In den letzten Wochen und Monaten habe ich an unserer Schule vieles erlebt, was auf den ersten Blick nur wenig mit unserer pädagogischen Aufgabe zu tun haben scheint und mehr die „Innenpolitik“ einer Institution betrifft. Wenn man – wie ich es für sinnvoll halte – grundsätzlich alles, was in sozialen Systemen ausgehandelt werden muss oder kann, als politische Entscheidung bzw. Folge politischer Entscheidungen oder zumindest Grundeinstellungen betrachtet, lassen sich wohl in jeder Institution zahlreiche politische Prozesse wiedererkennen, deren Analyse in vielerlei Hinsicht wertvolle Vorteile bringen könnte. Im Folgenden möchte ich einige meiner Beobachtungen zusammenfassend beschreiben, in der Hoffnung, daraus auch irgendwann ableiten zu können, wie soziale Systeme am konstruktivsten verändert werden können.
Team-Entscheidungen führen nicht automatisch zu Verhaltensänderungen
Es ist rückblickend betrachtet erstaunlich, wie selten Team-Entscheidungen dazu geführt haben, dass sich alle Team-Mitglieder auch an die jeweiligen Entscheidungen halten. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um eher abstrakte Entscheidungen handelt, die einen gewissen Interpretationsspielraum offen lassen. Immer wieder kommt es dann vor, dass unterschiedliche Team-Mitglieder sich im Konfliktfall auf die gleiche Entscheidung berufen, die sie nur unterschiedlich verstanden haben. Besonders Entscheidungen, die (oft unter Termindruck der vielen noch abzuarbeitenden Punkte) in einer gewissen Eile getroffen wurden, kommen trotz Protokoll dann oft nicht im ganzen Team „an“, sind zwar in abstrakter Form bewusst, führen aber in der Situation dann nicht zu dem beschlossenen Verhalten.
Eine Ausnahme sind ganz konkret durchgeplante Verfahrensbeschreibungen wie etwa die Benützung der Küche mit Hilfe des Küchenführerscheins oder das Verlassen der Schule, für das wir nun mittlerweile ganz klare Verfahren festgelegt haben, für die sogar ein Leitfaden an Fragen, die Schüler zu stellen sind, existiert. Diese Verfahren haben sich vergleichsweise sehr rasch etabliert, wenn auch einige Kollegen in Einzelfällen an jene Verfahren erinnert werden mussten, wenn sie unter Druck entscheiden mussten. Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass es vor allem unter Druck immer wieder dazu kommt, dass Kollegen an den beschlossenen Verfahren vorbeiimprovisieren und somit etablierte Verfahren aushebeln.
Der Schlüssel, um wichtige Verfahren möglichst effizient zu etablieren, dürfte ein möglichst hoher Grad an Konkretisierung von Abläufen sein. In der Praxis hat es sich bewährt, dass in den Teamsitzungen etwa ich den Vorschlag eines Ablaufes zusammenschreibe und meine Kollegen dann noch anmerken, was fehlt. Schriftliche Leitfäden für das Verhalten in bestimmten Situationen, im Idealfall noch räumlich in der Situation präsent (etwa die Raumregeln eines Raumes auch in dem Raum nachzulesen) führen am ehesten dazu, dass sich Verfahren in vergleichsweise kurzer Zeit einprägen und auch umgesetzt werden.
So nebenbei sei auch noch zu erwähnen, dass es teilweise sehr interessant zu beobachten ist, wenn Kollegen auf Schüler wütend werden, weil diese Regeln nicht befolgen, aber doch selbst bei ihren erwachsenen Kollegen feststellen, dass diese sich (vor allem neue) Regeln und Verfahren nicht merken oder einfach nicht beachten. Was als Provokation von Schülern wahrgenommen wird, ist wohl ebenso oft auch einfach Unachtsamkeit geschuldet wie bei den Erwachsenen, und trotzdem wird es anders interpretiert.
Verhaltensänderungen über Vorbild, Autorität oder Einsicht
In der Beobachtung einer Kollegin bin ich zu dem vorläufigen Schluss gelangt, dass es in den meisten Fällen drei Möglichkeiten gibt, auch Schüler dazu zu bringen, sich an gewisse Verfahren oder Beschlüsse zu halten, die ich an ihrer Umkehrung demonstrieren möchte.
