In den letzten Wochen und Monaten fand ich mich (wohl auch aufgrund meines teilweise ans Naive grenzenden Glaubens an das Gute in jedem Menschen) beruflich in einer für mich kaum mehr ertragbaren Situation wieder. In gewisser Weise gab es beunruhigende Parallelen zu einer ähnlichen Situation vor etwa einem halben Jahr, und es gab Zeiten, in denen ich ernsthaft hinterfragte, ob ich denn für den Beruf als Lehrer überhaupt geeignet sei. Damals war meine Rolle sowohl formal wie auch informell kaum definiert gewesen bzw. wurde sie von außen mehrmals willkürlich umdefiniert, und es gab keine schriftlichen Anhaltspunkte, dies nachzuweisen. Ich weiß noch, dass ich mir damals sagte, es wäre sinnlos zu kämpfen, weil es nichts gab, worauf ich mich für diesen Kampf beziehen konnte, also ging ich freiwillig. In der aktuellen Situation existierten verbindliche Vorgaben, Gesetze, Lehrpläne, also ließ ich mich auf einen Kampf ein.
Ich möchte hier an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, worum es sich bei diesem Kampf detailliert gehandelt hat – zum Schutz aller Beteiligten einschließlich mir selbst. Es geht mir darum, ein Kriterium zu entwickeln, das bei der Entscheidung helfen kann, welche Kämpfe es sich zu kämpfen lohnen. Da der Energiehaushalt eines jeden Menschen ja sehr begrenzt ist, halte ich diese Frage für wichtig.
Das Kriterium: Gibt es übergeordnete Vorgaben?
In einer Situation, in der die Gruppendynamik sich gegen einen entwickelt oder Vorgesetzte ein Interesse haben, jemanden zu „unterdrücken“, wirkt der Konstruktivismus gegen den Einzelnen: es ist schwer, auf Dauer ein (Selbst-)Bild aufrechtzuerhalten, wenn es beständig von allen (relevanten) Seiten zerpflückt wird. In einem Umfeld, in dem ausschließlich Meinung gegen Meinung steht, setzt sich auf Dauer tendenziell die Mehrheit (also in etwa die Durchschnittsmeinung) durch. Eine Gruppe kann gemeinsam einen solchen Druck aufbauen, dass der Einzelne für sich überhaupt keine Chance hat. Vorgesetzte mit tatsächlicher formaler Macht können einen zusätzlichen Machtfaktor darstellen, sind aber für den Vorgang der Zerstörung des Selbstbildes nicht zwingend notwendig.
Anders verhält es sich jedoch, wenn übergeordnete Vorgaben existieren, denen alle zustimmen (oder denen alle verpflichtet sind, zuzustimmen), etwa Lehrplänen oder Gesetzen. Da diese Vorgaben üblicherweise hierarchisch selbst über den Vorgesetzten anzusiedeln sind, ist es möglich, sich auch in Konflikten mit Vorgesetzten auf sie zu beziehen. Eine Voraussetzung, dass das gut möglich ist, ist die Schriftlichkeit und die Möglichkeit der öffentlichen Einsichtnahme dieser Vorgaben. Beide zusammen verhindern, dass diese Vorgaben nach Bedarf willkürlich abgeändert werden können. Es ist der Grund, warum ich Regelungen und Abläufe gerne schriftlich haben möchte – und vermutlich ebenso der Grund, warum diesem Wunsch kaum je stattgegeben wird.
Eine Metapher: die Funktion übergeordneter Vorgaben
Man könnte sich die Situation, in der sich ein Mobbing-Opfer befindet (der Vergleich der letzten Monate mit der entsprechenden Wikipedia-Seite hat mir dahingehend die Augen geöffnet), folgendermaßen darstellen: ein Mensch treibt schwerelos im Weltraum umher. Plötzlich wird er von äußeren Kräften in eine bestimmte Richtung gestoßen, in die er gar nicht will. Da er jedoch im schwerelosen Raum schwebt, hat er nichts, woran er sich festhalten oder abstoßen kann und muss sich die Behandlung hilflos gefallen lassen. Es ist egal, wie tapfer er kämpft oder wie stark er zuschlagen kann, er wird sich mit jedem Schlag nur selbst weiter dorthin stoßen, wo ihn die äußeren Kräfte haben wollen.
