Mit offenen Augen träumen

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Ein Leser postete gestern ein Video als Kommentar zu meinem Beitrag, auf das ich heute eingehen möchte. Kurz zusammengefasst geht es um die Aussichtslosigkeit, über das Wählen oder Gründen einer Partei oder die Nutzung eines anderen Instruments unserer politischen Landschaft wirkliche Veränderungen zu erzielen. Im Video wird argumentiert, dass ein jedes Spiel (ein Vergleich mit einem Casino wird gezogen) darauf ausgelegt ist, das System zu erhalten, wird argumentiert, man müsse bei sich selbst anfangen, falsche mit richtigen Ideen zu ersetzen (wie es die Wissenschaft mit der Religion getan habe), um dann mit der Zeit das Interesse der anderen auf sich zu erziehen, dann könnte man etwas bewirken. Im Folgenden einige Anmerkungen dazu:

Religion als falsche Idee

Ich würde nicht so weit gehen, Religion als falsche, durch die Naturwissenschaften überholte Idee abzutun. Bei allen Missständen, die in vielen, vielleicht sogar allen Religionen bis heute vorherrschen, haben sie doch in allen Zeiten einige wichtige Funktionen erfüllt, haben in unzähligen Fällen Menschen Führung in ungewissen Gefilden gegeben, in denen die Wissenschaft nicht reichen kann und vielleicht nie können wird. Das Problem sehe ich weniger in der Religion oder Spiritualitätt selbst sondern in der Idee, dass es am Ende des Tages eine Wahrheit zu geben habe (die übrigens auch die Wissenschaft vertritt).

Religion, Spiritualität und Wissenschaft stellen für mich keinen Widerspruch dar, weil sie alle in bestimmten Situationen ihren Zweck haben. Wenn ich die Äderchen eines Blattes betrachte, mag ich manchmal interessiert an ihrem Aufbau sein, wie es dazu gekommen ist und wie alles zusammenspielt, ein anderes Mal möchte ich vielleicht einfach nur staunen und ehrfürchtig sein gegenüber dieser Schönheit und Komplexität. Im Video wurde erzählt, die Religion wurde durch die Rationalität besiegt, aber in meiner Erfahrung sind wir mehr als rationale Wesen, sind auch fühlende, wütende, traurige, liebende Menschen, und diesen Anteil wegzurationalisieren halte ich für sehr schade.

Das alte Lied vom falschen Ton

Im Weiteren halte ich es auch für gefährlich, Ideen in richtige und falsche einzuteilen – es bedeutet in der Folge, dass ich Recht haben kann und der jeweils andere Unrecht, oder umgekehrt. Wenn es das Ziel sein soll, diese unrechten Ideen durch die richtigen zu ersetzen, wer richtet dann darüber, was richtig und was falsch sein sollte? Was geschieht, wenn wir auf jemanden treffen, der unsere rechten Ideen als unrichtig ansieht – wollen wir ihn zwingen, unsere Ansicht zu teilen? Darauf warten, bis er die Richtigkeit unser Perspektive einsieht?

Ja, auch ich glaube schon lange nicht mehr a Parteien, unsere Welt zum Positiven zu verändern, glaube auch nicht an gewaltvolle Lösungen wie Revolutionen oder eine von aussen verordnete Bildung mit den richtigen Ideen oder daran, dass ich oder irgendjemand da draussen die ganze Wahrheit gepachtet, die ganze Wahrheit vorleben kann, weil diese ganze Wahrheit eine sehr subjektive Sache ist. Es ist nicht die Wahrheit, es ist meine Wahrheit und deine Wahrheit, die sich in einigen Punkten überschneiden mag, aber nicht ident sein wird.

Es mag mir vergönnt sein, dem anderen einen Teil meiner Wahrheit zu offenbaren, durch gute Gespräche, durch mein Handeln, vielleicht auch durch diesen Blog, und es ist eine schöne Sache, wenn der Andere diese meine Wahrheit als Möglichkeit in seine Wahrheit integrieren kann und will, aber dies bedeutet nicht, dass er danach so handeln wird wie ich. Es wäre auch schade, ein so einzigartiges Menschenleben als Kopie zu verbringen wenn wir die Möglichkeit haben, ein Original zu sein.

Multiversen

Dieses Öffnen gegenüber der Innenwelt, der Wahrheit des Anderen und der Versuch, sie zu verstehen, als Möglichkeit in das eigene Innenwelt zu integrieren, entspricht vermutlich in etwa dem, was wir Empathie nennen. Spannenderweise beobachte ich immer wieder, wie Menschen von anderen Menschen verlangen, dass sie ihre guten Ideen schon zu verstehen haben und jetzt gefälligst danach leben sollen. Als wären sie Träger und Verkörperung der absoluten Wahrheit, als würde, wenn nur alle nach ihren Ideen und Prinzipien leben, diese Welt ein besserer Ort sein. Diese Menschen sind leider sehr selten bereit, auch die Innenwelten, die Wahrheiten ihrer zu überzeugenden Gesprächspartner in ihre Wahrheit zu integrieren, halten sich für allwissend, für fertig und dadurch naturgemäss mit der Aufgabe bedacht, dieses Allwissen nun an willige (oft auch unfreiwillige) Schüler weiterzugeben.

Es ist dies vermutlich die höchste Aufgabe eines Meisters, seine Innenwelt den anderen zu offenbaren und deren Innenwelten in sich aufzunehmen, um ihnen dadurch zu ermöglichen, auch ihre eigene Innenwelt den farbenfrohen Welten des Meisters und später, mit erwachtem Mut und lodernder Abenteuerlust, auch der Welt. Es sind die grossen Meister gewesen, die es uns vorgelebt hatten, sei es ein Buddha, ein Jesus, ein Ghandi oder Martin Luther King Jr. Sie waren unfertig, sie sie blieben unfertig, schwach in einer Welt voller Gewalt – doch gerade in ihrer Kindlichkeit, ihrer Unfertigkeit und Schutzlosigkeit lag wohl ihre grösste Macht.

Diese mächtigen Seelen, so viele Welten in sich, auf sich nehmend, tragend, liebend, lassen sich schwerlich mit einem Politiker heute vergleichen. Sie agierten ausserhalb der herkömmlichen Machtstrukturen, ausserhalb der herkömmlichen Logik und Rationalität der Macht, in dem sie die Macht, die ihnen gegeben wurde, hundertfach an ihre Anhänger zurückstrahlten. Nicht jeder hat die Chance, Politiker zu werden, aber ich glaube, in jedem von uns steckt das Potential, eine einzigartige Variante einer dieser grossen Führer zu werden. Sie sind Splitter der grossen Hoffnung auf einen Messias, die erkannt haben, dass dieser göttliche Funke in einem jeden von uns darauf wartet, zu einer Flamme der Hoffnung entfacht zu werden. Wir alle sind diese Führer, diese Meister, sobald wir aufhören, die Augen vor der Wahrheit zu verschliessen:

Und mit offenen Augen träumen.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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