Qualitatives oder quantitatives Lernen?

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

In der uralten Diskussion darüber, was „Lernen“ denn nun bedeutet, mag man zu verschiedensten Ansichten tendieren, die im pädagogischen Alltag für allerhand Konflikte sorgen können, weswegen es wichtig ist, dieses so harmlos scheinende Wort auf der Meta-Ebene definieren zu können, wie ich schon vor einiger Zeit in einem Artikel festgestellt habe. Seit einigen Tagen lese ich nun ein Buch von Rosa Luxemburg über die „Akkumulation des Kapitals“, indem sie herausstreicht, dass es zwei verschiedene Arten von (Re-)Produktion gibt, nämlich die Produktion von Produktionsmitteln (etwa Maschinen) sowie Konsumptionsmitteln (etwa Getreide), und dass viele problematische Annahmen von Ökonomen über Wirtschaft daher rührten, dass sie diese Unterscheidung nicht getroffen hatten. Dabei ist bei mir die Frage aufgetaucht, ob es nicht in Bezug auf das Lernen eine ähnliche grundlegende Unterscheidung geben könnte, die den Begriff „Lernen“ besser fassbar machen hilft. Und die Unterscheidung, die ich fand, war jene zwischen „quantitativem“ und „qualitativem“ Lernen.

Quantitatives Lernen

Gerade an freien Schulen wird gerne argumentiert, man lerne ja immer und überall, egal, ob man wolle oder nicht. Ständig prasseln Werbebotschaften auf uns ein, wir treffen neue Menschen in uns bisher unbekannten Kleidungen oder anderen Konstellationen, schnappen ein neues Wort einer fremden Sprache auf oder essen einen neuen Burger, den wir noch nie gekostet haben. Nach einer solchen Erfahrung haben sich tatsächlich einige Neuronen in unseren Denkorganen neu verschaltet oder erweitert – wir haben „gelernt“. Quantitatives Lernen möchte ich definieren als ein Lernen, das es uns ermöglicht, neue Informationen in unsere bereits vorhandenen Denkstrukturen einzugliedern, ohne dass es zu Problemen oder Weiterentwicklung kommen muss. Beispielsweise kann ich bereits 10 verschiedene Tiere auf Englisch benennen und lerne nun noch 5 weitere Tiernamen auf Englisch hinzu. Oder statt bis zu 10 kann ich nun bis zu 20 zählen. Ich kann mehr vom Gleichen. Und vor allem, es muss sich nichts ändern in meiner Welt oder meinem Verhalten.

Qualitatives Lernen

Demgegenüber möchte ich die Idee des qualitativen Lernens stellen, das eine Erhöhung der Komplexität des Denkens darstellt. Anstatt etwa nun immer alle Gegenstände abzuzählen, könnte ich erkennen, dass sich Gegenstände in Gruppen denken lassen und ich Gruppen rascher zusammenzählen kann. Ich habe die selbe Aufgabe (die Gegenstände zu zählen) auf eine neue Art zu lösen gelernt. Qualitatives Lernen möchte ich definieren als eine Art von Lernen, bei dem aus einer bestimmten Weltsicht durch einen Lern-Sprung eine aktualisierte, komplexere Weltsicht entsteht. Es ist der Prozess, die äußere Welt, die als komplex wahrgenommen wird, so innerlich abzubilden, dass sie überschaubar und kontrollierbar wird. Ich kann etwa gelernt haben, dass man mit einer Gitarre mit einigen wenigen Akkorden bereits viele Lieder begleiten kann und dann stückweise immer neue Akkorde dazulernen, um mehr Lieder spielen zu können, das wäre noch quantitatives Lernen. Wenn ich aber mit der Zeit feststelle, dass sich die Akkorde aus ähnlichen Einzeltönen zusammensetzen, eröffnet es mir plötzlich ganz neue Möglichkeiten zu spielen – qualitatives Lernen hat stattgefunden.

Was Frustvermeidung anrichten kann

Was dabei interessant ist, ist, dass qualitatives Lernen in vielen Fällen nur dann stattfindet, wenn es vorher zu einer Frustration kommt, oder anders ausgedrückt: Qualitatives Lernen ist der mögliche Lohn, sich einer potentiell frustrierenden Situation gestellt zu haben. Es ist ein Stück weit wie bei der klassischen Heldenreise, der fast alle alten Mythen zu folgen scheinen – Der Held wird aus seiner heilen Welt gerissen, erlebt ein forderndes Abenteuer, muss kämpfen und kehrt am Ende zurück zu einer Welt, die sich durch seine Taten verändert hat – entweder ganz real oder in seiner Sicht dieser Welt. Er ist weiser geworden, er weiß vielleicht nicht mehr, aber er weiß es nun besser.

