Eine der besten Entscheidungen, die ich in meinem Leben jemals getroffen habe, war es, mich mit der Kampfkunst Tai Chi zu beschäftigen. Obwohl ich mit Sicherheit kein wie auch immer gearteter Meister jener Kunst bin, faszinieren mich die in körperliche Bewegungsmuster übertragenen philosophischen Konzepte dahinter – vor allem aber die Verknüpfungen und Übertragungen, die sich mit anderen Lebensbereichen herstellen lassen. Im Folgenden möchte ich eine Beobachtung beschreiben, deren Wurzeln sich zum einen in jener Kampfkunst, in der Beobachtung der Natur von Pflanzen, menschlichem Lernen wie auch den Aufbau menschlicher romantischer Beziehungen wiederfinden. In gewisser Weise handelt dieser Artikel auch von Burnout-Prävention.
Die Wurzeln der Erkenntnis 1: Tai Chi
Eines der faszinierenden Konzepte im Tai Chi ist es, nicht oder kaum mit dem Aufbau eigener Muskelenergie zu arbeiten sondern mit der Ausrichtung des Körpers auf eine Weise, die von außen herangetragene Energie in den Boden ableiten kann. Dort erzeugt jene weitergeleitete Kraft eine entsprechende Gegenkraft, die wiederum in den Angreifer zurückgeleitet wird. Je fester dieser also zuschlägt, desto mehr wird er sich selbst verletzen. Was für den Tai Chi Praktizierenden dafür notwendig ist, ist zu lernen, seinen Körper möglichst so auszurichten, dass die durch den Körper geleitete Energie möglichst wenige Reibungsverluste erzeugt. Nicht nur verringert ein jeder Reibungsverlust die über den Boden umkehrbare Energie, diese „Reibung“ kann auch im Körper zu Belastung, Stress und damit zu Verletzungen führen. Dabei darf der Körper weder schlapp noch zu angespannt sein. Ist er zu schlapp, so ist die Auswirkungen der Kräfte nicht kontrolliert leitbar, ist er zu angespannt, gibt es meist irgendwo Punkte, an denen sich die Energie „staut“, was zu Verletzungen führen kann. Ich bin noch lange nicht an einem Punkt angelangt, an dem ich einen gut geführten Schlag kontrolliert an den Boden weiterleiten kann, aber in anderen Lebensbereichen sind die positiven Auswirkungen des Prinzips durchaus bereits körperlich spürbar, indem ich mit weniger eigenem Kraftaufwand effektivere Ergebnisse erzielen kann.
Ein weiterer interessanter Faktor im Tai Chi ist jener, dass es stark darauf ankommt, sensibel für seine Umgebung zu sein. Da wenig mit der eigenen Kraft und sehr viel mit Hebelwirkungen gearbeitet wird, ist es essentiell, den richtigen Hebel an der richtigen Stelle im richtigen Moment und mit der richtigen Geschwindigkeit anzusetzen. Das bedingt eine erhöhte Aufmerksamkeit für den jeweiligen Gegner, aber auch für den eigenen Körper. In gewisser Weise ermöglicht es diese erhöhte Aufmerksamkeit sogar, ein Stück weit „in die Zukunft zu schauen“, da sich zukünftige Bewegungen meist schon in der Gegenwart ankündigen – ein unschätzbarer Vorteil in einer Konfliktsituation.
Und letztens arbeitet die Kampfkunst stark mit der (körperlichen) Intuition. Anstatt in der Konfliktsituation selbst zu planen, welcher Schlag wann geführt werden muss, wird der Kopf weitgehend ausgeschaltet, um a) der fühlenden Intuition nicht im Weg zu stehen und b) die notwendigen Bewegungen sensibel und schnell ausführen zu können. Der Körper erspürt – wenn man ihn denn lässt – den richtigen Moment und die richtige Bewegung, wenn er sich mit seiner Umgebung eingestimmt hat. Es ist ein Phänomen, das mir auch als Lehrer immer wieder auffällt: wenn ich es meinem Körper und meiner Intuition überlasse, kritische Situationen zu lösen (etwa einen potentiell gefährlichen Konfliktfall zwischen Kindern) so funktioniert das immer. Fängt der Kopf an zu überlegen, wie ich handeln sollte, klappt es bedeutend seltener. Ich bin mir nicht sicher, warum dies so ist, vermute aber, dass das rationale Denken aus dem Problem (und damit den Menschen, die es betrifft) ein von ihm getrenntes Objekt auffasst, was dazu führt, dass die Intuition des Moments verloren geht.
