Seit nicht ganz drei Wochen arbeite ich nun an einer neuen Schule, und es gäbe so viel Interessantes zu berichten, dass es für viele Artikel reichen würde. Weil ein jeder Neuanfang jedoch auch anstrengend ist und ich von meiner Aufgabe dort entsprechend gefordert werde, fehlt mir dafür leider derzeit die Zeit und vor allem Energie. Da heute einer meiner „freieren“ Tage ist, wollte ich mir trotzdem bewusst Zeit nehmen, diesen Artikel zu schreiben. Weil es um ein Thema geht, das wohl so wenig behandelt und bedacht wird, dass es dort, wo dies doch versucht wird, fast notgedrungen zu Unverständnis führen muss: es geht um die Arbeit mit Authentizität.
Dadurch, dass ich mich in letzter Zeit auch sehr intensiv mit verschiedensten Therapiekonzepten beschäftige (siehe auch meinen den letzten Artikel dazu), wird mir zunehmend bewusst, dass unter „Authentizität“ üblicherweise eher eine relative denn eine absolute Aufrichtigkeit bzw. Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außenwelt gemeint ist. Je nach Umgebung, in der wir uns bewegen, gibt es bestimmte Verhaltensweisen, die für den einzelnen als „akzeptabel“ oder eben als „nicht akzeptabel“ wahrgenommen werden, wobei diese Wahrnehmung sehr subjektiv ist.
Explizite Regeln
Regeln, die von außen (etwa von einer Lehrerin) explizit vorgegeben werden, werden durch diese subjektive Wahrnehmung erstaunlich oft missverstanden. Das Problem liegt für mich diesbezüglich darin, dass Sprache und Wortbedeutungen immer mit ebenso subjektiven Erfahrungen besetzt sind. Eine Regel, die für eine Lehrerin völlig klar erscheint, mag für einen Schüler, der die Erfahrung, die zur Formulierung dieser Regel geführt hat, nicht mitgemacht hat, etwas ganz anderes aussagen.
Dies zeigt sich vor allem dort sehr deutlich, wo neue Schüler in Klassen kommen, deren Schüler sich an ein gewisses Regelkorsett bereits gewöhnt haben und die Bedeutung hinter der expliziten Ausformulierung der Regel verinnerlicht haben. Da dies nun für die ersten 20 Schüler gut geklappt hat und sie die Regeln nicht nur aufsagen, sondern auch befolgen können, wird gerne angenommen, dass die Regeln auch für die nächsten 2 Schüler verständlich sein werden. Tatsächlich wird es in vielen Fällen dazu kommen, dass auch diese zwei neuen Schüler die Erfahrungen, die zur nachträglichen expliziten Benennung der Regeln geführt haben, erneut nachmachen müssen. Wenn neue Kinder aus einer Klasse kommen, deren Regeln ähnlich oder gleich waren, wird es ihnen leichter fallen – aber das ändert nur wenig an dem Grundsatz: explizite Regeln werden erst dann verstanden, wenn die Erfahrungen, die zu den Regeln geführt haben, gemacht oder nach-gemacht wurden.
Implizite Regeln
Nun gibt es neben expliziten Regeln auch implizite Regeln, die „selbstverständlich“ sind oder zumindest „sein sollten“. Im kleinen, alltäglichen kennen das wohl viele Erwachsene, die mit anderen Menschen zusammenwohnen möchten und feststellen, dass die Gewohnheiten der anderen sich doch sehr stark von den eigenen unterscheiden können. Annehmend, dass es ja „eh klar“ sei, was jeweils wie zu tun sei, ist man dann verärgert, weil jemand nicht aufgeräumt hat – und interpretiert dies rasch auch als bösartige Handlung. Immerhin ist es ja selbstverständlich, dies nicht zu tun. Dass verschiedene Menschen oft mit völlig verschiedenen Prägungen aufwachsen, und vor allem auch, dass es mehr als eine einzige Art und Weise gibt, seinen Alltag gut zu meistern, ist vielen wohl gar nicht bewusst. Das führt dann irgendwann meist zum Konflikt, wo diese Vorstellungen davon, wie etwas zu sein hat, explizit werden – um dann damit wieder arbeiten und die Konflikte auch lösen zu können – wenn auf beiden Seiten eine gewisse Bereitschaft besteht, dem anderen zuzuhören und auch eigene Vorstellungen zu relativieren.
