Unterdrückung und Förderung von konstruktiven Entwicklungsprozessen in Gruppen

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Ich habe hier auf diesem Blog bereits ausführlich über den Heilungskreis und seine Ähnlichkeiten mit dem was ich signifikante Entwicklung oder qualitatives Lernen  nenne geschrieben. Das Modell ist eher auf eine 1:1-Beziehung, etwa zwischen Lehrer und Schüler bzw. Therapeut und Klient bezogen. Einige Muster in den Erfahrungen an meiner neuen Arbeitsstelle haben mich veranlasst, diese mit besagtem Heilungskreis in Beziehung zu setzen und ein grobes Modell für einen allgemeineren Kontext wie einer Gruppe, Klasse oder eben in meinem Fall kleinen Institution daraus abzuleiten. Vieles davon ist Hypothese, wilde Vermutung und keinesfalls wissenschaftlich abgesichert. Sollten allerdings nur Teile davon der Wahrheit entsprechen, wären die möglichen Konsequenzen gravierend.

Wenn Institutionen/Gruppen „feststecken“

In der Institution, an der ich seit einigen Monaten arbeite, bestanden zum Zeitpunkt meiner Übernahme zahlreiche Konflikte zwischen den einzelnen Kindern und Jugendlichen sowie zwischen einigen Mitarbeitern und auch untereinander. Meine Vorgängerin hatte es – wohl unter großen Anstrengungen – zuwege gebracht, dass der Alltag in der Institution für alle Beteiligten gut ertragbar geworden war, indem sie und ihre Mitarbeiter die bestehenden Konflikte gar nicht erst ausbrechen  und austragen ließen. Und so war der Umgang miteinander im Alltag auch weitgehend friedlich, wenn auch relativ straff durchorganisiert.

Nach meiner Übernahme waren mir naturgemäß nicht alle dieser eintrainierten Abläufe 100%ig bewusst, weswegen ich – teils versehentlich, teils absichtlich, weil ich Abläufe als unnötig kompliziert empfand – so manches aus Sicht der Kinder und Jugendlichen wie auch meiner Mitarbeiter wohl „nicht korrekt“ machte. Und immer wieder, oft aus mir nicht ganz ersichtlichem Grund, gab es manche Tage, an denen irgendwie alle halb am Durchdrehen waren. Wo es völlig zu eskalieren drohte, schritt ich deeskalierend ein, ansonsten ließ ich die Beteiligten auch viel untereinander austragen, während ich wachsam beobachtete.

Gefühlt werden diese potentiellen Eskalationen bereits wieder weniger, vor allem aber fällt mir auf, dass plötzlich eine Art von Entwicklung stattfindet, die ich selbst nicht für möglich gehalten hatte, als mir von der Vorgeschichte der Institution erzählt wurde. Nicht nur die Kinder und Jugendlichen werden ruhiger und konstruktiver miteinander, auch die erwachsenen Mitarbeiter ändern zunehmend und oft sehr drastisch ihr Verhalten. Einiges davon habe ich auch aktiv angeregt und meine Gründe erklärt, manches davon habe ich jedoch nicht einmal als Wunschvorstellung ausgesprochen und trotzdem tendiert die allgemeine Entwicklung der Institution gerade in genau die Richtung, die ich mir als mögliches Ziel vorgestellt habe, als wäre diese Art von Entwicklung eine Art natürliche Entwicklung, wenn erst die Bedingungen dafür vorhanden sind.

Die Institution als Ganzes scheint in der ersten Phase des Heilungskreises stecken geblieben zu sein, bevor ich dort übernommen habe, nämlich jener, dass irgendetwas sich nicht so recht richtig anfühlt, aber man noch nicht bereit ist, das Risiko einer radikalen Weiterentwicklung einzugehen. Irgendwie dürfte ich oder vielmehr dürften wir alle gemeinsam es geschafft haben, den so wichtigen mutigen Schritt der Aufgabe alter Strukturen zu gehen. Im Modell des Heilungskreises braucht es dazu die Übergangsperson, die im Moment der totalen Selbstaufgabe (was Paulo Coelho in „Brida“ die „dunkle Nacht des Glaubens“ nennt) Vertrauen und Mut schenkt, es trotz aller existenziellen Ängste zu wagen. Offensichtlich wird mir das Vertrauen geschenkt, diese Rolle ausfüllen zu können.

