Gestern Abend brachte ein Mitglied des „Pädagogischen Quartetts“ im Rahmen der langen Nacht der Forschung eine Idee auf, die es wert ist, hier aufgegriffen zu werden: Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, wir wüssten, wer der Andere ist oder was dieser Andere braucht. Nur, wenn wir annehmen, dass wir möglicherweise nicht wissen, was der Andere braucht, kann Dialog entstehen. Und bereits vor knapp 50 Jahren schrieb ein Brasilianer namens Paulo Freire über die Wichtigkeit des Dialoges in der Pädagogik. Dass dies in einer Militärdiktatur nicht sonderlich gern gesehen wurde und er jahrelang nach Chile ins Exil geschickt wurde, unterstreicht nur das demokratische Potential der dialogbasierten Pädagogik.
Das Recht, eine Meinung zu haben, die sich von deiner Meinung unterscheidet
Um mit einem Kind einen Dialog führen zu können, muss ich nicht nur annehmen, nicht alles über dieses Kind zu wissen. Ich muss ihm auch ein Recht auf eine eigene Meinung gewährleisten, weil ansonsten zwar ein Gespräch zwischen zwei Menschen stattfindet, diese zwei Menschen sich jedoch nicht sonderlich viel zu sagen haben werden.
Das Recht auf eine eigene Meinung bedeutet jedoch nicht gleichzeitig das Recht, die eigene Meinung auch bedingungslos durchsetzen zu können. In dem Moment, in dem sich mehr als ein Mensch in einem Raum befindet, begeben wir uns auf eine politische Ebene. Nicht im Sinne von institutionellen Strukturen und Wahlrechten, sondern im Sinne von kollektiven Entscheidungsfindungs- und Umsetzungsprozessen. Innerhalb einer gut funktionierenden staatlichen Demokratie ist es möglich, demokratisch, diktatorisch, totalitär oder sonstwie kreativ organisierte Räume zu schaffen, und eine Schulklasse oder Schule ist in seiner Struktur ein Raum mit einem solchen Potential, wie an der teils sehr unterschiedlichen Atmosphäre von Schulklassen beobachtbar ist.
Der politische Lehrer
Ein Lehrer, (hoffentlich) Vorbild seiner Schüler, muss sich selbst als politisches Individuum wahrnehmen, wenn er dieses politische Bewusstsein über die eigenen Selbstwirksamkeit auch bei seinen Schülern erwecken will. Dies bedeutet, dass er die von außen auferlegten Einschränkungen und den von außen erzeugten Druck zwar wahrnimmt, ihm jedoch nicht unkritisch erliegt. Dem Druck und den Anforderungen von außen stur zu folgen, würde ihn zum Manager degradieren. Doch ein guter Lehrer ist neben einem Manager und Organisator immer auch ein Politiker in dem Sinne, dass er Visionen hat, die er umzusetzen gedenkt.
Als Politiker, der den kleinen Raum, den seine Schule darstellt, (mit-)gestaltet, wird der Lehrer früher oder später gezwungen sein, Netzwerke aufzubauen, um auch auf den von außen kommenden Druck nicht nur managend, sondern auch gestaltend wirken zu können. So wird er sich vielleicht mit den Eltern seiner Schüler zusammensetzen und mit ihnen gemeinsam Lösungen herausarbeiten, oder mit seinen Kollegen gemeinsam überflüssigen Arbeitsaufwand reduzieren, indem die Zusammenarbeit verbessert wird. Möglicherweise entsteht sogar eine Informations-Kampagne zu den an der Schule erfolgreich angewandten Methoden, um die öffentliche Akzeptanz und Wahrnehmung zu verbessern.
Politischen Vorbilder?
Wie sollen Kinder und Jugendliche politische Mitbestimmung lernen, wenn sie nur von gestressten Eltern und Lehrern umgeben sind, die dem Druck der Wirtschaft hilflos erliegen? Dem Druck, über den wir uns dann von den Stammtischen bis hin zur sogenannten Elite beschweren, dass er immer größer werde, gegen den dann doch nur so wenige das einzig mögliche Mittel einsetzen wollen: die Entscheidung, etwas anders zu machen, zu gestalten anstatt nur immer knapper werdende Ressourcen zu verwalten. Da wird sich dann aufgeregt über die „Unfähigkeit der Politiker“, anstatt zu realisieren, dass Politik im Grunde nichts anderes ist als gemeinschaftliche Gestaltung dieser Welt und wir keine hochdotierten Gehälter dafür brauchen, diese Welt mitzugestalten. Wir alle sind politische Individuen, sowie wir Menschen sind. Wenn wir all diese politische Macht zur Mitbestimmung auslagern wollen, sollten wir uns nicht sonderlich aufregen oder wundern, dass diese Macht oft kontraproduktiv eingesetzt wird.
Lehrer und Lehrerinnen wird von der Gesellschaft die Verantwortung für eine eigene „kleine Welt“ in Form einer Schulklasse überlassen. Wir sind verantwortlich für diese kleine Welt, und der Druck von außen ist da keine zulässige Ausrede, nur Auftrag an den Diplomaten in uns, dort Abhilfe zu schaffen, wo es unsere Schüler-/innen aufgrund ihrer nachteiligen Situation in der Gesellschaft noch nicht selbst schaffen können.
Kinder als ein selbstständige politische Individuen anzunehmen, setzt voraus, auch uns selbst als selbstständiges politisches Individuum annehmen zu können. Sind wir bereit, Verantwortung zu übernehmen? Sind wir bereit, zu gestalten, anstatt stets nur zu verwalten und darauf zu achten, dass alles funktioniert? Dazu braucht es eine gehörige Portion Mut und Durchhaltevermögen. Diese Welt braucht auch eure Vision von einer anderen Welt. Also lasst euch nicht unterkriegen. Sprecht darüber und gestaltet sie gemeinsam.
In all den bunten Farben und Formen.
Niklas