Gibt es jedoch übergeordnete Vorgaben wie Gesetze, Lehrpläne usw., die ihm schriftlich zur Verfügung stehen, so können diese ihm einen gewissen Halt bieten. Wenn seine Füße festen Halt finden, kann er seinen Körper einsetzen, um Kräfte in die Gegenrichtung abzugeben. Er kann sich festhalten und seine Kräfte sammeln, kann aus der Panik in die Strategie kommen.
Dann also Kampf: Vorkehrungen
Wenn das Kriterium der übergeordneten Vorgaben erfüllt ist und der Kampf es wert scheint, ihn auszufechten, gibt es einige Sicherheitsvorkehrungen und Strategien, die sich für mich bisher bewährt haben.
Den Druck weitergeben können. Da ich seit einigen Monaten wieder in einer wunderbaren WG wohne, gab es ohne großen Aufwand immer wieder die Möglichkeit, ausführlich zu reflektieren. Auch Familienmitglieder stellten eine große Entlastung dar. Eine alte Freundin von mir, die sich wohl in einer ähnlichen Situation wie ich befand, wohnt allein und erzählte mir, dass sie sich sozial immer mehr isoliert hatte. Wenn Menschen unter enormen Druck stehen, kann alleine die Aufgabe, jemanden anzurufen, der eine helfen könnte, eine Überforderung darstellen. Mit Menschen zusammenzuwohnen, die ein offenes Ohr und Herz haben, entlastet da massiv.
Expertenrat einholen. Neben intensivem Studium der relevanten übergeordneten Vorgaben (v.A. der Gesetze und Lehrpläne in diesem Fall) war es auch sehr hilfreich, meine Interpretationen jener Vorgaben mit einem Experten gegenchecken zu können – in meinem Fall eine Lehrervertreter.
Ein Leben außerhalb weiterführen. Unter Druck kann es geschehen, dass Menschen sich so sehr auf die Lösung eines belastenden Problems konzentrieren, dass sie vergessen, wie schön das Leben im Grunde sein kann. Es war sehr hilfreich, Musik zu machen, zu schreiben, zu lesen, zu tanzen, zu spielen und all das zu tun, was das Leben lebenswert macht.
Nicht in die Falle tappen, mit gleichen Mitteln „zurückzuschlagen“. Es kann verlockend wirken, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, und frustrierend sein, wenn man feststellt, dass Vorgesetzte ihre Aufgabe nicht so erfüllen, wie man es sich wünschen würde, nämlich ein Umfeld zu schaffen, in dem das Leben von Werten wie Ehrlichkeit oder Integrität eher belohnt als bestraft werden. Wenn man dann feststellt, dass dem nicht so ist, lockt die Möglichkeit, das politische Intrigenspiel ebenso zu spielen wie alle anderen auch. Nur: das ist eine Form der Selbstjustiz, und diese führt üblicherweise längerfristig zu Schwierigkeiten für eine Gemeinschaft. Wenn es notwendig wird, sich sein Recht selbst zu verschaffen, hat der jeweils nächste Entrechtete es noch schwerer, eine Autorität vorzufinden, die ihm diese Aufgabe (deren Erfüllung eine Form der Gewalt darstellt) abnehmen und damit seine Gewaltlosigkeit ermöglichen kann. Der nachhaltige Weg ist es nicht, den „Gegner“ direkt und mit allen Mitteln zu schlagen, sondern erfolgreich eine Autorität einzufordern, die das Einhalten der vereinbarten Spielregeln durchsetzt.
