Warum fühlen wir uns manchmal machtlos, fremdbestimmt? Warum führen manche das Leben das sie leben wollen, andere erleiden es nur? Warum werden manche Menschen vor einer Herausforderung aktiv und andere depressiv? Ich glaube mittlerweile, es liegt an der Bereitschaft, sich mit Komplexität zu beschäftigen. Aber urteilt selbst:
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In den letzten Wochen habe ich mich viel mit einem inneren Bild beschäftigt, das zunächst ungewohnt erscheinen mag: wir sind umso freier, je komplexer wir die Welt und uns in ihr wahrnehmen können.
Stellen wir uns, um das Bild zu verdeutlichen, einen sehr simpel aufgebauten Wahrnehmungsapparat eines Menschen vor, nennen wir ihn Hannes. Hannes fühlt sich seinem Problem völlig ausgeliefert. Sein Handlungsspielraum hat keine einzige Dimension, ist – geometrisch betrachtet – im Grunde nur ein Punkt, an dem sein Problem ihn überwältigen wird und er kann nichts dagegen tun:
Der arme Hannes ist seiner Umwelt völlig ausgeliefert. Jemand helfe ihm doch!
Aber nicht mehr lange! Hannes hat gelernt, eine erste Dimension hinzuzufügen, so dass er nun immerhin eine Handlungsalternative in jeder Situation kennt. Geometrisch ließe es sich als Linie darstellen. Stellen wir uns vor, er erkennt irgendwo auf dem Weg vor sich ein Problem. Alles was er auf einer Linie tun kann ist sich dem Problem zu nähern, stehenzubleiben oder vor ihm zurückzuweichen.
Hannes hat sich entschieden vor seinem Problem davonzulaufen. Zum Glück ist er ein guter Läufer!
Was aber, wenn unser Hannes neben der Unterscheidung Tun/Nicht tun auch noch aus verschiedene Handlungsmöglichkeiten wählen könnte, sein Handlungsspielraum sich gewissermaßen verbreitern würde? Wir erhalten ein Rechteck:
Hannes ist schon ziemlich beweglich geworden. Ha, nimm das, Problem!
Unser Hannes hat nun plötzlich die Möglichkeit, seitlich um das Problem herumzugehen und es sich auch von einer anderen Perspektive aus anzusehen. Er muss sich möglicherweise dem Problem auch gar nicht stellen, weil er es umgehen kann.
Wenn nun aber die Lösung zu einem Problem erst sichtbar wird, wenn man es von oben betrachtet, so hat unser Hannes immer noch zu wenig Möglichkeiten, es zu lösen, weswegen wir ihm eine dritte Dimension dazu schenken wollen und einen dreidimensionalen Raum gewinnen, der erheblich mehr Möglichkeiten für unseren Hannes bietet, sein Problem zu überwinden.
Das arme Problem kann weniger Dimensionen wahrnehmen als unser Hannes und findet ihn daher nicht mehr. Der sieht ja mittlerweile ziemlich entspannt aus!
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1. Praktische Anwendungen dieser Erkenntnis
All dies ist den meisten von uns bekannt und wenden wir auch im Alltag an. Faszinierend wird es, wenn wir erahnen dass es mehr als nur drei Dimensionen geben könnte. Wenn uns zwei Dimensionen (Quadrat) mehr Bewegungs-Freiheiten erlauben als eine einzige (Linie), würden uns dann fünf Dimensionen auch mehr Bewegungs-Freiheiten erlauben als drei?
Interessanterweise hilft uns die deutsche Sprache, indem sie ein Wort sowohl im Geometrischen als auch im Sozialen verwendet und uns damit einen Hinweis schenkt: „Tiefe“. Bekommt ein Rechteck Tiefe hinzu, so bekommt es eine zusätzliche Dimension und wird so ein Quader. Wir vertiefen uns in ein Fachgebiet, unsere Arbeit oder Problemstellung.
Ein anderes Wort, das uns einen schönen Hinweis schenkt, ist „genauer“. Wer einen Menschen genauer kennenlernt, sieht mehr als nur oberflächlich, und damit mehr-dimensional. In dem Wort „genauer“ steckt bereits die Erkenntnis, dass wir andere Menschen immer nur in einer gewissen Reduktion ihres ganzen Seins erkennen, über eine Reduzierung ihrer vielen Dimensionen auf jene die notwendig sind um mit ihnen umzugehen. Lernen wir sie genauer kennen, also in einer höheren Komplexitäts-Dimension, so erweitern wir unseren Handlungsspielraum mit ihnen.