Ein Bekannter von mir, den ich sehr schätze, hat einmal gemeint, die meisten Erwachsenen würden sich auf dem geistigen Stand eines 9-jährigen befinden, was es für Kinder und vor allem dann Jugendliche schwierig mache, diese noch als Vorbilder anzusehen. Vor einigen Wochen hat mir eine andere Bekannte einen Artikel von Herrn Hüther zugesteckt, indem es um Begeisterung ging, und warum Erwachsene nicht mehr so begeistert lernen wie Kinder. Der Gute schrieb, es läge an der fehlenden Begeisterung, aber vielleicht liegt es an etwas ganz anderem: den mit dem Alter zunehmenden Möglichkeiten, überwältigenden Situationen zu entkommen. Je jünger ein Kind ist, desto größer ist die Chance, dass es in Situationen kommt, deren Ausgang es mit seinem geringen Wissen und seinen körperlichen Fähigkeiten noch nicht kontrollieren kann, die es und sein Ego also massiv überfordern und damit angreifen können. Und wenn die Welt das Ego überfordert und die Schutzmaßnahmen nicht mehr greifen… kann es zu einer Reorganisation kommen, die vorher un-denkbar war.

Mit zunehmendem Alter werden wir Menschen jedoch immer besser darin, für unser Ego und damit die Aufrechterhaltung unseres Weltbildes zu sorgen, und auch gesellschaftlich gesehen wird es immer „unsittlicher“, völlige Zusammenbrüche zu haben, je älter man wird. Es wird erwartet, dass man irgendwann er-wachsen, fertig ist, und man klug genug ist, Situationen, die dieses Bild gefährden könnten, aus dem Weg zu gehen.

Die Liebe ist wohl eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Gründe für eine radikale Neuorganisation des Denkens auch noch im Erwachsenenalter – wer kennt nicht die Geschichten von dem Freund, der sich plötzlich völlig verändert hätte, seit er seine neue Flamme getroffen hat? Doch selbst jene mächtige Ur-Kraft vermag es oft nicht, die Starre eines Bewusstseins ins Wanken zu bringen, neues aus aufgegebenem Alten entstehen zu lassen. Zu gerne hält man sich an das Bekannte, sucht Systeme zu entwickeln, das Alte mit dem Neuen zu verquicken, auf quantitativer Ebene zu verharren. „Meine dritte Frau“ war sie dann, nicht Irene, oder „mein vierter Nebenbei-Liebhaber“. Sich qualitativ auf einen anderen Menschen einzulassen würde bedeuten, sich auf einen offenen Ausgang einzulassen, würde bedeuten, sich seinen eigenen Grenzen und Begrenzungen gnadenlos stellen zu müssen. Qualitatives Lernen ist stets auch ein Stück weit bedrohlich, und dies auf einer Ur-Ebene der Existenz, des Egos.

Qualitatives Lernen fördern

Ich habe in meinem Leben bisher nicht viele Menschen kennengelernt, die erkannt haben, dass es gerade die Situationen oder Personen sind, die uns frustrieren, die uns wirklich weiterbringen können, wenn wir uns ihnen stellen. Tatsächlich wirkt es erst einmal paradox, sich bewusst für etwas zu entscheiden, das Frust oder sogar Leid auslöst, und in dieser Situation zu bleiben anstatt ihr entkommen zu wollen. Sich dem Schmerz zu stellen, ohne wegzulaufen, selbst wenn man im Moment keine Lösung entdeckt, ihn zu überwinden. Und wenn dies schon für Erwachsene schwierig ist, kann man es erst recht nur schwerlich von Kindern oder Jugendlichen erwarten. Die Konsequenz, dass viele Schüler, wenn ihnen Freiräume gewährt werden, sich eher an quantitativem Lernen denn an qualitativem Lernen versuchen, ist nur logisch.

Sollen Kinder nun aber bewusst frustriert werden, um qualitatives Lernen zu fördern? Sollen wir Situationen schaffen, in denen sie derart überfordert sind, dass ihr Weltbild damit nicht zurechtkommt, so dass sie qualitative Sprünge in ihrem Denken machen können? Ja, unter gewissen Bedingungen. Ich weiß (noch) nicht, ob sich diese Bedingungen für alle relevanten Formen von qualitativem Lernen 1:1 anwenden lassen, aber als „Starthilfe“ mögen sie zur Illustration dienen: als konstruktive Grenzen eingesetzt. Manche jener konstruktiven Grenzen ergeben sich auch von selbst aus der Sache, wenn Kinder sich etwa entschließen, ein Instrument zu lernen, und den Frust der ersten Versuche überwinden lerne. Manche kann man aber als Lernbegleiter auch bewusst ganz unabhängig von den individuellen Interessen der Kinder definieren.

