Unlängst kam mir ein Gespräch vor einigen Monaten in den Sinn, in dem es um die grundsätzlichen psychologischen Funktionen einer Gerichtsverhandlung ging. Neben den eher offensichtlichen Funktionen wie Abschreckung (Angst vor Strafe) oder Schutz potentieller zukünftiger Opfer (etwa wenn jemand ins Gefängnis geschickt wird) war in dem Gespräch auch ein sehr interessanter Aspekt aufgeworfen worden: die Anerkennung des Schmerzes.
Es ist ein Aspekt, dessen Wichtigkeit mir auch bei Konflikten zwischen Schülern bereits öfter aufgefallen ist, und wohl einer der Gründe, warum Schüler derart allergisch darauf reagieren wenn sie das Gefühl haben ein anderer stehe nicht zu dem, was er ihrer Ansicht nach getan haben soll. Sobald der Täter in einem Konflikt zugibt, etwas getan zu haben, kann das Opfer der Tat seinen erlebten Schmerz lokalisieren und damit verarbeiten. Ein Vergewaltigungsopfer, dem nicht geglaubt wird, hat keinen Raum im Außen für seinen Schmerz. Ein Schüler, der von anderen Schülern getreten wurde, die es der Lehrkraft schlüssig darstellen konnten sie wären es nicht gewesen, hat keinen Raum im Außen für seinen Schmerz. Und wenn eine Verletzung sehr tief geht – wie es bei einer Vergewaltigung oft der Fall sein wird – verätzt sie, anstatt im Außen gehört und geheilt werden zu können, das Innerste eines Menschen. Zuweilen, je nach Schwere der Verletzung, sind auch äußere Symptome erkennbar, aber in Ermangelung der Anerkennung des Schmerzes ist die Lokalisierung der Schmerzursache mit der Zeit selbst für das Opfer selbst schwierig, weswegen zwar dann im Außen behandelt wird, aber nicht die ursächliche Verletzung.
Die Anerkennung der Täterschaft
Nun braucht es für die Anerkennung des Schmerzes – und damit der Möglichkeit der Heilung des Opfers – jedoch eine oft schwer zu erreichende Voraussetzung: die Anerkennung der Täterschaft durch den Täter. Denn hat niemand eine Tat begangen, wie darf man sich dann noch als Opfer fühlen?
Nun haben bekanntermaßen die meisten Menschen in sich das Bedürfnis, von sich ein „positives“ Selbstbild aufrechtzuerhalten. Auch wenn die exakte Definition von „positiv“ von Mensch zu Mensch durchaus verschieden sein mag, wird kaum ein Mensch freiwillig von sich behaupten, er hätte unprovoziert und nur aus seinem bösartigen Wesen heraus jemand anderem mit voller Absicht Schaden zugefügt. Stattdessen wird ein Täter wahrscheinlich eher behaupten, er sei a) überfordert gewesen, b) dazu provoziert worden, c) es wäre auf Wunsch des Opfers geschehen, d) es wäre keine Absicht gewesen oder eben e) ein Missverständnis.
Weil die Anerkennung der eigenen Täterschaft sowohl in der Schule als auch unter Erwachsenen oftmals mit zusätzlichen externen negativen Konsequenzen verbunden ist, wird sie entsprechend oft vermieden. In der Folge ist es für die Opfer der Tat meist schwer, den durch die Tat erlittenen Schmerz zu lokalisieren (=zuzuordnen) und auszuheilen.
Je nach Schwere der Verletzung wird es beim Ausbleiben der Anerkennung der Täterschaft durch den Täter entweder zum Versuch einer Gerichtsverhandlung kommen (damit die Gesellschaft die Täterschaft anerkennt und die Verletzung damit verarbeitbar macht) oder zum Versuch führen, andere Menschen vom Tathergang zu überzeugen („Du bist doch mein bester Freund, du glaubst mir doch, oder?“). Befriedigend sind diese Ersatzhandlungen jedoch meist nur zum Teil.