Die Wurzeln der Erkenntnis 2: Pflanzenwachstum
Seit einigen Wochen haben wir nun auf dem Balkon unserer WG nun ein Hochbeet, und ich beschäftige mich beinahe täglich mit unseren Pflänzchen. Es ist sehr lehrreich, Pflanzen beim Wachsen zu beobachten. Sobald sie einige grundlegenden Voraussetzungen vorfinden (Erde, Sonne, Wasser, ein wenig Platz), wachsen sie drauflos, und obwohl ich als „Gärtner“ einige beeinflussende Mittel zur Hand habe, ist es nicht nur von mir abhängig, ob und welches Ergebnis herauskommt. Beispielsweise haben wir zwei Kohlrabi-Pflanzen nebeneinander eingesetzt, und eine Pflanze ist bereits beinahe erntereif, die andere ist noch kaum gewachsen. Oder wir waren überrascht, im zweiten Stock auf dem Balkon plötzlich Nacktschnecken vorzufinden. Eine jede Pflanze, auch wenn sie gewisse Ähnlichkeiten mit ihren Schwesternpflanzen aufweist, ist ein Individuum, dass sich abhängig von seinen Anlagen, der Umgebung und vielleicht auch aufgrund der Folgen eigener Entscheidungen entwickelt. Sie hat – wie Montessori für die Entwicklung von Kindern beschreibt – eine innere Anlage, aber diese innere Anlage ist eher ein Prototyp als eine Festlegung.
Vor allem aber lehrt das Pflegen von Pflanzen aber Geduld. Ich kann einer Pflanze einzelne Blätter oder Triebe ausreißen, um sie in bestimmte Richtungen wachsen zu lassen, ich kann sie düngen, anders bewässern, umpflanzen – aber ich kann sie nicht heranziehen im Sinne eines tatsächlichen „Ziehens“. Was ich tun kann, ist ihr einen Raum zu schaffen, in den hinein sie sich freudig entwickeln kann, ich kann ihre Wachstumsbedingungen fördern, aber nicht ihr Wachstum selbst kontrollieren. Sie wird wachsen, wenn sie dazu bereit ist, auch wenn der Chef einer angenommenen Weltregierung es anderweitig bestimmen sollte. In diesem Sinne lehrt das Pflegen von Pflanzen auch Demut.
Die Wurzeln der Erkenntnis 3: Die Entwicklung von Kindern
Vor etwa eineinhalb Jahren besuchte ich eine Fortbildung zur Pikler-Pädagogik in Deutschland, die mich in vielen Belangen stark beeinflusst hat, vor allem aber mit dem Bild der Spätfolgen forcierter Entwicklung. In jener Fortbildung wurde das Bild eines kleinen Jungen gezeichnet, der beinahe soweit ist, selbstständig gehen zu können. Die Eltern, freudig erregt über die bevorstehende Entwicklung, nehmen ihn nun immer wieder bei der Hand, bis er mit ihrer Hilfe tatsächlich gehen kann. Stolz führen sie die Fähigkeiten ihres Nachwuchses den befreundeten Eltern vor, und nach einigen Wochen beständigen Trainings geht der Junge tatsächlich auch allein. Jahre später, der Junge ist zu einem Mann herangewachsen, werden bei ihm massive Fehlhaltungen festgestellt, die er sich als Junge antrainiert hat, um den Erwartungen, vor seiner Zeit schon gehen zu können, entsprechen zu können.
Ähnliche Beispiele lassen sich nicht nur auf körperlicher sondern auch auf geistiger Ebene finden. Ich bin dabei nicht der Ansicht, dass es an sich negativ für die Entwicklung eines Kindes sein muss, wenn es mit Überforderungen konfrontiert ist (z.B. ein Kind, das mit einem bestimmten Spielzeug noch absolut nichts anzufangen weiß). Auch kann es durchaus sinnvoll sein, wenn etwa ein Erwachsener für eine Weile dem Kind über eine schwierige Situation hilft. Wichtig ist es dabei jedoch, die für die langfristig erwünschten Ergebnisse wichtigen und für das Kind überschaubaren Zwischenziele nicht aus den Augen zu verlieren. Beispielsweise habe ich an einer anderen Schule bei einem Schüler der 3. Klasse Volksschule festgestellt, dass dieser noch kaum bis 20 zählen kann. Mit der Aufgabe, im 100er- oder gar im 1000er-Raum zu rechnen, war er heillos überfordert. Also habe ich ihm angeboten, ihm einen Test im 20er-Raum maßzuschneidern, den er jederzeit machen kann – im zweiten Versuch hat er ihn auch geschafft. Am nächsten Tag wollte er dann von mir einen für den 30er-Raum. Als ihm die Möglichkeit geboten wurde, in eigenem Tempo zu wachsen, war er dazu offenbar bereit.
