Warum machen Prüfungen Angst? Warum brauchen wir sie überhaupt? Und wie können wir Prüfungen so einsetzen, dass sie eine konstruktive Rolle spielen und die Selbstständigkeit und Weiterentwicklung der Lernenden unterstützen?
Prüfungen (in der Folge werden auch „Tests“ als Prüfungen bezeichnet) übernehmen in unserem Bildungssystem eine zentrale Funktion und sind aus ihm kaum wegzudenken. Sie lassen sich jedoch durchwegs auch anders denken – und eröffnen somit interessante Spielräume für pädagogische Innovationen.
Grundsätzlich lassen sich drei Grundfunktionen von Prüfungen unterscheiden:
Eine klassische Schularbeit etwa erfüllt in der Praxis nur die Funktionen der Bewertung und der Selektion. Der Schüler bekommt zwar durch die Beurteilung der Schularbeit auch Feedback zu seiner Leistung, meist hilft ihm dies jedoch nur wenig, weil es nur selten eine Chance zur Wiederholung gibt bzw. das Erstergebnis mit dem zweiten kombiniert wird.
Außerdem ist die Prüfung selbst im Regelfall nur ein Teil eines Benotungs-Systems, das für den Schüler zu unübersichtlich (wenn überhaupt zugänglich) ist, um einen direkten Zusammenhang zwischen Prüfung und ihrer Konsequenz herzustellen. Wohl wird er anhand der Prüfung selektiert, aber er ist passives Objekt der Selektion, das vom guten Willen des selektierenden Lehrers abhängig ist, auch weil ein großer Teil der Leistungsbeurteilung von der subjektiven Einschätzung des Lehrers abhängt (Motivation des Schülers etc.), die der Schüler – wenn überhaupt – nur indirekt beeinflussen kann.
In einer 4. Klasse Deutsch hatten einige Kinder Angst vor ihrer ersten Schularbeit – und kein Wunder! Ein einziger Tag, in einer neuen Situation (Prüfung), sollte maßgeblich über ihre Bewertung in 1 (sehr gut) bis 5 (nicht genügend) bestimmen. Ihre Leistung an diesem Tag stellte die Weichen, ob sie in Zukunft ins Gymnasium oder in die NMS gehen würden, und entschied damit über langfristige Zukunftsperspektiven mit.
Keine Angst mehr vor der Schularbeit
Darum drehte ich als ihr Lehrer die Angst vor der Prüfung einfach auf den Kopf: wir schrieben nun einfach ab der zweiten Schulwoche jeden Freitag eine Schularbeit. Schon vorher hatten die Kinder von mir ein Übersichtsblatt mit Beurteilungskriterien und erreichbaren Punkten bekommen, komplett mit einer Liste an objektiv nachvollziehbaren Abzugsmöglichkeiten.
All diese Schularbeiten wurden von mir im Sinne der Feedback-Funktion von Prüfungen bewertet als wären es „richtige“ Schularbeiten, so dass die Kinder die Chance hatten, durch Experimentieren herauszufinden, wie sie mehr Punkte erreichen konnten. So wurde etwa vor der ersten „richtigen“ Schularbeit, zu der eine Bildgeschichte kommen würde, jede Woche ebenso eine Bildgeschichte geschrieben.
Wenig überraschend hatte sich die gesamte Klasse nach 5 Wochen um im Durchschnitt einen Notengrad verbessert (abgesehen von denjenigen, die ohnehin von Anfang an 1er-Kandidaten waren), und die Angst vor der „echten“ Schularbeit war auch bei den vormals „schlechten“ Schülern verflogen. Warum? Die wöchentliche Schularbeit in dieser Form hatte eine echte Feedback-Situation, die es ermöglichte, sich auf die bevorstehende „richtige“ Prüfungs-Situation vorzubereiten.
Keine Angst mehr vor dem Stoffdruck
Ein ähnliches Konzept verwendete ich, um den restlichen Jahresstoff zu vermitteln. Ich teilte ihn in kleinere und sinnvoll zusammengefügte Einheiten auf, für die jeweils etwa 4-6 Wochen Zeit war, und überlegte mir jeweils am Anfang bereits, wie ich die zu erwerbenden Fähigkeiten am Ende prüfen wollte.
