Über die zwei Rollen des Lehrers in freien Systemen

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Es ist interessant: schon zum dritten Mal mache ich gerade die immer gleiche Erfahrung, und erst jetzt erkenne ich den wahren Grund, warum es gar nicht anders funktionieren kann. Das erste Mal vor drei Jahren, als ich einen Monat lang alleine eine freie Schule am Laufen zu halten versuchte, das zweite Mal letztes Jahr an einer weiteren freien Schule im Norden Deutschlands, an der ich zwar nicht alleine, aber trotzdem unterbesetzt arbeitete, und nun an meiner neuen Arbeitsstelle erneut, an der ich versuche, eine Aufgabe alleine zu stemmen, die in dieser Form unmöglich zu stemmen ist. Lange Zeit dachte ich, ich müsste mich nur ein wenig mehr anstrengen. Aber tatsächlich handelt es sich um ein Problem, das durch Anstrengung allein nicht zu lösen ist: Freies Arbeiten erfordert die Verkörperung von zwei Rollen, die sich gegenseitig ergänzen, aber auch ausschließen. Und damit ist die Mindestanzahl an Gestaltern, die eine freie Schule braucht, zwei.

Die 2 Rollen

Die erste Rolle, die zu verkörpern ist, ist jene, die die Struktur aufrechterhält und damit die Freiräume sichert, in der sich die anderen Akteure bewegen können, eine Art „Polizei“, wenn man so will, wobei die Aufgaben jener Rolle weit über jene der Polizei hinausgehen können. Die Strukturerhalter-Rolle ist jene, die dort eingreift, wo die Struktur selbst und damit die Freiräume aller gefährdet sind, sie ist eine Art „Verfassungsschutz“. Gleichzeitig kann sie aber auch dafür zuständig sein, Veränderungswünsche betreffend der Struktur zwischen den Akteuren auszuhandeln und in konstruktive Bahnen zu lenken.

Die zweite Rolle, die zu verkörpern ist, betrifft die Aufgabe, die durch die Struktur entstehenden Freiräume „mit Leben zu füllen“. Im Vertrauen darauf, dass die Struktur selbst von jemand anderem gehalten wird, kann man nun innerhalb der Struktur so arbeiten, wie man es für richtig hält, und damit anderen ein wichtiges Vorbild sein.

Ich habe es in meiner Laufbahn wiederholt versucht, beide Rollen gleichzeitig oder auch abwechselnd auszufüllen, aber festgestellt, dass damit meist beide Aufgaben nur ungenügend erfüllt werden können. Entweder wird die Struktur dadurch gefährdet, dass man sie mit voller Aufmerksamkeit nutzt, oder die Struktur hält, aber niemand erkennt das volle Potential der dadurch aufgezogenen Freiräume. Es kann Situationen geben, in denen man als Ein-Mann-Team sich nur auf eine Rolle konzentrieren muss, etwa wenn sich alle betroffenen Kinder schon völlig an die Struktur gewöhnt haben und man ihnen nur noch Vorbild sein muss, sie auszufüllen, oder umgekehrt wenn sie genau wissen, was sie tun wollen, und man ihnen nur noch die Struktur halten muss. Aber selbst dann wird man immer irgendwo Abstriche machen müssen.

Arbeitet man in einem Team mit mindestens zwei Menschen, kann sich einer davon jeweils darauf konzentrieren, die Struktur zu halten und weiterzuentwickeln, während der andere sie benützt und damit auch Kinder inspiriert, sie ebenso zu nutzen. Je nach Interessen ist es dann möglich, sich in den Rollen auch abzuwechseln. Ab zwei Menschen gewinnt man auch den Vorteil hinzu, ein Gegenüber zu haben, mit dem man sich absprechen und mit dem man sich gegenseitig reflektieren kann – etwas, was zumindest mir ein großes Bedürfnis ist und mir fehlt, wenn ich es nicht habe.

Die Skalierbarkeit der 2 Rollen

Besonders interessant ist es, sich anzusehen, wie diese Rollen mit dem Größerwerden einer Schule skalieren. Die notwendige Anzahl an Erwachsenen für eine bestimmte Anzahl an Kinder steigt nämlich bei der richtigen Organisation keineswegs linear an. Aus den obigen Gründen ist die Mindestanzahl an Erwachsenen für sinnvolles Arbeiten unabhängig von der Anzahl an Schülern zwei. Das bedeutet, dass selbst für nur 3-4 Kinder (etwa bei der Gründung einer neuen freien Schule) es Sinn machen wird, von Anfang an zwei Pädagogen anzustellen.