Unlängst übernachtete ich bei einer alten Freundin, die mir in einem Nebensatz sagte, ich sei „emotional extrem stark“, und der Satz ist mir hängen geblieben. Mir ist schon lange aufgefallen, dass ich emotionale Ausbrüche in jeder Richtung ganz gut und wertfrei aushalten kann, ohne sie persönlich zu nehmen – wahrscheinlich auch weil ich in meinem Leben immer wieder mit psychisch grenzwertigen Menschen zu tun hatte und habe, und da entwickelt man wohl früher oder später die Fähigkeiten, mit emotionalen Ausbrüchen in jede Richtung umzugehen. Tatsächlich kenne ich wenige Menschen, die es wie ich aushalten können, wenn Kinder oder Jugendliche emotionale Konflikte wirklich austragen und auflösen. Das ist oft mit Schmerz verbunden, selten auch physisch, immer jedoch emotional und ergibt sich bereits aus dem Heilungskreis.

Was in der Folge oft passiert, wenn Erwachsene das Austragen emotionaler Konflikte zwischen Kindern und Jugendlichen selbst nicht aushalten können – eben weil sie es persönlich nehmen und von der emotionalen Tiefe zu betroffen sind dass sie sie aushalten könnten – ist entweder der Versuch der Unterdrückung des Konfliktes durch die eigene Autorität oder ein Sich-Rausnehmen aus dem Konfliktes aus (emotionalem) Selbstschutz. Im ersten Fall wird der Heilungskreis bzw. der Prozess des qualitativen Lernens unterbrochen und behindert, im zweiten Fall besteht die Gefahr der Entstehung von emotionaler Panik.

Emotionale Panik

Wer viel mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, wird vielleicht schon wie ich festgestellt haben, dass diese sich in Anwesenheit von Erwachsenen anders verhalten als in Abwesenheit dieser. Im zweiten Fall gehen sie üblicherweise ein erheblich weniger emotionales Risiko ein und sind verantwortungsbewusster. Für mich bedeutet dies, dass sie sich in Anwesenheit Erwachsener (bzw. einer Vertrauens-/Übergangsperson unabhängig vom Alter) emotional mehr in eine Situation einlassen können, weil sie davon ausgehen, dass diese sie hindurchbegleitet und sie im Notfall emotional hält.

Emotionale Panik entsteht aus meiner Sicht dann, wenn das Vertrauen nicht gerechtfertigt war und die Vertrauensperson den notwendigen sicheren Rahmen nicht halten kann oder will. Dies sind Situationen, in denen dramatischte Verletzungen (emotional wie physisch) passieren können, und meine Hypothese ist, dass sie dort entstehen, wo die Vertrauensperson erst den Eindruck vermittelt hat sie könne mit einer Situation umgehen, diese sich dann überfordert fühlt aber nicht die Autorität verspürt, eine Eskalation zu unterdrücken und in für sie kontrollierbare Rahmen zurückzudrängen. Es macht einen Unterschied, sich aus einer emotional aufgeladenen Situation herauszuhalten, weil man es den Parteien zutraut, dies auch alleine zu lösen, oder sich herauszuhalten (oder noch schlimmer: währenddessen plötzlich herauszunehmen), weil man dabei selbst überfordert ist. Wenn niemand mehr den Rahmen hält, entsteht emotionale Panik, und die Gefahr des Fallens jeglicher Selbstkontrolle und damit einer weitgehenden Unzurechnungsfähigkeit. Emotionale wie physische Verletzungen sind die Folge.

Emotionale Stabilität

Um den Zustand emotionaler Panik nicht aufkommen zu lassen, ist es wichtig, die Grenzen der eigenen Autorität und Fähigkeiten sehr gut fühlen zu können und im Falle einer drohenden Überschreitung rasch zu handeln. Gleichzeitig braucht es auch eine gewisse Fähigkeit an eigener emotionaler Stabilität, um die notwendige emotionale Instabilität anderer während ihrer Entwicklungsschritte ausgleichen zu können. Eine Freundin sagte mir unlängst, ich sei ein Mensch, der „emotional extrem stabil“ sei, tatsächlich meinte sie wohl eher „emotional resilient“, das heißt ich bin sehr gut darin, emotionale Instabilitäten „aufzufangen“.

Möglicherweise spielt jedoch auch ein Faktor eine Rolle, den ich auf Englisch „purity complex“ nennen würde, auf Deutsch fehlt mir noch ein schöner Begriff dafür, vielleicht Ideologischer Komplex im sehr abstrakten Sinne. Beschreiben möchte ich damit das geistige Modell, dass manche Emotionen „gut“ und andere „schlecht“ seien. Mein bisheriges Leben und die vielen Bücher, die ich bisher gelesen habe, haben mich vom Gegenteil überzeugt, nämlich dass Emotionen an sich letzten Endes weder „gut“ noch „schlecht“ sind, sondern einfach nur – sind. Erst die Idee der Einteilung teilt sie ein. Und unterliegen sie erst einmal dieser Einteilung, so entstehen gewisse „dunkle“ Bereiche der Seele, die dem jeweiligen Menschen unerreichbar werden und die damit seine qualitative Entwicklung und Heilung behindern.