Bevor ich anfing etwas zu vermitteln, ließ ich die Kinder die endgültige Prüfung versuchen. Anhand der Ergebnisse war es mir nun möglich, das vertieft zu vermitteln, was den Kindern noch an Fähigkeiten fehlte, und das auszulassen, was sie ohnehin schon beherrschten. Manche Kinder erreichten bereits 10/10 Punkte, bevor ich überhaupt angefangen hatte ihnen den Stoff zu vermitteln – diese wurden nun weitere relative Meister, die mit mir gemeinsam denjenigen halfen, die noch nicht die volle Punktzahl erreicht hatten.
Da ich die Prüfung (wie die Schularbeiten) von vornherein als eine Art „Blaupause“ durchdefiniert hatte, war es ein Leichtes, aus dieser „Blaupause“ jeweils neue, gleich schwierige Prüfungen zu fertigen, wenn Schüler sich im Lernstoff sicher genug fühlten, um die Prüfung zum jeweiligen Lernblock erneut zu versuchen. Da es nur 1x/Woche nach Anmeldung die Möglichkeit gab, eine Lernblock-Prüfung zu wiederholen, war der Aufwand für mich auch überschaubar. Die Kinder wussten von mir ganz klar, wie sich Schularbeiten, Prüfungen zu Lernblöcken etc. zur Note zusammensetzten, und konnten dadurch durchaus auch „taktisch“ agieren, wenn ihnen ein Lernblock nicht so sehr lag.
Befreiung durch Prüfungen
Weil es den Kindern auf diese Art möglich war, Prüfungen tatsächlich durch eigenes Lernen „auszubessern“, bis sie das Prüfungsziel beherrschten, war die Motivation bei den Kindern groß. Ich erklärte ihnen jeweils nur, was ihre bisherigen Ergebnisse für die Endnote bedeuten würde. Der Wunsch, weitere Prüfungen abzulegen und sich dafür vorzubereiten, ging daraufhin – wo er vorhanden war – von den Kindern aus, weil eine Prüfung noch einmal abzulegen ihnen tatsächliche Vorteile brachte.
Unser sonst üblicher Zugang zu Prüfungen führt eher dazu, dass Kinder einmal „versemmelte“ Prüfungen mit dem jeweiligen Prüfungsstoff in Verbindung bringen und das Gefühl bekommen, sie wären zu dumm dazu, ihn zu verstehen – was vor allem in aufeinander aufbauenden Disziplinen wie Mathematik fatal sein kann, wenn die Basis nicht beherrscht wird und keine Motivation oder auch Möglichkeit besteht, sie sichtbar nachzulernen.
Auf die beschriebene Weise aufbereitet war der „Stoffdruck“, von dem meine KollegInnen stöhnend berichteten, kaum ein Thema für uns. Wir waren zwar im Arbeitsbuch noch nicht weit gekommen, erreichten aber – durch die Prüfungen nachweisbar – bereits nach kurzer Zeit die Endziele der im Arbeitsbuch zur Erreichung der Endziele vorgesehenen Übungen. Anstatt sichtbar zu arbeiten, arbeiteten wir möglichst effizient auf sichtbare Ergebnisse hin.
Es ist bezeichnend, dass Kinder wie Eltern begeistert waren, KollegInnen und meine Vorgesetzte entsetzt. Ich hatte einen Interessenskonflikt für mich zugunsten der Lernenden entschieden, und damit meine Rolle als Lehrer umdefiniert vom mächtigen Selektierenden zu einer Doppel-Rolle als objektiver Prüfer und liebevoller Lernhelfer. Damals war mir noch nicht klar, wie tief diese traditionelle Rolle des Lehrers in Schulsystem und auch Wirtschaft verankert ist, weswegen ich dachte, es reiche, nachweisbar exzellente Ergebnisse mit den Schülern zu erzielen und ihnen dabei auch noch Freude am Lernen zu vermitteln. Warum dies aus heutiger Sicht eine grobe Fehleinschätzung war, darüber werde ich ein andermal schreiben.
Die Trennung von Lernen, Lehren und Prüfen
Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass ich diese drei Aktivitäten voneinander getrennt betrachte. In dem beschriebenen Zugang kann jemand eine Prüfung bestehen, ohne dass ich ihn gelehrt habe, er kann auch ohne mich lernen, oder meine Hilfe in Anspruch nehmen. Dies ist höchst ungewöhnlich in unserem Schulsystem, hat aber massive Vorteile für den Lernenden.
