Letzten Sommer zog ich vom Norden Deutschlands zurück nach Oberösterreich. Eine Freundin von mir hatte uns eine Wohnung organisiert, in die wir am 1. August einziehen konnten – oder zumindest war das der Plan. Aufbauend auf diesen Versicherungen bot mir meine Schwester an, ich könnte einige meiner Sachen bis zum 1. August bei ihr unterstellen, so dass ich die letzten Juli-Tage nicht mit einem vollgepackten Bus herumfahren musste. Da dieser zunehmend Öl und Wasser zu verlor, plante ich, ihn sofort nach dem Umzug am 1. August reparieren zu lassen.
Tatsächlich verzögerte sich der Einzug in die Wohnung dann auf „unbestimmte Zeit“, was zur Folge hatte, dass ich meine auf dieser Abmachung basierenden Verpflichtungen nicht oder nur schwer einhalten konnte. Ich war dann – um die Abmachung mit meiner Schwester einzuhalten, die Sachen am 1. August wieder abzuholen, gezwungen, den Bus wieder mit all den Sachen vollzustopfen, und da ich ihn am 14. August wieder (repariert) brauchte, um jemanden vom Flughafen abzuholen und nicht wusste, wie lange eine Reparatur dauern würde, machte ich massiv Druck auf meine zukünftige Wohnungskollegin, mir endlich ein verlässliches Einzugsdatum zu nennen.
Am Ende klappte dann doch alles irgendwie, wenn auch fern von idealen Abläufen. Die Bus-Reparatur kostete mehrere Tausend Euro, der Einzug war am 10. August möglich und die Urlaubsreise mit meinem Gast, den ich vom Flughafen abholen sollte, dauerte statt 10-14 Tagen nur 5 Tage, was nicht unbedingt einem entspannten Miteinander entspricht.
Warum ich die Geschichte (oder einen Teil davon) erzähle? Weil sie geeignet ist, einige immer wieder auftretende Prozesse aufzuzeigen, die sich in vielfältigen Formen ständig im Alltag wie auch in der Schule abspielen.
Domino-Effekte
Ein interessantes Phänomen, das sich in der Geschichte zeigt, ist der Domino-Effekt, den einzelne Versäumnisse auf andere Menschen haben können. Da ich einige meiner Entscheidungen und Abmachungen mit anderen Menschen auf dem Einzugsdatum des 1. August basierte, war mit dem Fallen des Einzugstermins unklar, ob ich meine eigenen Verpflichtungen erfüllen würde können. Besonders unerträglich fand ich damals die Aussicht, dass sich das Einzugsdatum auf „unbestimmte Zeit“ verschieben würde, weil ich damit nicht einschätzen konnte, ob es schlauer war, die Sachen aus dem Bus bei anderen Freunden unterzubringen und ihn erst mal reparieren zu lassen oder die Sachen im Bus zu lassen, weil es ohnehin nicht mehr lange dauern konnte. Meine weiteren Entscheidungen waren in jener Situation abhängig davon zu treffen, wann ich in die Wohnung konnte. Ohne diese Information war es schwer bis unmöglich, gute Entscheidungen zu treffen.
Weitergegebener Druck
Aus dieser Verunsicherung heraus machte ich damals meiner zukünftigen Wohnungskollegin massiv Druck, mir einen verlässlichen Einzugstermin zu besorgen (sie war damals verantwortlich für die Klärung jener Fragen und wollte dies auch nicht ändern). Es stellte sich heraus, dass auch unser zukünftiger Vermieter von seinen Handwerkern hängen gelassen worden war und die Wohnung schlicht noch nicht fertig renoviert war. An jeder Stelle der Abhängigkeitskette hatten die einzelnen Akteure versucht, Druck auf das vorherige Glied der Kette auszuüben, was den Druck vom Ende der Kette bis zu ihrem Anfang weitergegeben hatte.
Interessanterweise kommt es jedoch üblicherweise nur selten vor, dass einzelne Menschen einen Überblick über die gesamte Kette an Abhängigkeiten haben. Meist sehen wir nur 1-2 Glieder weit, ohne zu überblicken, dass jene Glieder wiederum von anderen Menschen abhängig sind, die oft nicht „liefern“, was sie versprochen haben. Es wäre auch ein Stück weit anstrengend, so viele Stufen von Abhängigkeiten für jede Entscheidung durchdenken zu müssen. Kaum jemand, der in einem Supermarkt eine Karotte kaufen will, möchte sich überlegen, wie viele Menschen reibungslos zusammenarbeiten müssen, damit diese Karotte in diesem Supermarkt für mich bereit liegt. Wir verlassen uns einfach darauf, dass es so ist. Gibt es wider Erwarten an einem bestimmten Tag keine Karotten zu kaufen, wird eben der Besitzer des Supermarktes als verantwortlich angesehen, unabhängig davon, ob er selbst die Hauptverantwortung für das Nicht-Funktionieren der ganzen Kette zu tragen hat oder nicht.