Für etwas Größeres kämpfen als nur das eigene Wohl. In dem Buch „Big River, Big Men“ (sehr empfehlenswert übrigens) fand ich gegen Ende ein Zitat, in dem es sinngemäß heißt: „Wo immer Männer Fackeln tragen, werden sich Männer finden, die sie weitertragen werden“. In dem Buch geht es um die Frage, wer denn der „größte Mann am Strom“ (am Mississippi) sei, und es werden die Lebensgeschichten einiger verwegener Geschäftsleute und Betrüger aufgezeichnet, die es über die Jahrzehnte mit allerhand Gaunereien und Manipulationen zu großer Macht und großem Reichtum bringen – jedoch jeweils mit ihrem Tod der Vergessenheit anheimfallen. Einzig der von allen als hoffnungsloser Fall verlachte Anwalt mit seinem ihn plagenden Gewissen, der immer wieder gegen diese Geschäftsleute verliert, weil er sich weigert, ihre Methoden anzunehmen (bzw. weiterzuführen, anfangs unterstützt er sie, solange es legal ist, aber was „legal“ ist bestimmen die Geschäftsleute mit ihrer Macht, und er beginnt das zu hinterfragen). Er schlägt schlussendlich jegliche Art der Zuwendung durch die Geschäftsleute aus, kämpft also nicht für den persönlichen Gewinn, sondern für das Wohl aller. Das Buch endet damit, dass dieser Anwalt wahrlich der größte Mann am Strom sei. Die Botschaft, die ich daraus ziehe, ist jene, dass derjenige, der nur um sein eigenes Wohl kämpft (z.B. um seinen Job) ein viel geringeres Mobilisierungspotential hat als jemand, der sich für allgemeingültige Werte einsetzt. In meinem Fall wusste ich von einigen ehemaligen Studienkolleginnen, dass sie ähnliche Erfahrungen durchmachten wie ich, aber üblicherweise weniger Freude damit hatten, sich durch Gesetze zu wälzen und damit dem Druck von außen eher hilflos ausgeliefert waren als ich. Auch für sie habe ich gekämpft. Zu wissen, wofür man kämpft, hilft enorm, den Aufwand des Kampfes in Relation mit dem zu erkämpfenden Ergebnis zu setzen.
Sich eingestehen können, wann man verloren hat. Vor einem halben Jahr war ich in einer ähnlichen Situation, aber es gab keine übergeordneten Vorgaben, auf die ich mich beziehen konnte, und der Versuch, diese einzufordern, schlug fehl. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass 90% meiner eingesetzten Energie sinnlos verpuffen würde, und kündigte. In regelmäßigen Abständen sollte man sich wohl fragen, ob es sich noch zu kämpfen lohnt oder ob der Kampf aussichtslos geworden ist und man seinen Kräfte lieber sammelt, um an anderer Stelle weiterzukämpfen.
Warum als friedliebender Mensch überhaupt kämpfen?
Erwachsene Menschen sind im Grunde oft nicht viel anders als kleine Kinder: sie probieren gerne aus, wie weit sie gehen können, ohne an Grenzen zu stoßen. Ich halte nicht viel von „Angriffskriegen“, also absichtlich jemanden schlechtzumachen, aber seine Rechte oder jene anderer zu verteidigen kann notwendig sein. Man muss sich trauen, den Schmerz sichtbar zu machen, wenn der Übergriff schon nicht verhindert werden konnte. Zu oft regiert das schamhafte Schweigen, und die Täter kommen unbestraft davon. Wieder geht es mir nicht vorrangig um ein „Bestrafen“ der Täter, sondern darum, zukünftig ähnliche Fälle zu verhindern. So anstrengend und deprimierend es beizeiten sein mag: manchen Kämpfen muss man sich stellen – und sei es nur aus dem Grund, weil es sonst niemand tut.
Niklas