Implizite Grundfesten
Besonders interessant sind jedoch eine dritte Gruppe an Regeln: diejenigen, die so implizit sind, dass man gar nicht weiß, dass sie existieren bzw. dass man sie auch brechen kann. Und vor allem, brechen kann, ohne dass die gesamte Ordnung der Welt völlig aus dem Ruder läuft. Es sind meist Regelungen, die über viele Generationen aus bitteren Erfahrungen entstanden sind, und der Wunsch, diese Erfahrungen nicht noch einmal machen zu müssen, ist verständlich. Das Problem ist nur, dass sie damit zu Regeln werden, zu denen junge Menschen heute möglicherweise keine praktische Erfahrung über ihr Warum mehr haben. Bei den Regeln der ersten beiden Kategorien gibt es (unter Protest der „Guten“, also die Regeln einhaltenden) meist noch eine Möglichkeit, diese Erfahrungen nachzumachen. Aber in dieser dritten Kategorie herrscht in vielen Fällen eine gewisse Angst vor, diese Räume zu öffnen, um die Erfahrung nachzumachen. Wenn diese Möglichkeit jedoch verweigert wird (und womöglich nicht nur in einer bestimmten Situation, sondern überhaupt), entsteht eine verzwackte Situation: Menschen sollen Regeln befolgen, deren Sinn sie nicht verstehen. Und das zu gewährleisten, funktioniert im Regelfall nur über Aggression oder Gewalt.
Aggression und Gewalt
Ein relativ simples Beispiel für eine Regel der dritten Kategorie ist die Problematik von Aggression und Gewalt in der Schule, die kaum unterschieden werden, obwohl das Zulassen von Aggression, wie ein Freund von mir, der seit Jahren Kampfkunst trainiert, betont, Gewalt verhindern kann. Zur Begriffsklärung: Aggression ist das Aufzeigen von Grenzen, der Versuch, Grenzübergriffe zu stoppen, notfalls physisch. Gewalt ist das, was passiert, wenn die Aggression fehlschlägt: der Versuch, den Gegner zu vernichten. Was nun im normalen Schulalltag häufig passiert, ist, dass Lehrer und andere Erwachsene durch ihre eigene Aggression (ihr Einschreiten) versuchen, schon die gegenseitige Aggression der Kinder zu unterbinden, weil sie Angst vor der Gewalt haben, die daraus entstehen könnte (oder die beiden oft verwechseln). Dadurch unterbinden sie jedoch oft gleichzeitig auch die Möglichkeiten der Kinder, Formen der Aggression zu entwickeln, mit Grenzüberschreitungen so umgehen zu lernen, dass es nicht zur Gewalt führen muss.
Dies wird in umfangreichem Ausmaß dort deutlich, wo man dieselben Kinder, die sich in einer schützenden Umgebung befunden haben, in der die meisten Regungen, die auch nur annähernd in Richtung Aggression gehen könnten, sofort unterbunden wurden, in einen Raum zusammenbringt, wie ich ihn öffne. Hier wird nun sichtbar, wie völlig unerfahren die meisten Kinder doch darin sind, Konflikte untereinander so zu lösen, dass Gewalt nicht notwendig wird. Natürlich könnte man nun argumentieren, dass man sie eben deswegen vor solchen Situationen schützen muss, aber da bin ich anderer Meinung. Eine Bekannte sagte mir einmal, Gewalt sei eine Form der Kommunikation – für mich ist Gewalt eher der Punkt, wo die Kommunikation und damit das Interesse am Gegenüber aufhört.
