Heute wollte ich ein Experiment starten. Nachdem ich schon des Öfteren in Curitiba durch Strassenmusik ganz gut verdient hatte, war der nächste interessante Schritt der Versuch, eine begrenzte Ressource auf ähnliche Weise zu vertreiben, ohne selbst Verluste beklagen zu müssen. Also fabrizierte ich einen gschmackigen Guglhupf mit Zitrone und Schokoladestückchen, malte ein Schild, an dem ich meine Kosten und Zeitaufwand vorrechnete und wartete darauf, dass Passanten sich Kuchenstücke genehmigen würden und jeweils bestimmte Beträge oder eben gar nichts dafür bezahlen würden.
Die häufigste Reaktion war ähnlich der Reaktion vieler Menschen, die zum ersten Mal ein Free-Hugs-Schild erblicken: Unglauben. Unglauben und Misstrauen. In dieser Welt gibt es nichts umsonst, warum also Kuchenstücke? Wo war der Haken?
Nach einer Weile sprach mich ein Student an und ich erklärte ihm meine Beweggründe, mit Arten des Wirtschaftens zu experimentieren, die es auch Personen mit wenig oder gar keinem Einkommen ermöglichen würden, eine Dienstleistung oder ein Produkt zu nutzen. Es entwickelte sich schnell ein interessantes Gespräch, während diesem er für ein Kuchenstück 80 Centavos bezahlte (zum Vergleich: Wenn ich 12 Stücke zu jeweils 36 Centavos verkaufe, komme ich auf meine Einkaufskosten für die Zutaten). Der nächste Inanspruchnehmer war ein leicht betrunkener Obdachloser, der sich meines Erachtens einfach über den Kuchen freute, ohne darüber nachzudenken, warum er nichts dafür zahlen müsste.
Und dann setzte sich ein leicht angetrunkener Mann hinter meine Bank. Ich bot auch ihm ein Kuchenstück an, und er bat um zwei. Er nahm das zweite und teilte es unter seinen zwei Hunden, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte, auf. Ich war gerührt und bot ihm mehr an, und er teilte zwei weitere Stücke mit seinen Hunden. Und dann erzählte er uns, dass er auf einem falschen Weg gewesen war, weswegen er es einsehe, dass er nun eine Weile auf der Strasse leben müsste. Aber Gott liebe ihn, und er sei voller Hoffnung. Und er ging hin zu einem Blinden, der gerade nicht weit von uns etwas verwirrt mit seinem Gehstock herumstocherte, umarmte ihn und erklärte uns, der Blinde sei ein Engel Gottes, umarmte uns ebenso herzlich, segnete uns und ging mit seinen zwei Hunden des Weges.
Es ist schwer, meine Gefühle nach dieser Situation zu beschreiben. Ich hatte es mittlerweile aufgegeben, mit den oft betrunkenen (oder highen) Menschen, die auf der Strasse leben, zu sprechen, vor allem nachdem einige meiner Freunde nachts überfallen, unter anderem mit Waffen bedroht und ausgeraubt wurden. Aber dieser Obdachlose versprühte eine solche Hoffnung, eine solche Güte gerade gegenüber dem Blinden, an dem sonst alle achtlos vorbeigingen. Ich schämte mich meiner Angst, mit Obdachlosen zu sprechen. Dieser Mann hatte mich daran erinnert, dass das Äussere eines Menschen oft trügerisch war.
Ich schämte mich meiner Gedanken, dass es Menschen gäbe, bei denen es wohl „zu spät“ sei, weil sie einfach zu viel Alkohol getrunken, sich mit zu viel Kokain oder, wie hier verbreiteter, weil billiger, Crack ihr Hirn zermanscht hatten. Sollte es für diese Menschen keine Hoffnung mehr geben? Verdammt bis zu ihrem ruhmlosen Ende? Und wer war ich, über sie zu richten? Ihnen ihre menschliche Würde abzusprechen?
Dieser Mann, so leicht auf den ersten Blick als „einer von denen“ eingeordnet, zerrupft, ungewaschen und in seiner entsprechenden Duftwolke, bewies für mich heute mehr Menschlichkeit als ich es jemals tat, vielleicht jemals tun werde, und hinterliess in mir ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht und Demut für diese Lektion dieses wahren Meisters.
Möget auch ihr euren wahren Meistern begegnen.
Niklas