Die Macht der Anerkennung der Täterschaft
Vor einigen Tagen wurde ich spontan von dem Bedürfnis überwältigt, mich bei einem Menschen aus tiefstem Herzen zu entschuldigen, dem ich – so hatte ich plötzlich erkannt – über Jahre ohne es zu merken sehr Unrecht getan hatte. Daraufhin erzählte sie mir, sie hätte nicht mehr damit gerechnet, aber freue sich umso mehr darüber. Dieser Mensch hatte mir zuweilen mein Leben zur Hölle gemacht und war in vielen Situationen Täter gewesen, hatte mich und andere verletzt, aber auch ich hatte ihn verletzt, und die Anerkennung meiner Täterschaft ermöglichte es ihm, sich selbst etwas zu entlasten und auch einen Teil des Schmerzes, der ihn immer wieder übermannte und selbst zum Täter werden ließ, zu verarbeiten. Vor allem aber war der Moment, als ich meine eigene Täterschaft ihr gegenüber endlich anerkennen konnte, ein Moment, in dem ich körperlich spüren konnte, wie viel Energie ich tagtäglich ohne es zu merken aufgewandt haben musste um die Illusion aufrechtzuerhalten, ich wäre in Bezug zu ihr stets nur Opfer gewesen.
Was ich an dieser Stelle zu beschreiben suche, geht weit über ein simples „Ja ich habe etwas angestellt“ bzw. ein „Es tut mir Leid“ hinaus. Oft entschuldigen sich Menschen, ohne dass wir das Gefühl haben, sie würden es ernst meinen. Dies dürfte meiner Erfahrung nach dann der Fall sein, wenn sie sich entweder a) dazu gezwungen fühlen oder, häufiger, b) wenn sie sich entschuldigen wollen, ohne den Grad und die Art der Verletzung erkannt und anerkannt zu haben. Die Anerkennung des Schmerzes und damit dessen Heilung ist nur dort möglich, wo nicht nur ein Schmerz anerkannt wird, sondern genau dieser Schmerz. Deswegen habe ich weiter oben wohl auch intuitiv das Wort „lokalisieren“ benutzt: eine Entschuldigung ist wie eine Heilsalbe, die nur dann wirkt, wenn sie auch die passende Salbe ist und genau auf die Verletzung aufgetragen wird. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, bei einer Verbrennung der linken Hand eine ätzende Salbe auf die Nase zu streichen und dann zu erwarten dass das den Heilungsprozess unterstützen würde – und doch geschieht dies überraschenderweise ständig im emotionalen Miteinander.
Täter und Opfer in einer Person?
Leider ist das Modell von einer Person als Täter und einer Person als Opfer nur eine sehr vereinfachte Abbildung der Realität. Ein üblicher Streitverlauf zwischen Kindern zeigt dies sehr deutlich auf: beide spielen miteinander (er wollte es), einer übertreibt (provozieren) etwas, der andere interpretiert böse Absicht (Missverständnis), schlägt auf den anderen ein, der (Überforderung) schlägt so hart zurück dass sich der erste weinend beim Lehrer beschwert, er sei „ohne Grund geschlagen worden“ während der andere behauptet, er hätte sich „nur gewehrt“. Beide suchen vor der Autorität des Lehrers die Bestätigung ihrer Opfer-Rolle, um ihren Schmerz fühlen zu dürfen, aber verweigern ihren eigenen Anteil als Täter. Denn obwohl die Umstände sie dazu verleitet haben mögen („ich werde selbst geschlagen“), haben sie durch ihre Gegenwehr selbst Schmerzen verursacht und sind damit auch selbst zum Täter geworden. Nur einen der Schüler als Opfer darzustellen und den anderen als Täter ermöglicht dem einen zwar, seinen Schmerz gut lokalisieren und heilen zu können, dem anderen aber wird diese Möglichkeit verwehrt. Im Alltag wird ein durchschnittlicher Lehrer wohl versuchen herauszufinden, wer von den Schülern mehr schuld ist, und diesem die Täter-Rolle zuweisen – was aus den beschriebenen Gründen nicht ideal ist.