Aus der Erfahrung letztes Jahr kann ich jedoch auch sagen, dass die Mindestanzahl an Pädagogen auch dadurch beeinflusst wird, welche räumlichen Gegebenheiten vorzufinden sind. Die Rolle, eine Struktur zu halten, hat auch mit der Fähigkeit zu tun, diese Rolle für bestimmte Areale zu erfüllen. Für ein großes Gebäude mit 3 Stockwerken, einer Turnhalle/Werkstatt und einem großen Außengelände, wie es an meiner letzten Arbeitsstelle war, braucht es in Wahrheit schon eine große Anzahl an Strukturerhaltern, nur um auf dem ganzen Gelände diese Aufgabe erfüllen zu können. Die Architektur eines Gebäudes hat hierbei große Auswirkungen, wie viele Menschen man tatsächlich für diese Aufgabe braucht – ein Grund mehr, sich gut zu überlegen, wo man wie arbeiten möchte.

Die Rolle der Strukturerhalter hat gegenüber jener der Mit-Leben-Füller noch eine weitere Besonderheit: da es zum Teil um Aufsichtspflichten geht und vor allem auch eine gute Abstimmung zwischen den Betreffenden notwendig ist, kann sie nur eingeschränkt von Schülern oder Eltern mitübernommen werden.

Glücklicherweise ist dies für die zweite Rolle nicht der Fall. Diese Rolle ist eine, die durchaus von Schülern, Eltern oder auch externen Personen übernommen werden kann, wenn die Struktur dafür gut gehalten wird. Tatsächlich dürfte es durchaus möglich sein, in einer Schule von beispielsweise 300 Schülern und 20-25 Lehrern einen Teil dieser Lehrkräfte für die Aufrechterhaltung der Struktur „abzustellen“ und den Rest einzusetzen, um die Struktur mit Leben zu füllen – etwa in der Form des offenen Stundenplanes, über den ich schon viel geschrieben habe und der einem Universitäts-System ähnelt. So könnten immer noch gut 15 Lehrkräfte (hoffentlich interessante) Angebote für die Schüler anbieten, aus denen sie wählen können. Durch den Multiplikator-Effekt werden diese 15 Angebote der 15 Lehrkräfte rasch von einigen weiteren von Schülern bereichert, und es ist ohne weiteres möglich, auch externe Personen oder Eltern zu ermöglichen, ihre Stärken einzubringen.

Ein mögliches Potential der bewussten Trennung der 2 Rollen

Was derzeit an Schulen passiert, ist, dass der Großteil der Lehrerinnen (sind ja doch meist Frauen) irgendwie versuchen, beide Rollen für ihre Klassen zu erfüllen und dabei entweder a) genauso scheitern wie ich oder b) ein sehr striktes System einführen müssen, in dem sie immer noch einen großen Teil ihrer Zeit damit aufwenden, Schüler zurechtzuweisen (also scheitern, ohne es zu merken). Ich frage mich, ob es nicht möglich wäre, an Schulen einer bestimmten Größe die zwei Rollen wieder bewusst zu trennen – damit sich die, die sich auf guten Unterricht konzentrieren wollen, auch genau darauf konzentrieren können. Wahrscheinlich würde es reichen, wenn jede Lehrerin nur 1-2 Tage/Woche die Strukturerhalter-Rolle übernehmen würde, um den Rest der Zeit in einer gehaltenen Struktur mit viel weniger Störungen arbeiten zu können.

Vor allem aber würde es ermöglichen, dass ein jeder Lehrer vor allem jene Angebote anbieten könnten, die ihnen wirklich am Herzen liegen oder die sie besonders gut vermitteln können. In einer Schule, in der die Schüler zu Lehrern gehen, um zu lernen, und nicht, weil sie nun mal zufällig in dessen Klasse sind, dürfte es keine große Schwierigkeit sein, auch Schüler verschiedener Klassen zum selben Lehrer gehen zu lassen, wenn sie das wollen. Der Lehrer kann aufgrund der Freiwilligkeit des Besuchs ja Bedingungen stellen, die er benötigt, und die Strukturerhalter-Lehrer kümmern sich darum, dass jene, die die jeweiligen Bedingungen nicht einhalten, auch tatsächlich nicht kommen dürfen. Eines jener Angebote könnte dann das Ablegen von schulweit standardisierten Prüfungen sein (siehe meine Meisterschafts-Tests), und zumindest einige dieser Angebote könnten dann auf das Bestehen dieser Tests vorbereiten oder einen gewissen Raum bieten, einfach nur hier zu sein und sich spüren zu können, etwas, was üblicherweise als Bedürfnis völlig übersehen wird.

Es wäre eine Art Universität für Kinder, die wahrscheinlich mit weniger Raum, weniger Reibereien und (nach einer Eingewöhnungsphase) insgesamt weniger Personal auskommen würde bzw. dieses Personal für andere Aufgaben freischaufeln könnte. Ist es denkbar, so etwas umzusetzen? Ja. Ist es möglich oder sogar realistisch? Ich denke, ja, wenn auch nicht mit einem Schlag. Es wäre nun spannend, mögliche Szenarien zu überdenken, wie man bestimmte Zwischenschritte mit dem derzeitigen System vereinbaren könnte. Vielleicht hat ja einer meiner Leser diesbezüglich eine interessante Idee für mich?

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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