Emotionale Stabilität zu vermitteln, Heiler oder Lehrer im Sinne qualitativen Lernens zu sein bedeutet aber auch, dem Anderen gerade jene dunklen Flecken erleuchten, erforschen und durchleben zu helfen. Den Hass, den man schon so lange unterschwellig für einen anderen Menschen fühlt, für einen Moment ausdrücken zu können, um ihn überwinden zu können. Die Angst nicht zu genügen fühlen zu dürfen und spüren zu dürfen dass man damit nicht alleine ist. Vielleicht ist „Erleuchtung“ zu finden ja genau das Durchleben jenes Prozesses in seiner ganzen Radikalität, nämlich das Durchschauen der Illusionen jeglicher Ideologisierung des Lebendigen und Realen und damit den Zugriff wiederherzustellen auf alle „Tasten“ des emotionalen Instrumentariums.

Die Essenz der Hypothese noch einmal zusammengefasst: für bestimmte Entwicklungen braucht es eine Übergangsperson, die die dabei entstehenden notwendigen emotionalen Verarbeitungsprozesse aushalten und kanalisieren kann, und zwar jemanden, der ehrlich und authentisch genug ist, seine eigenen Grenzen anzuerkennen und zu wahren, aber gleichzeitig auch jemand, dessen Grenzen weit genug gesteckt sind, um die notwendige Entwicklung ermöglichen zu können.

Mögliche Konsequenzen der aufgestellten Arbeitshypothesen

Was bedeutet dies nun aber für den pädagogischen Alltag? Nun, es mag sehr „erleuchtend“ sein, sich selbst immer wieder ehrlich zu fragen, welche Art von emotionaler Auseinandersetzung man als Autorität unterdrückt und wie man sich dieses Verhalten vor sich selbst eigentlich rechtfertigt. Hält man das unterdrückte Verhalten bzw. die dazugehörige Emotion für grundsätzlich schlecht, ist das eigene Verhalten also Teil der Durchsetzung einer Ideologie der Eigenart „Gäbe es Verhalten/Emotion X nicht, wäre die Welt ein besserer Ort“? Fühlt man sich selbst mit der jeweiligen Emotion überfordert? In welchen Situationen könnte diese Überforderung mich auch privat in meiner eigenen Entwicklung behindern? Wie könnte ich mir selbst Rahmen schaffen, den Raum meiner emotionalen Stabilität zu erweitern?

Ich bin schon sehr gespannt, wie sich die Situation in meiner Institution weiter entwickeln wird. Derzeit scheint gewissermaßen „der Knopf aufgegangen“  und so etwas wie „Momentum“ entstanden sein, also eine Art Perpetuum Mobile, das, anfangs noch durch meine eigene Anstrengung in Bewegung gebracht, nun von selbst Fahrt aufnimmt und Entwicklung über Entwicklung in Gang setzt ohne dass ich mehr allzuviel aktiv beizutragen habe.

Sehr interessant wäre für mich auch, inwieweit diese Prozesse tatsächlich methodisierbar und damit von anderen auch reproduzierbar und wissenschaftlich aufzuarbeiten wären, da die Persönlichkeit der Akteure eine derart wichtige Rolle zu spielen scheint. Ich kann mir gut vorstellen, dass die exakt gleichen Handlungsweisen, die ich anwende, für andere Menschen zu katastrophalen Ergebnissen führen könnten, da sie immer auch ein gewisses Risiko der emotionalen Panik mit sich bringen und damit ein sehr gutes Gespür auch für eigene Grenzen verlangen

Interessant wäre es für mich auch, ob diese konstruktiven Tendenzen langfristig aufrechterhalten werden können, ob meine „Wirksamkeit“ auf Dauer abnimmt und sich einspielt sowie ob ich diese Prozesse auch in anderen Institutionen und Konstellationen reproduzieren könnte. Ist die Antwort ja, würde das bedeuten, dass ich vielleicht am besten für die Stimulierung eher kurz- bis mittelfristige Umstrukturierungs- und Aufbruchsprozesse geeignet bin, vielleicht eher projektbasiert und befristet auf jeweils einige Monate, vielleicht auch eher in Rand-/beratender Position.

Vor allem auch: handelt es sich tatsächlich um eine Art „natürliche“ Umgangsform, die an meiner Institution gerade entsteht, weil ich die Bedingungen dafür schaffe, ähnlich der „Normalisierung“, die Maria Montessori beschrieben hat, oder handelt es sich nur um eine „logische“ Reaktion auf mein Sein und Wirken? Ist es auch langfristig konstruktiv, diese Umgangsformen aufrechtzuerhalten?

Aber fürs erste bin ich auch erst einmal sehr zufrieden mit meiner aktuellen Position als Leiter der Institution und den vielen schönen Erlebnissen, die tagtäglich in Zusammenarbeit mit meinen Mitarbeitern und den Kindern und Jugendlichen entstehen.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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