Konstruktive Grenzen definieren

An unserer Schule etwa gibt es das Zertifikat III, mit dem Schüler das Schulgelände verlassen können, um auch außerhalb der Schule Lernerfahrungen zu sammeln. Nun gab es längere Diskussionen im Team, was denn nun als „Lernerfahrung“ zähle – war es auch eine Lernerfahrung, wenn man zum Bäcker ginge, um sich dort etwas zu kaufen? Manche meinten, ja, alles sei Lernerfahrung, andere meinten, die könnten das ja schon, das zähle nicht. Mittlerweile wurde die Regelung erarbeitet, dass man sich in den Pausen etwas zu essen kaufen kann, aber während der eigentlichen Schulzeit gibt es nun die Rückfrage, was man denn vorhabe, ob dies unumgänglich jetzt zu erledigen ist und welche Lernerfahrung es ermöglicht bzw. was es der Schulgemeinschaft bringt. Die Beantwortung jener Fragen ist nicht weiter schwierig, aber sie verlangt trotzdem eine gewisse Beschäftigung mit dem eigenen Vorhaben.

Ein anderes Beispiel war die Regelung an einer anderen Schule, an der ich gearbeitet habe, dass jedes Kind pro Tag nur eine Seite mit dem Drucker ausdrucken darf, in Schwarz-weiß, außer, es könne argumentieren, warum eine Ausnahme gerechtfertigt sei. Dies war für die Kinder, die am liebsten gerne 20 Seiten Bilder ausgedruckt hätten, um sie abzuzeichnen, anfangs frustrierend, aber mit der Zeit bekamen sie sogar große Lust am Argumentieren, und diese konstruktive Grenze führte bei einigen Kindern zu einem großen qualitativen Lernsprung im Bereich der Argumentationsfähigkeit.

Konstruktive Grenzen verstehen sich – allgemein gesprochen – als eine Art Recht innerhalb einer Gemeinschaft, das nur dann gewährt wird, wenn jemand bestimmte Anforderungen erfüllt, ähnlich einer Führerscheinprüfung, die erst zum Fahren berechtigt. Die Überwindung der konstruktiven Grenzen muss stets freiwillig möglich sein und nicht zur Pflicht werden, weil sonst aus einer konstruktiven Herausforderung rasch eine Quälerei werden kann. „Freiwillig“ bedeutet dabei, dass diese Grenzen nur den Zugang zu Möglichkeiten kontrollieren, die über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausgehen.

Komplementäre Lernformen

Bisher mag der Eindruck entstanden sein, ich würde quantitatives Lernen für minderwertiger als qualitatives Lernen halten, was nicht unbedingt der ganzen Wahrheit entspricht. Tatsächlich halte ich es für sinnvoll, dass sich die beiden Formen des Lernens gegenseitig ergänzen. Jeder qualitative Lernsprung ermöglicht neue Möglichkeiten des quantitativen Lernens, und es macht Sinn, diese neuen Möglichkeiten eine Weile zu erforschen und sich nicht sofort wieder zu frustrieren. Quantitatives Lernen bildet in vielen Fällen erst die Basis für qualitatives Lernen, etwa wenn viele geschichtliche Ereignisse gemeinsam ein zusammenhängendes Bild ergeben.

Was mir mit diesem Artikel wichtig ist, ist es, deutlich zu machen, dass es (mindestens) zwei Formen des Lernens gibt, die sich in ihrer Art unterscheiden, und dass es für eine erschöpfende Definition des Begriffes „Lernen“ nötig sein wird, diese Formen unterscheiden zu lernen. Derzeit etwa könnte die Antwort unserer Kinder auf die Frage, was sie denn mit dem Verlassen des Schulgeländes „neues“ lernen wollen, etwas in der Art von „Ich probiere ein neues Brötchen beim Bäcker aus“ lauten, weil wir „Lernen“ bisher noch nicht genauer unterschieden haben. Qualitatives Lernen als Bedingung zu definieren würde völlig anderes Nachdenken über Begründungen nach sich ziehen.

Und ganz im Sinne des Themas hoffe ich, mit diesem Artikel auch ein Stück weit dazu beigetragen zu haben, auch bei dir, liebem Leser, qualitatives Lernen gefördert zu haben.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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