In seinem (sehr empfehlenswerten!) Buch „Mastery“ beantwortet Robert Greene eine Frage, über die ich auch schon viel nachgedacht habe, auf für mich nachvollziehbare Weise: was ist Lernen eigentlich? Lernen ist nach ihm der Umgang mit Komplexität, ist die Verinnerlichung der äußeren Welt in unser Bewusstsein.
Lernen: Komplexität verinnerlichen
Indem wir durch Beobachtung, Erfahrungsaustausch und Tun ein Abbild der äußeren Welt in uns erschaffen, wird diese äußere Welt gewissermaßen zu einem Teil von uns. Als wir als Babys begonnen haben, unsere Muskeln zu bewegen und durch Ausprobieren herausgefunden haben, wie wir sie ansteuern müssen, um unsere Ziele zu erreichen, haben wir die entsprechende Steuerung nach und nach verinnerlicht, so dass wir heute nicht mehr darüber nachdenken müssen, aber einst war das Zusammenspiel unser Muskeln für uns wohl ein ähnliches Rätsel wie der Erwerb jeder neuen Fähigkeit, sei es Gitarre zu spielen, Gedankenexperimenten nachzuhängen oder politisch zu denken und zu handeln.
Er beschreibt auch den Prozess, der zu einer jeden dieser Fähigkeiten führt: kleine Teilfähigkeiten und Teilwissen werden immer wieder bewusst wiederholt, bis sie keiner bewussten Aufmerksamkeit mehr bedürfen, weil die Komplexität der Aufgabe mittlerweile im Bewusstsein so verinnerlicht ist, dass sie auch ohne bewusste Anstrengung gelöst werden kann. Damit ist das aktive Bewusstsein wiederum frei, noch komplexere Zusammenhänge der Welt in sich aufzunehmen. Ein einfaches Beispiel ist der schriftliche Algorithmus beim Addieren. Wer das Addieren von kleineren Zahlen im Kopf nicht beherrscht, für den stellt das schriftliche Addieren mit größeren Zahlen eine viel größere Herausforderung dar als für jenen, der diese „kleinen“ Additionen fast unbewusst schafft, weil er ihre Komplexität bereits in seinem Bewusstsein abgebildet hat.
Die Welt als unser Körper
Meisterschaft, so Greene, zeigt sich irgendwann durch die Fähigkeit, die Welt zu fühlen statt sie bewusst verstehen zu müssen. Dies zeigt sich unter anderem im Unterschied zwischen Fahranfängern und geübten Autofahrern. Während erstere viel Aufmerksamkeit darauf verwenden müssen, alle Verkehrszeichen zu beachten und Verkehrsteilnehmer im Blick zu behalten, funktioniert das Autofahren bei geübteren Fahrern fast ohne bewusste Aufmerksamkeit. Der langjährige Musiker hört irgendwann, ob ein Ton passt, ob Instrument verstimmt ist oder er sich verspielt hat, er weiß, welche Töne zu welchen anderen Tönen passen, ohne es bewusst wahrnehmen oder planen zu müssen. Zu lernen ist den Teil der äußeren Welt, der uns interessiert, so in uns abzubilden, dass wir ihn fühlen können wie unseren eigenen Körper. Und wie wir unsere Körper völlig ohne das bewusste Wissen über die dafür notwendigen elektrischen Signale, die unser Gehirn an ihn sendet, steuern, verändert unser Wille plötzlich die Realität: Das Auto bringt uns an unser Ziel, die Gitarre spielt den gewünschten Akkord, das Werkstück entsteht vor unseren Augen. Wir können mit höherer Komplexität umgehen.
Viele Menschen haben Träume, sie wissen mehr oder weniger genau, was sie wollen. Aber was diejenigen, die ihre Träume auch umsetzen, von jenen, für die sie Träume bleiben, unterscheidet, ist die Bereitschaft, die Realität, die sie verändern wollen, erst kennenzulernen und langsam in sich aufzunehmen. Es ist wie mit unserem eigenen Körper: wenn ich mich weigere, ihn kennenzulernen, wie er ist, weiß ich nicht, wo ich ansetzen kann, ihn zu verändern. Ich muss ihn zu einem Teil von mir werden lassen, um ihn bewegen zu können, und ebenso muss ich alles, was ich in der Welt „bewegen“ will, zu einem Teil von mir, meinem Bewusstsein werden lassen, um zu verstehen, wie ich es bewegen kann – um meinen Willen Wirklichkeit werden zu lassen.
Besser nichts wissen
Dies ist bereits bei rein materiellen Dingen wie einem Werkstück eine komplizierte Sache, aber noch interessanter wird es bei anderen Lebewesen bis hin zu anderen Menschen. Wenn ich den Wunsch habe, dass sich ein anderer Mensch auf eine bestimmte Weise „bewegen“ oder entwickeln soll, muss ich ihn nicht vorher verstehen lernen, intuitiv wissen, wie er innerlich „tickt“? Und spätestens hier wird mir dann selbst klar, wie unglaublich komplex der Beruf des Lehrers eigentlich ist. Ich muss versuchen, eine ganze Reihe an Menschen in all ihrer inneren Komplexität verstehen zu lernen, während diese sich ständig weiterentwickeln. Nur so kann ich mich soweit in sie hineinversetzen, um herauszufinden, ob und wie ich ihnen helfen kann. Dabei muss ich stets unterscheiden lernen, ob ihnen diese „Hilfe“ wirklich von Nutzen ist, oder ob sie meinen eigenen Bedürfnissen entspringt. Nicht, dass meine eigenen Bedürfnisse irrelevant wären, aber es wäre wohl verlogen, sie als die Bedürfnisse anderer zu verkaufen.
Dies impliziert für mich auch die Problematik, dass es sehr schwer ist, die Erfahrungen mit bestimmten Schülern auch auf andere zu übertragen. Wenn ich an meiner Schule im Laufe der Jahre meine Schüler sehr gut kennengelernt habe und für sie ein guter Lehrer sein kann, bedeutet das nicht, dass ich an einer anderen Schule mit anderen Schülern sofort ein ebenso guter Lehrer sein werde. Eine der wichtigsten Ressourcen für einen Lehrer ist somit wahrscheinlich Zeit. Zeit, seine Schüler tatsächlich in ihrem Ich kennenzulernen und sich auf sie einzulassen. Sein schlimmster Feind wäre dann wohl das Bedürfnis zu nennen, „es zu können“, endlich ein guter Lehrer zu sein. Denn damit ersetzt er den langwierigen Prozess des Kennenlernens mit der Abkürzung, nur noch „den Schüler“ zu sehen.
Es ist manchmal unglaublich frustrierend, zu merken, dass man es eben nie „können“ wird, man wird mit der Zeit nur besser darin, sich mit der Idee anzufreunden, dass man trotz aller Erfahrung und Praxis am Ende auch nur ein unwissender Mensch ist, bleiben wird und auch bleiben sollte, um eine eigenständige Entwicklung anderer erst zu ermöglichen.
Niklas