Aggression jedoch ist eine Form der Kommunikation. Wenn man sich die Provokation eines Schülers hin zu einem Mitschüler (oder auch einem Erwachsenen!) als eine Art von Sand vorstellt, der auf eine bestimmte Form von Bedürfnissen trifft, die „weich“ (also vernachlässigbar) oder aber „hart“ (also Aggressionen hervorrufend) sind, so entsteht anhand der Aggressionen eine Art Muster im Sand. Provokation ist eine Frage („Wer bist du? Was ist dir wichtig? Wichtig genug, es zu verteidigen?“), und Aggression eine Antwort darauf („Ich bin X. Das ist mir wichtig.“)
Wer bist du? Was brauchst du?
Was nun passiert, wenn man Aggressionen und Provokationen von vornherein unterdrückt, erscheint wohl für viele überraschend: Das Kennenlernen bleibt an der Oberfläche, hat nur wenig Tiefe. Oder umgekehrt: wenn diese einen Raum bekommen, lernt man sich sehr rasch kennen. Lernt man die Bedürfnisse und Grenzen des anderen kennen, besteht weniger Notwendigkeit, sich gegenseitig zu provozieren, um sie aufzudecken, oder zumindest würde man dies dann erwarten. Außerdem müsste diese Phase dann wiederkehren, sobald neue Kinder zur Gruppe stoßen. Beides erscheint mir bisher der Fall zu sein.
Weitergedacht birgt diese Theorie eine weitere Konsequenz in sich: möglicherweise ist es relativ ineffizient, explizite Regeln aufzustellen, um bestimmte Verhaltensweisen in einer Gruppe zu verankern. Regeln sind ja meistens so formuliert, dass sie den Bedürfnissen eines hypothetischen Durchschnittsschülers entsprechen. Aber wenn es möglich ist, sich über Provokation und Aggression gegenseitig so kennenzulernen, dass die wahren Bedürfnisse aller sichtbar werden, könnten als einzige Grundregeln genügen:
Wenn aus Aggression doch Gewalt wird
Es gibt offensichtlich Situationen, in denen es für Schüler ausreicht, ihre Aggression zu zeigen, in dem sie einem anderen Schüler mit lauter Stimme Stopp sagen oder ihn ein Stück weit wegschubsen. Die Situation ist dann für beide Seiten geklärt und wiederholt sich auch nicht mehr. In manchen Fällen bleibt es jedoch nicht dabei. Dann wird beispielsweise immer wieder provoziert, bis die Aggression nach außen unterbleibt und zu einem inneren Groll wird, der sich dann in einer Art „Mega-Aggression“ entlädt, die gefährlich wird. Oder Verletzungen von anderswo werden projiziert. Was auch immer der Grund sein mag, es gibt einen Punkt, an dem aus Aggression Gewalt wird, und dieser Punkt ist ein wichtiger, um als Erwachsener einzuschreiten: wenn eine gewisse blinde Raserei eintritt, die kein Gegenüber mehr sieht, sondern nur noch einen Feind. Wenn ich so etwas bemerke (meistens dauert es einige Augenblicke oder ist vorher schon abzusehen, dann bin ich besonders aufmerksam), trenne ich die Kontrahenten sofort physisch, um eventuelle Verletzungen zu vermeiden. Aber dies kommt eigentlich kaum vor, wenn die Vorstufen ihren Raum bekommen. Vor allem aber sind die Folgen viel schwerwiegender, wenn das nicht der Fall ist, weil dann oftmals gar keine Erfahrung mit dem Umgang des Kontrollverlusts vorhanden ist und z.B. ein Schlag versehentlich viel zu fest geführt wird.