Das obige Beispiel mit den zwei streitenden Schülern ist noch ein vergleichsweise einfaches Beispiel, weil sie sich gegenseitig Täter und Opfer sind. Komplexer (aber nicht weniger lebensnah) wird es, wenn jemand selbst Opfer eines Menschen wurde und aufgrund dessen einem Dritten als Täter Schmerzen zufügt – etwa wenn ein Mann, der als Kind Opfer der Lieblosigkeit seiner Eltern wurde, seine eigenen Kinder nicht zu lieben vermag. Wenn dieser Mann auf sein eigenes Opfer-Dasein verweist, wenn er von seinen Kindern auf ihren unerfüllten Bedürfnisse aufmerksam gemacht wird, so stellt er seine Kinder vor eine schwer aufzulösende Endlos-Schleife: vermutlich hatte auch die von ihm erlebte Lieblosigkeit seiner eigenen Eltern seine Gründe in den Generationen davor, und seine eigenen Eltern würden ihn wiederum an ihre Eltern verweisen, diese wiederum auf ihre und so weiter – bis eine Generation erreicht wird, die bereits gestorben ist und die Verantwortung nicht mehr selbst „weiterleiten“ kann. Alternativ mag man die Verantwortung jeweils weiterleiten bis zum mythischen „Sündenfall“, oder auf erlittene „große Traumata“ einer bestimmten Generation wie Kriege die als Bedingungen realistisch genug klingen, die Ursprünge bestimmter Verhaltensmuster zu rechtfertigen.
Noch problematischer wird es jedoch, wenn ich mir den Geschichtsverlauf in die andere Richtung ansehe. Werde ich meinen eigenen Kindern erzählen, ich hätte sie so behandelt wie ich es tat, weil ich schlicht Opfer meiner eigenen Eltern war? Werden sie es mit ihren Kindern ebenso handhaben? Sind wir also alle dazu verdammt, die Fehlentwicklungen der Vergangenheit bis in alle Ewigkeit weiterzuführen? Erfreulicherweise dürfte dies nicht der Fall sein, und auch wenn wir von unserer Eltern-Generation gewisse Muster und teilweise auch Traumatisierungen „ererbt“ haben, sind die meisten von uns innerhalb gewisser Grenzen fähig uns zu entscheiden. Und wenn ich anerkenne, dass ich mich entscheiden kann, muss ich auch anerkennen, dass ich dort, wo andere durch mein Handeln Schmerzen erlitten haben, als Täter gehandelt habe. Wenn ich auch das anerkennen kann, so kann ich den erlittenen Schmerz anderer als solchen und als von mir verursachten anerkennen. Erst dann, wenn ich genau diesen Schmerz anerkannt habe, kann ich auf echte Verzeihung hoffen wenn ich darum bitte. Ansonsten handelt es sich um „Blanco-Verzeihungen“, die in der Tiefe nicht verzeihen können, weil der entsprechende Schmerz nie lokalisiert und damit echte Heilung nie möglich wurde.
In der Folge werden Grundmuster sich immer wieder in unserem Leben manifestieren, um uns an unverarbeitete Verletzungen zu erinnern. Wiederkehrende Muster sind damit nicht nur durchaus lästige Wiederholungstäter in unserem Leben sondern auch Orientierungshilfen, die uns helfen können, ursprüngliche Verletzungen zu lokalisieren und das Gegenüber zu finden, das sie uns ursprünglich zugefügt hat – um eines Tages hoffentlich den Raum im Außen zu finden, die innere Verletzung auszuheilen.
Alternativlose Situationen
Was aber, wenn ich in einer Situation andere verletzt habe, in der ich selbst so überfordert war, dass ich das Gefühl hatte, es gebe keinen anderen Weg? Kann man mich auch dann dafür verantwortlich machen? Ist es gerecht, mir auch dann die Schuld zu geben?
