anderen Menschen er dabei noch in seine Betrachtungen einbezieht. Und dabei können wir Schüler durchaus unterstützen, wenn wir die richtigen Fragen stellen. Fragen wie „Was meinst du, wie sich X nun gefühlt hat?“, in der richtigen Situation gestellt, können manchmal Wunder wirken.

Diese Fragen können wir aber meist nur dann effektiv stellen, wenn wir „dabei“ sind. Wenn wir alles, was mit Gewalt zu tun haben könnte, von vornherein verbieten, werden unsere Schüler trotzdem irgendwann damit in Berührung kommen – vielleicht in Situationen, in denen ihnen niemand „unangenehme“ Fragen nach den Konsequenzen stellen kann. Da halte ich es für sinnvoller, diese so wichtige Entwicklung begleiten und durch einige „schwierige“ Fragen im richtigen Moment fördern zu können. Und ähnlich wie ich es für sinnvoller halte, einige blaue Flecken zu riskieren, um schwere Verletzungen zu vermeiden, halte ich es auch für sinnvoller, kleinere Ausbrüche von Gewalt zuzulassen, wenn sie wirklich gefährliche Situationen verhindern helfen.

Als ich noch einige Jahre jünger war, habe ich an eine zukünftige Welt geglaubt, in der alle Menschen in Frieden zusammen leben würden, und irgendwann hätten sich die Menschen derart daran gewöhnt, dass neue Generationen gar nicht mehr auf die Idee kommen würden, es anders zu machen. Heute glaube ich eher, dass alles, was wir an Menschen beobachten können, ob wir es für gut oder schlecht halten mögen, in einem jeden Menschen als Potential steckt und dementsprechend freigesetzt werden kann. Und wenn es durch bestimmte Faktoren freigesetzt wird, dann müssen wir als friedensliebende Gemeinschaft – wenn es uns ernst damit ist – wohl Möglichkeiten für unsere jungen Mitmenschen finden, wie sie ihre Potentiale so kanalisieren können, dass sie auf möglichst ungefährliche Art und Weise damit experimentieren können. Sie zu verbieten, würde bedeuten, einen Teil des Menschlichen zu verbieten – und das hat auf Dauer noch nie funktioniert. Zudem würden Kinder dann lernen, dass Gewalt nur durch Verbote und unter Androhung von Konsequenzen (also noch mehr Gewalt) zu verhindern ist.

Wir werden auch (wieder) wieder lernen müssen, zwischen Aggression und Gewalt zu unterscheiden. Aber dazu in einem späteren Artikel mehr.

Niklas

P.S.: Ich bin von ca. 5.4. bis 14.4. wieder in Oberösterreich, falls jemand Lust auf ein Treffen hat, lasst es mich wissen 🙂

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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