Eine erste Möglichkeit ist die einfache Vorbildwirkung. An unserer Schule versuchen wir ja, Organisationssysteme zu nutzen, die Erwachsenen und Schülern gleichermaßen Nutzen bringen sollen, und die Nutzung der Schüler steht und fällt daher mit der Nutzung der Erwachsenen. Ein Beispiel dafür ist unsere Magnettafel mit den Namen von Kindern und Erwachsenen, auf dem es möglich ist, seinen Magneten auf die verschiedenen Bereiche der Schule zu setzen, so dass andere wissen, wo man zu finden ist. In der Theorie sollte diese Magnettafel dazu führen, dass wir Erwachsenen immer ungefähr wissen, wo die Kinder sich befinden, was bei unserem freien Konzept und der Größe der Schule sehr hilfreich wäre, und die Kinder könnten nachsehen, wo andere Kinder und auch wir Erwachsenen jeweils zu finden sind. Nur leider schaffen es viele unserer Erwachsenen nicht, ihre Magneten aktuell zu halten und entsprechend wenig wird die Magnettafel auch von den Kindern benutzt bzw. eher zum Spielen als für den eigentlichen Zweck. In den letzten Wochen haben wir uns als Team die Aufgabe vorgenommen, die Magnete bewusster einzusetzen, und der Effekt auf die Schüler ist deutlich sichtbar. Interessant ist hier zu beobachten, dass es nicht unbedingt auf die Quantität der Erwachsenen ankommt, die ihre Magneten benutzen, sondern eher, wer sie benutzt, und ob es die richtigen Vorbilder sind, etwa die Erwachsenen oder anderen Kinder, die sie besonders respektieren oder gerne haben.
Eine zweite Möglichkeit ist die natürliche Autorität, die über ein gewisses Vertrauensverhältnis und guten Erfahrungen miteinander entsteht. Schüler, die mir aufgrund vergangener Erfahrungen auch dann vertrauen können, wenn ich gerade nicht die Zeit habe, ihnen den Sinn jedes Verfahrens zu erklären, halten sich meist auch ohne Erklärungen an Verfahren. Hier zeigt sich dann oft sehr drastisch, wie die tatsächlichen Vertrauensverhältnisse der Schüler zu den Erwachsenen aussehen. Im Alltag ist es Schülern und Erwachsenen, die sich nicht so gut verstehen, an unserer Schule ansonsten oftmals möglich, sich ganz gut aus dem Weg zu gehen, doch wenn es zu Regelbrüchen oder Missachtung von Verfahren kommt, zeigt sich meist sehr schnell, von wem sich einzelne Schüler jeweils etwas sagen lassen und von wem nicht.
Die dritte Variante, die ich als sehr lohnend empfinde, auch wenn sie aus Zeitgründen leider nicht immer möglich erscheint, ist der Dialog über Sinn und Unsinn von Regelungen oder Verfahren. Einige unserer Schüler beschäftigen sich sehr intensiv mit der Frage, welchen Sinn diese Vorgaben haben, meist noch eher egozentriert (was bringt mir diese Regel?, nicht: Was bringt diese Regel der Gemeinschaft als Ganzes?). Diese Gespräche sind nicht nur deswegen sehr lohnend, weil sie die Argumentationsfähigkeit der Schüler fördern, sie führen oft auch zu interessanten Anregungen, die Regelungen bzw. Verfahren weiter zu verbessern. Außerdem sind sie eine Möglichkeit, Einsicht unabhängig vom situativen Gegenüber zu bewirken, d.h. das Kind folgt einem Verfahren, weil es das Verfahren als sinnvoll erkannt hat, nicht, weil es der Führung eines (bestimmten!) Erwachsenen zu folgen bereit ist. Das reduziert die Chancen beträchtlich, sich in einer Situation mit einem anderen Erwachsenen auf ein Wiederaufbrechen der Konflikte gefasst machen zu müssen.
Vorbild- oder Einsicht-Wirkung kann auch destruktiv/spaltend wirken
In allen drei weiter oben beschriebenen Varianten hat die Veränderung im Verhalten der sozialen Akteure im sozialen System nicht direkt etwas mit Beschlüssen zu tun – dies ist begründet aus der ersten Beobachtung, dass Beschlüsse nicht automatisch zu Verhaltensänderungen führen. Wenn aber individueller Kontakt, ob durch individuelles Vorbild, individuelle Autorität oder individueller Dialog über Sinn und Unsinn von Beschlüssen und Regeln am effektivsten zu Verhaltensveränderungen herbeizuführen scheinen, warum macht es dann überhaupt noch Sinn, um gemeinsame Beschlüsse zu ringen und nicht gleich alles auf der individuellen Ebene zu lösen? Eine mögliche Antwort ist die Notwendigkeit einer gemeinsamen Identität einer sozialen Organisation, eine Art gemeinsames geistiges Fundament.
Ich habe die lange Zeit etwas widersprüchlich scheinende Erfahrung gemacht, dass ich mich oft am effektivsten und konstruktivsten in unser Team eingebracht habe, wenn ich individuelle Gespräche mit meinen Kollegen geführt habe, aber auch gesehen, dass es manchmal, wenn andere ebenso individuelle Gespräche mit Kollegen geführt haben, zu problematischen Spaltungen im Team bzw. der Team-Identität gekommen ist. Ich bin mir bis heute nicht wirklich sicher, was meinen Zugang von jenem spaltenden Umgang unterscheiden mag. Alles, was ich anbieten kann, sind Hypothesen:
Eine erste Hypothese betrifft die Intention, einen gemeinsamen Kompromiss zwischen den Meinungen zu schließen. Normalerweise, wenn ich mit jemandem über meine Ideen oder Beobachtungen spreche, stehe ich zwar zu meiner Meinung, überlasse es jedoch dem anderen, das daraus zu machen, was für ihn passend erscheint. Im besten Fall entsteht dann aus seinen eigenen Erfahrungen und den meinen eine größere, tiefere Sicht der Welt, von der umgekehrt oft auch ich wiederum profitieren kann. Ich freue mich zwar durchaus, wenn ich mich verstanden fühle (und auch den anderen verstehen kann), aber ein Gespräch muss nicht zu dem Ergebnis einer nun gleichen (oder abgeglichenen) Meinung führen. Würde ich nun mit jemandem so lange sprechen wollen, bis wir uns auf eine gemeinsame Meinung geeinigt haben, die möglicherweise in zentralen Punkten von der Team-Identität abweicht, so kann es zu einer Art Wir-gegen-Ihr-Denken kommen, während im ersten Fall ohnehin jeder mit seiner eigenen Meinung nach Hause geht.