Was hierbei noch interessant ist, ist dass ein physisches Stoppen durch Aggression hier zwar notwendig ist, aber keineswegs ausreicht. Wenn die Schwelle zur Gewalt erst einmal übertreten ist, bleibt sie sozusagen „gespeichert“ und führt in folgenen Konflikten, die durch Aggression gestoppt werden hätte können, rasch wieder zur Gewalt. Deswegen reicht es in diesem Fall nicht, die Kontrahenten nur zu trennen – sie werden sich rasch wieder in die Haare kriegen, und ebenso gefährlich füreinander sein. Diese Konflikte müssen geklärt werden, so dass der andere wieder als ganzer Mensch und nicht nur als Feind gesehen werden kann. Ob die Kinder das jeweils selbst zustandebringen (manche schaffen das tatsächlich) oder mit Hilfestellung Erwachsener bzw. dafür geschaffenen Institutionen wie einem „Lösungskomitee“, ist nicht so wichtig. Aber dass dieser Prozess stattfindet, ist notwendig.
Experiment: Ein Platz für deinen Schmerz
Seit ich mich vertieft mit der Psychotherapie und dem Schmerz beschäftige, finde ich auch den Gedanken interessant, dass es in Konflikten in Wahrheit wohl so gut wie nie darum geht, jemandem die Schuld zuzuweisen, auch wenn es meist von beiden Konfliktpartnern verlangt wird. Es geht darum, den Schmerz anzuerkennen, egal, wie lächerlich der Konfliktgrund scheint, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das Geschehen in vielen Fällen gar nicht die Ursache des Schmerzes ist, der von dem Kind gerade gefühlt wird, sondern nur der Auslöser, sich an andere, tiefere Schmerzen zu erinnern. Deswegen experimentiere ich gerade damit, in solchen Situationen auf Schuldzuweisungen und Richtersprüche zu verzichten, sondern nur für einen sicheren Raum zu sorgen (so dass keiner jemanden auslacht oder anderweitig abwertet) und dann voller Mitgefühl für den Schmerz zu sein, den das Kind gerade fühlt.
Die Idee ist noch zu neu, um sie erschöpfend bewerten zu können, aber bisher wirkt sie wie eine gute Sache. Ein Kind erzählte beispielsweise nach einigen Momenten des da-seins, dass die Sache, um die es dem Anschein nach offiziell ging, „besonders schlimm ist, weil ich heute einen schlimmen Traum gehabt habe“. Da war offensichtlich noch ein Bedürfnis da, die Angst oder den Schmerz des Traumes fühlen zu dürfen, und nun war der Raum da, was ihm wohl gut tat.
Es ist sehr interessant für mich, was nach nicht einmal drei Wochen alles an Persönlichkeit, an Bedürfnissen „meiner“ Kinder aufgetaucht ist, die sich in keinem Lehrplan wiederfinden oder in völlig anderen Klassenstufen als der ihren verortet sind. Ohne den Raum der Authentizität, der sich hier eröffnet hat, würde ich wohl in vielen Fällen ziemlich an ihren Bedürfnissen vorbeiarbeiten. Interessant wird es auch werden, den ersten Elternabend so zu gestalten, dass diesen offensichtlich sehr essentiellen Bedürfnissen auch weiterhin der für sie so wichtige Raum zur Verfügung gestellt werden kann. Immerhin sind diese Bedürfnisse ja möglicherweise jenen, die im Lehrplan vorgegeben und für einen Schüler jener Altersstufe angenommenen Bedürfnisse erst einmal im Weg und fordern ihren Platz ein, was natürlich eine gewisse Verunsicherung auslösen kann. Aber ich glaube, es ist gut, dass es ist, wie es ist, und dass wir uns so kennenlernen, wie wir sind, nicht, wie wir gelernt haben, vorzugeben. Denn nur so können wir auch das, was ist, verändern, wo es notwendig und sinnvoll erscheint.
Niklas