Einerseits ist es für den Durchschnittsmenschen wohl auch einfach leichter, sich nicht mit allen Verkettungen beschäftigen zu müssen, andererseits ist es bei uns normalerweise auch sozial nicht sehr angesehen, sich darauf herauszureden, dass jemand anderer seine Verpflichtungen nicht eingehalten hat. Wenn ich bei jemandem eingeladen bin und mich jemand gebeten hat, ihn mitzunehmen, dieser dann aber morgens nicht hochkommt und einige Minuten zu spät zu mir kommt, so dass wir beide zu spät kommen, werde üblicherweise trotzdem ich als Fahrer gescholten. Oder auf die Schule bezogen: Verliert sich ein Kind bei einem Wandertag in der Betrachtung der am Weg wachsenden Blumen und trödelt dementsprechend herum, wird beim Zuspätkommen der ganzen Gruppe auch die Lehrerin verantwortlich gemacht, dass die Gruppe zu spät kam, nicht das trödelnde Kind.
Warum Schule gezwungen scheint, Druck auszuüben
Nun kommen wir zu einem interessanten Phänomen: üblicherweise wird (wie oben beschrieben) ein Lehrer dafür verantwortlich gemacht, ob und was ein Kind lernt oder tut. Ersteres von außen kontrollieren zu wollen halte ich ohnehin für ein ziemlich absurdes Unterfangen, aber was ein Kind tut oder zumindest zu tun scheint lässt sich durchaus von außen steuern – wenn man bereit ist, Druck auszuüben. Dies ist nicht immer notwendig, um ein bestimmtes Verhalten zu erreichen, immer wieder werden Kinder auch von selbst Interesse für das entwickeln, was von ihnen verlangt wird, oder ihrem Lehrer weit genug vertrauen, seinen Anweisungen zu folgen. Aber wo dies nicht der Fall ist, werden Lehrer trotzdem dafür verantwortlich gemacht, was die ihnen anvertrauten Kinder machen. Wenn ein Kind laut ist, ist der Lehrer schuld, es nicht beruhigt zu haben. Wenn ein Kind sich weigert, eine Rechen-Übung zu machen, die es machen soll, ist der Lehrer schuld, es nicht dazu gebracht zu haben.
Mir geht es hierbei nicht um die Frage, ob es sinnvoll ist, dass ein Kind leise ist oder sein kann oder eine bestimmte Übung macht – sondern um die Druck-Kette verketteter Abhängigkeiten. Und damit ein Lehrer seine Arbeit gegenüber Eltern, Kollegen, Direktion und Gesellschaft „vorzeigen“ kann, ist er faktisch abhängig vom Verhalten seiner Schüler. Er muss, um den Erwartungen, die an ihn gestellt sind, zu erfüllen, die Schüler dazu bringen, den Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu erfüllen. Ähnlich eine Hierarchiestufe aufwärts zwischen Direktoren und Lehrern und so weiter. Das kann auf freundliche Weise geschehen – oder unter Androhung und Anwendung von Druck bis hin zu Gewalt.
Den Druck nicht 1:1 weitergeben?
Ein jeder innerhalb dieser Kette an Abhängigkeiten kann sich jederzeit entscheiden, den Druck nicht weiterzugeben. Ein Direktor kann sich vor seine Lehrer stellen und ihnen mehr Freiräume gewähren. Ein Lehrer kann sich vor seine Schüler stellen und ihnen mehr Freiräume gewähren. Aber ein jeder, der so handelt, muss damit zusätzlichem Druck standhalten, belastet sich selbst mit dem Druck, den er von seinen ihm Anvertrauten nimmt. Es ist einfacher, den Druck, der auf einem selbst lastet, einfach weiterzugeben. Bequemer, und noch dazu üblicher.
Eine Bekannte hat mir unlängst erzählt, sie hätte einmal eine Kollegin gehabt, die sich „reingesteigert“ habe und versucht habe, den Druck von den Schülern fernzuhalten. Nach wenigen Monaten habe sie den Schuldienst mit Burnout verlassen. Auch selbst habe ich die massive Überforderung, die dadurch entstehen kann, schon ansatzweise spüren dürfen. Es braucht wohl eine gewisse innere Festigkeit, braucht Unterstützungssysteme, ob kollegial, ob in Form eines Unterstützungs-Netzwerks oder im privaten Umfeld. Ansonsten ist kaum eine nachhaltige Lösung wahrscheinlich.
Nichtsdestotrotz halte ich ein Graswurzel-Vorgehen immer noch für realistischer, auch nur in Ansätzen etwas zum Positiven für alle Beteiligten, Kinder, Pädagogen, Direktoren, Eltern und wer auch immer noch beteiligt sein mag, beizutragen, als darauf zu warten, dass von oberster Stelle (Bildungsministerium beispielsweise) sinnvolle und nachhaltige Veränderung auf den Weg gebracht wird. Die Kette an Abhängigkeiten, die Entscheidungen ganz oben durchlaufen müssen, bis sie bei den Kindern ankommen, ist wohl schlicht zu lang. Aber auf Klassen- wie Schulebene ist vielleicht etwas zu machen. Hier mag es tatsächlich auf den Einzelnen ankommen.
Niklas