Die zweite Hypothese ist die Intention, eine bestimmte Veränderung zu bewirken, die von vornherein feststeht. In den meisten Fällen habe ich eine relativ genaue Vorstellung davon, was ich für richtig halte, aber betrachte so ziemlich alles im Leben als eine Art vorläufige Wahrheit, die sich jederzeit durch neue Informationen anpassen und weiterentwickeln kann. Wenn ich nun ein Anliegen ins Team bringe, dass ich für wichtig und richtig halte, bringe ich jeweils einen Prototyp ein, der in manchen Fällen 1:1 übernommen wird, meist aber nur eine Basis darstellt, die entwickelt werden kann. Der Prototyp steht dabei jeweils als konkrete Manifestation der dahinterstehenden Meta-Gedanken, die ich meistens auch ausformulieren kann. Wenn jedoch ein Dialog gesucht wird, um eine konkrete Veränderung durchzusetzen, ohne die dahinterliegenden Motive sichtbar machen zu können, kann dies rasch zu einer Spaltung führen (ich bin dafür, ich bin dagegen).
Kritik muss kanalisiert werden
Eine weitere interessante Erfahrung ist jene, dass ich an einigen Beispielen, wo dies versäumt wurde und wo wir nun die Folgen zu tragen haben, gelernt habe, dass es sehr problematische Folgen haben kann, wenn es nicht geschafft wird, Kritik oder Bedürfnisse zu kanalisieren. Im Idealfall führt Kritik, ob sie konstruktiv oder eher destruktiv vorgetragen wird, beim Kritisierenden nach einem Gespräch zumindest zu dem Gefühl, wirklich verstanden zu werden. In vielen Fällen sind Verbesserungsvorschläge ja in der Praxis nicht 1:1 umsetzbar, aber genauso oft stehen hinter den konkreten Vorschlägen mehr oder weniger bewusste Bedürfnisse, um die es eigentlich geht. Wenn der Gesprächspartner nun signalisiert, dass er die Bedürfnisse a) erkannt hat, b) wertschätzt und c) sich bemühen wird, die Erfüllung jener Bedürfnisse in einem geeigneten Rahmen erfüllbar zu machen, so führt Kritik rasch zu konstruktiven Verbesserungen.
Wenn es umgekehrt jedoch versäumt wird, Kritik zu kanalisieren, indem sie als ungerechtfertigt abgewiesen (was für die konkrete Kritik oder Verbesserungsvorschläge gelten mag, aber kaum je für die eigentlichen Bedürfnisse dahinter) oder die Bearbeitung für zu lange Zeit aufgeschoben wird, kann dies sehr rasch zu gegenseitigem Misstrauen führen, einer Eskalations-Spirale, die ab einem gewissen Punkt nur noch schwer zu stoppen ist.
Weniger kann mehr sein
Alles in allem stellt sich für mich heraus, dass es sehr wichtig erscheint, Veränderungsprozesse sehr aufmerksam, bewusst und möglichst ohne großen (Zeit-)Druck zu steuern, weil der Aufwand für eine bewusste und sorgfältige Einführung oder Kritik-Bearbeitung bei weitem geringer erscheint als die Folgen zu raschen Handelns.
Zudem erscheint es mir immer wichtiger, in einem sozialen System zumindest eine Person zu haben, die die Fähigkeit hat und innerhalb des Systems auch die Autorität zugesprochen bekommt, die jeweiligen Vorschläge, Kritikpunkte und Bedürfnisse konstruktiv zu kanalisieren. Besonders in sehr informell aufgebauten Systemen wie unserer Schule mit den nicht klar definierten Führungsstrukturen braucht es Menschen, die diese Positionen in den jeweiligen Situationen besetzen können, und es sich auch zutrauen. Es ist für mich erstaunlich, wie selten solche Menschen im Alltag zu finden sind, wenn es tatsächlich um die Wurst geht. Für umso wichtiger halte ich es daher, dass Menschen, die intuitiv spüren, dass sie möglicherweise diese Fähigkeit in sich entwickeln könnten, sich auch mutig in Situationen begeben, an denen sie konstruktives Führen lernen können. Immer, wenn ich mich bisher getraut habe, diese Rolle auszufüllen, hat es sich bisher definitiv gelohnt.
Und die Welt braucht euch vielleicht mehr, als ihr zu glauben bereit seid.
Niklas