Die Wurzeln der Erkenntnis 4: romantische Beziehungen
In meinem Bekanntenkreis befinden sich viele Menschen, die sich für verschiedenste Formen von offenen Beziehungen interessieren – entweder, um auf diese Weise den einen „passenden“ Partner zu finden, weil sie sich nicht binden wollen oder aus weiteren Gründen. Die einen verwenden technische Hilfsmittel wie Tinder (bis hin zu automatischen „Match-Apps“), die anderen proklamieren eine Kunst, deren Inhalt es sei, möglichst rasch eine Frau (oder einen Mann) ins Bett zu bekommen. Wenige von ihnen erscheinen mir glücklich über den Moment des „Erfolgs“ hinaus. Viele von ihnen tüfteln immer wieder an ihren Gesprächsideen, die sie dem anderen Geschlecht näher bringen sollen, oder versuchen zu lernen, was ihnen noch fehlt, um bei jeweils anderen zu landen. Wieder andere, eher klassisch orientiert, malen sich ihr Bild einer funktionierenden Beziehung und sind dann irgendwann frustriert, dass der Partner dem nicht so ganz entspricht. Dann verlassen sie ihn irgendwann, gehen fremd oder bleiben auch einfach in ihrer Frustration.
Irgendwann ist mir aufgefallen, wie sehr jene Verhaltensweisen jenen im Tai Chi widersprechen, und habe mit den Konzepten der Kampfkunst experimentiert. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich – etwa wenn ich eine attraktive Frau sehe – meine inneren Verkrampfungen spüren kann, sobald ich dies zulasse. Anstatt also meinen Kopf einzuschalten und mir einzureden ich müsste jetzt da hingehen und sie ansprechen, kann ich eine jede solche Situation auch nützen, um meine eigenen Hemmnisse kennenzulernen. Ich muss sie nicht ansprechen, auch wenn sie sich offensichtlich zu mir hingezogen fühlt und ich mich zu ihr. Ich kann etwas wachsen lassen und mich überraschen lassen, welche Blüten und Früchte es tragen wird. Ich kann spüren lernen, wo in dieser Verbindung Reibungsverluste entstehen, und lernen, meinen Körper und meine Seele entsprechend so auszurichten, dass wachsen kann, was für mich und andere wunderbare Früchte bringt. Vor allem aber verhindert jener Zugang, etwas „heranziehen“ zu wollen, wofür ich oder die andere Person (noch) gar nicht bereit sind. Etwa diverse bedenkenlose One-Night-Stands, aus denen dann für eine Seite Beziehungen entstehen sollen und wo sich jene Seite betrogen fühlt. Nichts gegen sexuelle Abenteuer an sich – aber für mich sollte im Idealfall die von beiden Seiten geschenkte sexuelle Energie nicht in unnötigen inneren „Reibungsverlusten“ wie der forcierten Überwindung von Scham, Schuld usw. vergeudet werden – da ist die entsprechende Energie vielleicht besser aufgewendet, den Ursachen jener Reibungsverluste auf die Spur zu kommen.
Die Knospe der Erkenntnis: Das Modell an sich
Kommen wir nun zu dem aus jenen Wurzeln abstrahierten Modell, um das es mir in diesem Artikel geht. Es ist – wie alle meine Aufzeichnungen hier auf diesem Blog – als vorläufiges Modell, als Prototyp zu sehen, weswegen ich es als eine Art „Knospe“ betrachten würde, als Vorläufer einer Blüte oder vielleicht auch einst einer köstlichen Frucht.
