Langsam aber sicher beginnen auch in meiner neuen Arbeit nun die von mir schon so oft beobachteten Prozesse zu wirken: die Kinder bekommen plötzlich Lust aufs Schreiben, obwohl sie gar nicht müssten. Erzählen mir Geschichten über sich selbst, die sie nicht einem jeden erzählen würden, Geschichten, die ihr Selbstverständnis mit definiert haben. Beginnen, sich mit sich selbst, mir und ihrer Umwelt auseinanderzusetzen, sie produktiv zu gestalten. Was Paulo Freire, mein leider schon verstorbener brasilianischer Lieblings-Pädagoge in seinen Büchern beschreibt, entfaltet sich aufs Neue: den Menschen nicht nur das Lesen der Welt aufzeigen, sondern auch das Schreiben. Nicht nur die Re-Produktion des Bestehenden, Äußeren ermöglichen, nicht nur die Ausbildung zu fähigen Objekten zu fördern, sondern das Akzeptieren des jeweils anderen als Subjekt, als aus sich selbst heraus handelnde Person, mit allen produktiven Folgen.
Von Objekten und Subjekten
Es scheint die Grundfesten unseres Schulsystems eine Art von Vorstellung zu durchziehen, dass Menschen, um aus sich selbst heraus produktiv sein zu können, erst lernen müssen, Vorhandenes zu re-produzieren, und natürlich hat diese Ansicht ihre Berechtigung in dem Sinne, dass ein Sich-Ausdrücken und auch Verstandenwerden das Erlernen einer gewissen gemeinsamen Sprache voraussetzt. Die Problematik beginnt dort, wo die Re-Produktion als Ziel statt als Mittel angesehen wird. Nach Paulo Freire ausgedrückt hieße dann mein Ziel, den Menschen das Lesen beizubringen, aber eben nicht auch das Schreiben. Sie zu verständigen Empfängern zu formen, nicht aber auch zu möglichen Reformern. Paulo Freire hatte meiner Ansicht nach recht, wenn er schrieb, dass sein Ansatz ein höchst politischer sei, und die Entscheidung eines jeden einzelnen Menschen, Schreiben zu lernen, sei ein ebenso höchst politischer Akt. Dieser Akt sagt: Ja, ich will sie mitschreiben, meine eigene Geschichte, die Geschichte meiner Familie, meines Landes, dieser Welt. Ich verbleibe nicht passives Opfer der Umstände. Ich bin Subjekt. Ich kann handeln.
Ein Mensch, der zu der Vorstellung gelangt ist, Subjekt zu sein, ist ein zutiefst produktiver Mensch, auch wenn er sehr wahrscheinlich die Notwendigkeit der Re-Produktion als Mittel zum Zweck anerkennt. Kein großer Maler wird abstreiten, dass es viele Stunden dauerte, bis er seine Technik verfeinert hat, kaum ein großer Musiker abstreiten, dass er jahrelang geübt hat, bis er die Töne, die er spielen wollte, seiner Intention gemäß re-produzieren konnte. Nur hatte diese Reproduktion einen ihm bewussten und von ihm intendierten Zweck, ist nicht fremdbestimmt, sondern von ihm selbst als Mittel zum Zweck als notwendig und sinnvoll empfunden.
Das Subjekt und die intrinsische Motivation
Im Grunde hat – so hoffe ich – ein jeder sowohl in eigener Erfahrung als auch durch Beobachtung den Unterschied wahrnehmen können, etwa zwischen einem Kind, das eine Hausübung genervt abarbeitet (und damit ohne die Ausrichtung auf ein ihm verständliches Endziel re-produziert, was von ihm verlangt wird) und einem Kind, das – vielleicht sogar mit ebenso großen fachlichen Schwierigkeiten – sich durch eine ihm bedeutsame Aufgabe kämpft. Ersteres braucht oftmals direkte oder indirekte Motivation von außen, um die Aufgabe zu erledigen, das zweite wird vielleicht zwischendurch aufgeben, aber (wenn es nicht zu sehr enttäuscht ist, die Aufgabe nicht zu schaffen) immer wieder darauf zurückkommen. Ein aktuelles Beispiel: Vor knapp zwei Wochen stellte mir mein Cousin eine Mathematik-Aufgabe:
Ein Bauer hat ein exakt kreisförmiges Feld von 50m² und will eine Ziege mit einer Leine so am Rand des Feldes anbinden, dass die von ihr abgegraste Fläche exakt das halbe Feld beträgt. Wie lang muss dazu die Leine sein?
