Als ich gestern über die drei Säulen des Erlernens von Sprachen schrieb, beschrieb ich das Wie des Lernens, das für uns Lehrer auch abseits der Sprachenvermittlung weitreichende Konsequenzen haben kann. Doch mindestens ebenso wichtig wie das Wie halte ich das Warum des Lernens. Warum lernen wir so vieles freiwillig, während wir anderes ablehnen oder sofort nach Prüfungen wieder vergessen? Um zur Beantwortung dieser Frage zu gelangen, möchte ich zunächst einmal das Was ansprechen: Was ist eigentlich Lernen?
Lernen und Wachsen
Ich möchte mich von der üblichen im Bildungswesen verwendeten Definition verabschieden, weil ich die Art von Lernen, die in der Schule gefordert und gefördert wird, für relativ irrelevant halte. Stattdessen möchte ich mich einer Definition von Carl Rogers nähern, der signifikantes Lernen als verhaltensveränderndes Lernen beschrieben hat. Nicht also die Fähigkeit, ein Skript wortwörtlich bei einem Test wiederzugeben, sondern die Sinnzusammenhänge in das eigene Verhalten zu integrieren.
Lernen in diesem Sinne ist Wachstum, und zwar ein Wachstum des bewussten potentiellen Ichs. Lernen in diesem Sinne bedeutet nicht, fortan immer auf die erlernte Art und Weise zu handeln. Es bedeutet, seine Handlungsspielraum zu erweitern, auf den im jeweiligen Moment zurückgegriffen werden kann. Wenn wir unser jeweiliges Ich, unser jeweiliges Tun im Moment als abhängig von unserem potentiellen Ich, unseren bewussten Fähigkeiten, erkennen, so lässt sich Lernen als die Erweiterung dieses Potential, als Ausdehnung der Grenzen beschreiben.
Natürliches Wachstum
Das natürliche Warum des Lernens lässt sich nun beschreiben als die Auffassung, dass ein bestimmtes Tun, ein bestimmtes Sein in einem bestimmten Moment, als ausserhalb der Grenzen unseres potentiellen Ichs, unseres potentielln Tuns wahrgenommen wird. Manchmal werden wir uns damit abfinden. Manchmal jedoch beschliessen wir, wachsen zu wollen, unser potentielles Ich zu erweitern, um die Menschen sein zu können, die wir sein wollen. Wer eine Woche in der Türkei urlaubt, wird im Regelfall keine grossen Probleme damit haben, der türkischen Sprache nicht mächtig zu sein. Wer jedoch ein Jahr oder länger in einem Land lebt, wird eine andere Motivation haben, mit den Einheimischen kommunizieren zu können. Wir wollen der Landessprache mächtig sein, um in bestimmten Situationen in der Landessprache sprechen zu können.
Ich und Ich
Was wollen wir tun, und wer wollen wir sein? Die Antworten auf diese Fragen werden individuell sehr unterschiedlich aussehen. Sie werden abhängig sein von dem Menschen, der wir uns bisher erlaubt haben zu sein, und wie wir uns unsere Zukunft vorstellen, und dem vermuteten Aufwand, diese Distanz zu überbrücken. Für jemanden, der seit Jahren ein Instrument spielt, mag der Wunsch, ein Konzert zu spielen, um einiges realistischer erfüllbar sein als für jemanden, der noch nicht einmal weiss, welches Instrument in Frage kommen würde. Auch für jenen ist es nicht un-realistisch, nur relativ gesehen vermutlich schwieriger. Aufgrund dieser und anderer Faktoren wiegen wir unsere verschiedenen Optionen unser zukünftigen Entwicklung gegeneinander ab. Doch ob wir scheitern oder erfolgreich sind: unser Wille geschehe.
Wir verlernen uns
Im Vergleich dazu erscheint die durchschnittliche Schule als Karikatur dieses Wachstums-Bedürfnisses. Es ist egal, wer du bist, oder wer du werden möchtest. Wir wissen, dass du jetzt das 1×1 zu lernen hast. Uns ist egal, ob du gerade darauf brennst, zuhause endlich wieder an deine Gitarre zu kommen. Jetzt machst du dein Werkstück, denn wir wissen, was gut für dich ist, auch wenn du es nicht verstehen willst.
Hoch“motiviert“ durch unser Notensystem beugen sich Kinder eben den Anforderungen und werden zu Menschen, die im entscheidenden Moment der Prüfung gewisse vom Lehrer verlangte Antworten geben können – oder eben nicht. Aber der Sinn hinter diesen Antworten bleibt in so vielen Fällen ausserhalb des potentiellen Ichs. So sorgen sie zwar für eine Befüllung des Geistes, aber werden nicht in seine innere Ordnung eingebunden – Gerümpel auf dem Dachboden, das mit der Zeit vergessen wird.
Ich will damit nicht sagen, bei niemandem etwas aus der Schulzeit hängen bleibt. Ich will damit sagen, dass diejenigen Inhalte, die hängen bleiben, zeitlich und inhaltlich im Einklang mit dem standen, was die Schüler in diesen Momenten lernen wollten, in welche Richtung sie wachsen wollten. Die für mich logische Konsequenz besteht darin, Lernen in Schulen auf den Kopf zu stellen. Nicht davon auszugehen, was „ein Schüler“ braucht, sondern aktiv zu fragen, wer der jeweilige Schüler werden will und ihn in dieser Werdung zu unterstützen. Warum Zeit und Geld damit aufwenden, Dachböden mit Gerümpel zu füllen? Sowohl im Sinne von echtem Gerümpel als auch metapherhaft ausgedrückt erkennen wir heute zunehmend, dass diese Strategie wenig Früchte trägt.
Gärten bestellen
Dies würde bedeuten, dass wir all unsere tollen Lehrmethoden, die wir in drei Jahren (oder mehr) Pädagogische Hochschule – ob wir an sie glauben oder nicht – auswendig lernen dürfen, im Grossen und Ganzen getrost als Dachboden-Lernen vergessen können. Wir bauen keine Häuser, die wir planen und umsetzen können, wie es uns beliebt. Wir sind Gärtner, die dafür zu sorgen haben, dass es den uns anvertrauten Pflanzen gut geht, dass sie sich nicht gegenseitig zu viel Licht wegnehmen, jemand auf sie tritt oder sie an ihren Wurzeln ausreisst. Es ist nicht unsere Aufgabe, ihre Pflanzenart nach Lehrbüchern zu bestimmen oder aus ihrer Vielfalt eine Allee von Apfelbäumen zu formen.
Wenn wir uns über die Unförmigkeit der Äpfel ärgern, übersehen wir dabei allzu leicht, wie schöne Mangos, Birnen und Bananen unsere angeblichen Apfelbäume tragen können.
Niklas