Im Grunde geht es mir um die Beschreibung des Prozesses vom Wollen zum Erreichen, sei es in körperlicher Form, in mentaler, sexueller oder in spiritueller. Was in all jenen Prozessen stattzufinden scheint, ist eine Art geistiges „Vorangehen“ des Willens, dem der Körper folgt – entweder in dem der Wille sich dazu eine bestimmte Vorgehensweise überlegt oder in dem er es den Körper erlaubt, dem Willensstrom entsprechend zu folgen. In der Ausführung des Willens entstehen aufgrund geistiger wie körperlicher Prägungen „Reibungsverluste“, die dazu führen, dass die Vorgaben des Willens nicht oder nur unter zusätzlichen Anstrengungen erfüllt werden können. Forcierte Willenserfüllung führt dabei einerseits zur Gefahr von Überanstrengungen (-> Burnout), andererseits zur Gefahr von Kompensationen, um trotz gegenläufiger Prägungen bestimmte Entwicklungen vorantreiben zu können. Man kann sich den Ablauf in etwa so vorstellen, dass durch vorangegangene Prägungen ein Mann Schmerzen hat, auf dem rechten Fuß aufzutreten. Weil er sich aber nicht die Zeit nehmen will, den Fuß verheilen zu lassen, läuft er eben auf Fuß-schonende Weise umher, bis er sich im Laufe einiger Tage einen hinkenden Gang antrainiert hat. Daraufhin besorgt er sich besondere Schuhe, die den Gang ausgleichen sollen, was dazu führt, dass er seine Hüfte falsch belastet, usw. – ähnliches geschieht auch in nicht-körperlichen Belangen. Anstatt genau hinzufühlen, wo die Vor-Prägungen wirksam werden, die die „innerbetriebliche“ Reibung und damit den Energieverlust erzeugen, wird versucht, durch zusätzliche Anstrengung oder verschiedenste Arten von „Krücken“ einen Ausgleich zu schaffen.
In jenem Modell wäre ein konstruktives Vorgehen in etwa Folgendes: Ich spüre in mir ein Verlangen nach etwas, und spüre genau hin, was meinen Körper oder Geist daran hindert, diesem Verlangen nachzugehen. Wo genau entsteht innere Reibung? Vielleicht erlaube ich mir als ersten Schritt, dem Verlangen ein kleines Stück nachzugeben – was passiert dabei mit mir? Spüre ich Reibungsverluste? Ist der innere Widerstand in diesem Moment konstruktiv und sinnvoll (etwa, weil er mich oder andere vor negativen Konsequenzen meiner Handlungen schützen will), und wenn er es nicht ist – kann ich ihn als Teil meiner Geschichte trotzdem wertschätzen und ihm Raum geben, so dass er sich gehört fühlt, ohne mein Handeln aus dem Untergrund dominieren zu müssen?
Ich habe das Beispiel weiter oben mit der Sexualität deswegen erwähnt, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass das Fühlen von Widerständen und Reibungsverlusten beim Eingehen tieferer Verbindungen mit anderen Menschen auch im jeweils anderen möglich ist. Ein einfühlsames Eingehen auf diese Widerstände und damit auf die authentische Geschichte des anderen kann helfen, eben jene Widerstände zu überwinden, wo dies sinnvoll erscheint. Ein wahrhaftiges Ich sehe dich hinter deinen Masken kann Wunder wirken und weit über die Kategorien der üblichen gesellschaftlich akzeptierten Muster tragen. Was wir uns gegenseitig zu schenken haben, findet sich nicht in den Symbolen, mit deren Hilfe wir kommunizieren – jene können nur Schlüssel sein, die uns die Türen zur Seele öffnen, nur die Form, nie Inhalt.
Das hier beschriebene Modell lässt sich in mindestens zwei Anwendungsgebieten verwenden: der eigenen Weiterentwicklung und der Arbeit mit anderen Menschen. Für die eigene Weiterentwicklung kann es hilfreich sein, sich auf das Erspüren der eigenen inneren Reibungsverluste einzulassen und diese Art von „Meditation“, wenn man so will, zu praktizieren – aber auch zu realisieren, dass jedes Wachstum, jede Veränderung ihre Zeit braucht. Wer dies regelmäßig mit sich selbst praktiziert, dem wird es vermutlich auch leichter fallen, dieselben Erkenntnisse auch anderen Menschen zugutekommen zu lassen, etwa seinen Schülern, wenn man Lehrer ist. Wissend, dass jedes nachhaltige Wachstum seine Zeit braucht, wird ein derart wahrnehmender Lehrer sich in Geduld und Demut üben. Gleichzeitig wird er versuchen, mit dem Schüler Ausschau zu halten nach jenen Reibungsverlusten, die ihm das Erreichen seiner Ziele erschweren – ein Grund mehr, eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zu seinen Schülern aufzubauen.
Niklas