Üblicherweise kann zu einer Prüfung nur dann angetreten werden, wenn man sich vorher über den Prüfungsstoff belehren hat lassen. Für jemanden, der den Prüfungsstoff bereits beherrscht, ist dies aber extrem ineffizient und frustrierend! Diese Verknüpfung von Lehren und Prüfungen hat neben anders ebenso lösbaren organisatorischen Vorteilen einen weiteren Grund: Prüfungen als untrennbar von der Vermittlung von den zu prüfenden Inhalten zu betrachten garantiert die Aufrechterhaltung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen dem Lehrenden und dem zu Prüfenden, macht also das möglich, was wir als unter-richten kennen. Mein bunterrichten-Ansatz stellt diesen völlig auf den Kopf und schafft völlig neue Möglichkeiten.
Die Einführung der Zentralmatura war ein sehr interessanter Schritt diesbezüglich, den ich für sehr sinnvoll halte, weil er objektive Prüfungen und damit eine Öffnung der möglichen Lernwege ermöglicht. Wünschenswert wäre jedoch noch die Möglichkeit, die Zentralmatura jederzeit (gerne auch gegen eine kleine Entschädigung für den Aufwand) ohne vorherigen Kursbesuch abzulegen. Immerhin ist die Matura eine Art Tür-Öffner zum Studium in Österreich, die v.A. vielen Lehrlingen verschlossen bleibt (Ausnahme: Lehre mit Matura). Was uns zum nächsten Punkt bringt:
Prüfungen als Tür-Öffner für bestimmte Rechte
Es macht durchaus Sinn, dass in Österreich nur jene Menschen Auto fahren dürfen, die über eine Prüfung bewiesen haben, dass sie das notwendige praktische Können und theoretische Wissen erworben haben.
Was würde passieren, wenn wir ähnlich wie beim Erlangen des Führerscheines in Schulen bestimmte Vor-Rechte davon abhängig machen, durch eine Prüfung die notwendigen Voraussetzungen bewiesen zu haben? An einer freien Schule, an der ich gearbeitet habe, wurde mit Hilfe eines sogenannten „Zertifikat-Systems“ genau dieses Konzept umgesetzt. Je nach Zertifikat-Level war es Schülern erlaubt, sich in verschieden großen Freiräumen zu bewegen. Wer etwa nur das Zertifikat Z1 aufwies, durfte sich nur innerhalb der Schule frei bewegen, mit Z2 war auch der Garten inkludiert und mit Z3 durfte man sich unter gewissen Bedingungen auch außerhalb des Schulgeländes bewegen, etwa um für die Werkstatt Material einzukaufen.
Muss erwähnt werden, dass die Kinder die Zertifikats-Stufen im Großen und Ganzen gut respektierten, und sehr motiviert waren, sich erweiterte Freiräume über ein Ablegen der entsprechenden Prüfungen zu erlangen? Der Vollständigkeit halber: bei schweren Verstößen gegen die im jeweiligen Zertifikat verlangten Verhaltensweisen konnten Zertifikats-Stufen auch eine Zeit lang oder ganz entzogen werden (wie man es vom Führerschein auch kennt).
Wie oft werden an Regelschulen Prüfungen als Tür-Öffner für bestimmte Rechte eingesetzt, die sofortige und direkt spürbare Konsequenzen für den Schüler mit sich bringen? Derzeit ist ein selbstständiges Lernen allein (etwa aus Büchern oder durch eigene praktische Erfahrung) kaum in gesellschaftlich anerkannte Rechte umwandelbar. Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir die Trennung von Vermittlung und Prüfung vorantreiben – würden wir dadurch nicht selbstständiges Lernen massiv aufwerten?
Die Kernfrage: bin ich als Lehrer bereit, meine Rolle zu hinterfragen?
Prüfungen als Tür-Öffner-Funktion sowie als Feedback einzusetzen setzt eine bestimmte Haltung voraus, die davon ausgeht, dass Lernen und Entwicklung eines jeden Menschen jederzeit möglich ist. Diese Haltung besagt, dass ein Mensch bei einer Prüfung zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Punktezahl erreicht haben mag, aber dass es nicht notwendigerweise dabei bleiben wird, und dass er sein Leben lang Entwicklungspotentiale in sich hat.
Diese Haltung setzt auch voraus, dass sich der Lehrende/Prüfer erlaubt, einen Teil seiner Kontrolle und Macht aufzugeben und in die Hände der ihm anvertrauten Lernenden zu legen. Wer diesen Mut besitzt, wird wie ich überrascht sein, was dadurch plötzlich alles möglich wird – u.A. wachen dieselben Kinder, die vormals unter der Schule litten, dann – laut Rückmeldung der Eltern – morgens auf und freuen sich auf den Schultag…
Niklas