Ich habe dann bei ihm noch eine Stunde gerätselt, zuhause noch eine Stunde, bin mitten in der Nacht aufgewacht und habe noch eine Stunde probiert, sie wieder nicht geschafft, bis ich die Lösung dann am Vormittag des nächsten Tages nach insgesamt gut 5 Stunden Arbeit gefunden hatte. Niemand hat mich extern dazu motiviert, ich hatte keinen Vorteil davon sie zu lösen oder Nachteil, sie nicht zu lösen, und trotzdem fühlte es sich produktiv für mich an – ich wollte herausfinden ob ich es schaffen kann. Die Aufgabe selbst war durchaus reproduktiv, es gibt (wie ich im Nachhinein feststellte) auch im Internet Lösungen dazu, aber ich wollte sie lösen, weil ich jemand sein möchte, der komplexe Problemstellungen erkennen und Lösungen finden kann, und die Aufgabe damit zu einem Mittel für meine Zwecke wird.
Um nun den Kreis wieder ein wenig zu schließen: Ich bin überzeugt davon, dass diese produktive, aus einem selbst motivierte Art zu lernen a) mit Abstand effizienter ist als eine stur reproduktive und b) den Lernenden selbstständiger und unabhängiger macht und damit – in meinem Weltbild – sinnvoller ist.
(Mir ist klar, dass eine gewisse Unselbstständigkeit und Abhängigkeit durchaus auch im Interesse so mancher Menschen liegen könnte. Trotzdem nehme ich einerseits naiverweise und andererseits im festen Glauben, dass es für eine Gesellschaft langfristig besser ist, wenn alle ihre Mitglieder die Möglichkeit haben, produktiv und damit auch innovativ zu sein, an, dass dies ein gemeinsames Ziel von Pädagogen ist)
Aber der Lehrplan…!
Nun liegt natürlich das Argument sehr nahe, dass ein rein Interesse-geleiteter Lernansatz kaum dazu geeignet sei, den gesamten vorgegebenen Lernstoff zu ergründen. Die Frage, die sich mir dabei stellt, ist, woran das liegt. Haben diejenigen, die nach jenem Lehrplan lehren, selbst den Wert der vermittelnden Wissensgebiete und Fähigkeiten noch nicht ausreichend erschöpfend verstanden, um den wirklichen Nutzen sichtbar zu machen, oder enthält er auch unnütze bzw. nur für spezialisierte Anwendungen notwendige Bereiche? Nun ist eine Beurteilung dieser Fragen naturgemäß schwierig, weil verschiedene Menschen gewissen Wissensgebieten anhand ihrer Erfahrungen unterschiedlichen Wert beimessen. Um beim Volksschul-Lehrplan zu bleiben: es fällt mir selbst schwer, das vorgesehene Wissen über Pflanzen mit Sinn zu besetzen, weil ich – ehrlich gesagt – leider selbst kaum Ahnung von Pflanzen habe. Ich kann zwar anerkennen, dass es da Faszinierendes zu finden gibt (glücklicherweise habe ich Menschen kennengelernt, die das besser verkörpern als ich), aber selbst könnte ich diese Begeisterung wohl nur schwerlich vermitteln.