Wer an diesem Punkt noch diese Fragen stellt, der möge diesen Artikel noch einmal von Anfang an durchlesen. Es geht bei der Anerkennung des Schmerzes nicht im Endziel darum herauszufinden, wer der Schuldigere in einem Konflikt ist oder war. Es geht darum anzuerkennen, dass die Verletzung real erlebt wurde und reale Schmerzen verursacht hat, um damit Räume für ihre Heilung zu ermöglichen. Und damit ist die Situation in der sich ein Täter befand oder ob er hätte anders handeln können im Grunde völlig irrelevant.
Diese Verwirrung dabei dürfte wohl aus der gefährlich groben Vereinfachung der Realität gewonnen worden sein, dass nur bösartige Menschen Verletzungen verursachen würden und damit im Umkehrschluss verletzende Menschen auch bösartige Menschen seien. Tatsächlich ist es für einen durchschnittlichen Menschen realistischerweise kaum bis unmöglich, alle Konsequenzen seines Handelns vorherzusehen. Eine geplant „gute“ Tat mag langfristig betrachtet dramatische negative Folgen haben, ebenso wie umgekehrt, und der Kontext einer Handlung trägt viel dazu bei, wie eine Handlung zu bewerten ist – ein Kontext, den die meisten Menschen während sie handeln oft gar nicht einschätzen können. Um nun vor sich selbst und anderen als „guter“ Mensch dazustehen, wird die Anerkennung der eigenen Täterschaft und damit Verantwortung für Entscheidungen, die sich in Konsequenz als negativ herausgestellt haben, gerne vermieden – in der Folge wird viel verursachter Schmerz nie von den Tätern anerkannt.
Ich habe einen bewundernswerten Schüler, der zwar regelmäßig etwas anstellt, aber bisher immer dazu gestanden hat. Der auf Nachfrage beispielsweise ohne Zögern antwortet, ja er hätte einen anderen Schüler geschlagen, eigentlich wollte er es nicht aber es sei ihm dann passiert dass er ausgerastet sei. Dieser Schüler gerät oft in Konflikte mit anderen Schülern, aber diese sind jeweils für sich sehr rasch geklärt und die anderen Schüler haben großen Respekt vor ihm, obwohl er sich manchmal „negativ“ verhält und Schmerzen verursacht. Über die letzten Monate hinweg sind die Konflikte, die er mit anderen Schülern noch hat, auch seltener geworden, vermutlich weil er seinen eigenen Beitrag zu den Konflikten – da er sich auch als Täter anerkennt – sehr deutlich sehen kann. Ich glaube, dass viele Erwachsene von diesem Schüler lernen können, zu ihren eigenen Handlungen zu stehen. Denn auch wenn sie nicht stolz auf sie sind und sie ihnen – etwa aufgrund von massiver Überforderung – „passiert sind“, so sind sie doch die handelnden Personen gewesen, die die Schmerzen verursacht haben, und damit die geeignetsten Personen, um den Schmerz anzuerkennen und damit dem Opfer zu helfen, ihn zu lokalisieren und zu heilen.
Ich mag in – für mich – alternativlosen Situationen gewesen sein, aber trotzdem war ich Handelnder und damit – wo Verletzungen durch mein Handeln (oder auch Nicht-Handeln wo es notwendig gewesen wäre) passiert sind – auch Täter. Das macht weder mich zu einem schlechteren noch das Opfer zu einem besseren Menschen. Aber ich kann mir selbst und dem so Verletzten eine Erleichterung sein und meine Täterschaft und damit den verursachten Schmerz auch anerkennen. Und selbst wenn die Situation, in der ich zum Täter wurde, für mich einst alternativlos gewesen sein mag, den Schmerz anzuerkennen erschafft mir im Jetzt eine Alternative, Schmerzen zu lindern und Heilung zu fördern.
Wenn schon nicht für mich selbst, dann im Wissen, damit auch meinen eigenen Kindern und deren Nachkommen eine gangbare und im Positiven nachhaltigere Alternative zur Alternativlosigkeit geschenkt zu haben.
Niklas