Seinen Meister finden

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Heute habe ich etwas Neues gelernt. Über Beton. Dass Beton deswegen, wenn es regnet, nicht wieder flüssig wird, weil seine Herstellung ein chemischer Prozess ist, der, wenn er hart ist, bereits abgeschlossen ist. Wahrscheinlich habt ihr es schon alle gewusst. Vielleicht stimmt es nicht einmal. Ich fand es trotzdem interessant, und zudem ist mir dadurch aufgefallen, dass auch Kochen ein chemischer Prozess ist. Erklärt hat mir das ein Freund beim Mittagessen. Ein Freund, der weder eine pädagogische noch eine sonstige abgeschlossene universitäre Ausbildung hat. Dies mag nicht sehr aufregend erscheinen, aber dahinter verbirgt sich eine interessante Fragestellung: Warum sollen Schüler in der Schule nur von ausgebildeten Experten (Lehrern) lernen und so wenig voneinander?

Zwei Unfreiheiten

In einer Klasse mit 25 Schülern und beispielsweise einem Mathematiklehrer, die lehrerzentriert arbeitet, werden zwei Freiheiten, deren Untergrabung im alltäglichen Informationsaustausch (und Lernen) absurd erscheinen würde, untergraben: die Freiheit, jemanden zu fragen, der für kompetent gehalten wird, und die Freiheit dieser Person, die Frage zu beantworten oder dies nicht zu tun.

Es wäre vermutlich absurd, würde ich, um die aktuelle Zeit zu erfahren, nur zwei von 200 Personen, die an der Bushaltestelle warten, fragen dürfen. Ähnlich absurd wäre es, wenn diese Personen verpflichtet werden würden, mir mitzuteilen, wie spät es ist, ob sie wollen oder nicht. Vielleicht bin ich ihnen unsympatisch. Vielleicht haben sie nicht einmal eine Uhr. Und doch werden diese beiden Freiheiten in der Schule aufgehoben. Während man Lehrern noch vorwerfen kann, sie hätten sich diese Arbeit ausgesucht, haben Kinder und Jugendlichen hier aufgrund der Schulpflicht weniger Wahlfreiheiten.

Relative Meisterschaft

Dem gegenüber möchte ich das Konzept der relativen Meister vorschlagen. Relativ gesehen gibt es in allen Bereichen Menschen, die bereits mehr und tiefergehende Erfahrungen als ich selbst haben, und Menschen, denen ich voraus bin. Die erste Gruppe sind meine potentiellen relativen Meister. Ich selbst kann relativer Meister für die Menschen in der zweiten Gruppe sein. Alleine innerhalb einer Schulklasse ergibt sich daraus ein weitverzweigtes Netz an Möglichkeiten, sich gegenseitig weiter zu bringen. Der Lehrer ist (hoffentlich) selbst ein relativer Meister für andere in einigen Bereichen, kann aber in anderen Bereichen seine Schüler als relative Meister für ihn betrachten. Dies hat mehrere mögliche Folgen.

Die Befreiung der Meister

Zum einen erleichtert diese Sichtweise, die eingangs erwähnten Freiheiten sowohl für den Lehrer als auch die Schüler zurückzuerobern. Wenn der Lehrer realisiert, dass er nur einer von vielen möglichen relativen Meistern für seine Schüler ist, kann er ihnen ermöglichen, ihre eigenen relativen Meister für ihr persönliches Fortkommen zu wählen. Dies kann er selbst sein, aber auch andere Schüler, Erwachsene, Bücher, Videos und andere Quellen.

Diese Wahlfreiheit seiner Schüler ermöglicht seine eigene Befreiung von der Verpflichtung, der Meister seiner Schüler sein zu müssen. Es gibt Beziehungen zwischen Menschen, die einen Dialog schwierig machen, seien es sprachliche, kulturelle Barrieren oder persönliche Differenzen. In einer regulär geführten Schule wird ein Lehrer versuchen, diese Differenzen zu unterdrücken, mit allen oft negativen Auswirkungen. Eine Schule, die akzeptiert, dass ein relativer Meister nicht zwingend der Lehrer sein muss, ermöglicht es diesem, ehrlich einzugestehen, dass er und ein Schüler keinen für beide fruchtbaren Dialog zustande bringen und sich dieser Schüler daher besser einen anderen relativen Meister suchen sollte.

Meisterschaft als fortwährender Prozess

Zudem verschiebt sich die Definition von Meisterschaft von einem abgeschlossenen Zustand zu einem fortwährenden Prozess. Mein Meister kann sein, wer bereits erfahrener ist als ich, aber wenn dieser Meister aufhört, sich weiterzuentwickeln, werde ich ihn überholen und relativ gesehen sein Meister werden. Noten oder Abschlüsse sind dafür unerheblich. Wer mehr Erfahrung als ich hat und (auf Anfrage) gewillt ist, diese Erfahrungen weiterzugeben, ist mein relativer Meister. Meine Aufgabe als Schüler ist es dann, die jeweils für meine eigene Entwicklung förderlichen relativen Meister (aufzu-)suchen, um selbst zunehmend ein relativer Meister für andere zu werden. Als Subjekt meine eigene Geschichte zu schreiben, wie mein grosser relativer Meister, Paulo Freire, einst schrieb.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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