Was mich – während ich dies schreibe – zu einer interessanten Schlussfolgerung führt: kein Mensch wird alleine fähig sein, für alle Stoffgebiete zu begeistern, weswegen es umso notwendiger wäre, möglichst viele Menschen möglichst vielen unterschiedlichen anderen Menschen auszusetzen, die sich für verschiedenste Themen begeistern können, ob sie sich nun offiziell „Lehrer“ nennen dürfen oder nicht. Nicht notwendigerweise, um ihr Wissen oder ihr Können zu vermitteln, sondern um im Anderen den Funken an Begeisterung zum Glimmen zu bringen. Ich kann dies offensichtlich unter Anderem mittlerweile mit einer gewissen Regelmäßigkeit im Bereich des Schreibens leisten, vermutlich einfach weil ich es so gern tue und seinen Wert regelmäßig erkennen und spüren kann.
Was es dann sonst noch braucht
Hat dieser Funken dann erst einmal jemanden „entflammt“, so braucht jener kaum mehr externe Motivation, dass er etwas machen soll, wohl aber Räume und Werkzeuge, um produktiv sein zu können. Jemand, der Schreiben lernen will, wird auch mit Ästen im Waldboden seine Buchstaben schreiben oder sie legen oder was auch immer, wird eben statt dem Lehrer den Großvater fragen ihm etwas beizubringen, wirklich aufzuhalten sind die Kids da ohnehin schwer. Trotzdem kann man es ihnen ein Stück weit erleichtern, wenn man ihnen Papier und Stifte zur Verfügung stellt und ihnen die Experimentierräume (zeitlich, räumlich, Schutzräume) und Ressourcen zur Verfügung stellt, sich zu versuchen. Schule/Lernzentren etc. in dem Sinne halte ich für eine durchaus sinnvolle Einrichtung.
Und dann gibt es da noch die notwendigen Frusterfahrungen. Wer mal versucht hat, ein Instrument zu erlernen, weiß wohl, wovon ich spreche. Nur zwischen zwei Akkorden auf der Gitarre schnell genug zu wechseln, kann anfangs schon eine Überforderung darstellen. Oder einen Ton auf dem Saxophon zu spielen, der nicht scheußlich klingt (bei mir kommt da meist nur ein unschönes Piep!, sehr frustrierend). Da kommt dann der Heilungskreis bzw. der Ablauf signifikanten Lernens ins Spiel, über die ich schon des Öfteren geschrieben habe: Es braucht die Frusterfahrung, es braucht die Übergangsperson, es braucht den Schutzraum, den Glauben dass man kompetenter werden kann, den Glauben an die Methoden usw.
Wahrscheinlich war ich – systemisch betrachtet – tatsächlich ein etwas ungeeigneter Lehrer, weil mein Fokus nie auf dem Re-Produzieren als Endziel lag, wie das eben so üblich zu sein scheint in der Regelschule. Was mir wichtig war, war jedem einzelnen mir anvertrauten Kind zumindest eine Art von produktiver Erfahrung zu ermöglichen, egal wie unwahrscheinlich und unmöglich es anfangs schien, im festen Vertrauen darauf, dass ein produktiv, ein Subjekt gewordener Mensch die zu seiner Entfaltung notwendige reproduktive Arbeit danach ohnehin freiwillig und selbstmotiviert (im Sinne von aus sich selbst heraus angetrieben, „motivieren“ und „Motor“ haben ja sehr ähnliche Wortstämme) leistet, solange er durch die notwendigen Frusterfahrungen durchbegleitet wird. Die letzten Jahre haben mir immer und immer wieder gezeigt, dass dieses Vertrauen nicht unbegründet war. Ob dieser Zugang zum Lernen in eine Regelschule passt, bleibt nach meinen doch eher negativen Erfahrungen mit „dem System“ fraglich.
Nichtsdestotrotz funktioniert er für mich – und offenbar zumindest bisher auch für die mir anvertrauten Kinder – wunderbar, weswegen ich auch weiterhin gerne – im Sinne der produktiven Tätigkeit – darüber schreiben und ihn auch praktisch mit Freuden anwenden werde.
Niklas