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2. Wir wählen die Komplexität, mit der wir Menschen und Problemstellungen betrachten
Wir vergessen dies im Alltag oft, aber das Bild, das wir von anderen Menschen haben, ist immer eine subjektive Reduktion ihrer Gesamtheit, die ihnen nicht gerecht wird. Unsere Beurteilung ihres Verhaltens basiert auf diesem reduzierten Abbild, und gerade weil es reduziert ist und wichtige Dimensionen ihres Seins wegreduziert hat, können wir oftmals Handlungsalternativen für uns selbst mit der Situation umzugehen nicht wahrnehmen.
Einen Drogenabhängigen schlicht als solchen zu betrachten reduziert ihn in unserer Wahrnehmung mehr oder weniger auf einen Strich (was auch interessante Verknüpfungen zu „auf den Strich gehen“ erzeugt wie ich finde). Er kann weiter Drogen nehmen oder damit aufhören, und je nachdem in welche Richtung er sich bewegt würden wir das vielleicht als „gut“ oder „schlecht“ empfinden. In diesem reduzierten Bild ist aber kein Platz für die Komplexität, die Mehrdimensionalität seines ganzen Seins, was es uns erschweren wird ihm wirklich hilfreich zur Seite zu stehen.
Das bedeutet nicht, dass ein jeder von uns alle Menschen in ihrer vollständigen Komplexität und Mehrdimensionalität wahrnehmen sollte oder gar müsste. Es bedeutet aber, dass wir uns dessen bewusst sein sollten, mit welcher Komplexitätsstufe wir gerade einen Menschen oder eine Herausforderung betrachten, und wie gerecht wir diesem in dieser Stufe werden können.
Es ist eine Tatsache, der die wenigsten von uns wohl gerne ins Auge sehen: wir wählen die Komplexitäts-Dimension, mit der wir unsere Umwelt und uns selbst wahrnehmen. Und selbst wenn wir glauben keine Wahl zu haben, dann ist dieser Glauben die Folge einer Entscheidung. Wenn wir mit den Ergebnissen unserer bisherigen Entscheidungen wie wir die Welt und uns selbst betrachten wollen nicht zufrieden sind, haben wir immer die Möglichkeit die Dimension der Komplexität mit der wir die Welt betrachten zu verändern. Wer „keinen Ausweg“ sieht hat sich einen Schritt vorher mit der Wahl seiner Komplexitäts-Dimension durchaus mögliche Auswege verwehrt.
Es bedeutet auch, dass es für uns sinnvoll sein kann, uns in der Wahrnehmung und im Aushalten von Komplexität zu üben. Je mehr Handlungs-Spielraum wir uns selbst unabhängig von der äußeren Situation schaffen können und je geübter wir im „Umschalten“ werden, desto größer unsere Chance, zufrieden und glücklich zu werden und zu bleiben.
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3. Dimensionen erhöhen, um Handlungsspielraum zu gewinnen
Ein jeder Mensch ist für sich selbst gewissermaßen ein soziales System, und das aktive Bewusstsein ist nur ein Akteur von vielen anderen darin, etwa dem Unterbewusstsein.
Wenn wir uns darin üben, im Außen wie im Innen zwischen verschiedenen Komplexitäts-Dimensionen zu wechseln, dann entdecken wir womöglich mit der Zeit auch in unserem Inneren gewisse „lineare“ Abläufe, oder gar „Punkte“, die für ein „ich bin dem ausgeliefert“ stehen wie bei unserem Hannes weiter oben.
Aus einem „Ich bin dem ausgeliefert“-Punkt kann relativ einfach eine „Ich kann eine Veränderung anstreben oder nicht“-Linien-Dimension werden. Ist das „Ich kann eine Veränderung anstreben“ noch zu gruselig, so kann man versuchen, eine weitere Dimension hinzuzufügen, um mehr inneren Bewegungsspielraum zu erlangen, bis plötzlich gangbare Handlungsalternativen sichtbar werden.
Am einfachsten funktioniert das (zumindest für mich), wenn man sich daran gewöhnt, es tatsächlich als „Spiel-Raum“ zu betrachten. In der Mechanik gibt es ja den Begriff des „Spiels“, der eine Bewegungsfreiheit beschreibt, und auch hier geht es darum, aus einer gefühlt beengenden und problematischen Situation mit Hilfe seines Bewusstseins in einen größeren Freiraum zu gelangen in dem man genügend Handlungs-Alternativen vorfindet um auch eine zu entdecken die wahrscheinlich konstruktiv sein wird.
Ein kleiner Tipp: Humor ist gewissermaßen eine Abkürzung, die aus einer niedrigen Komplexitäts-Dimension („Ich muss den Artikel heute noch abgeben aber mir fällt nichts ein!“) einen großen Freiraum schaffen kann („Oder ich schreibe einfach darüber wie schwierig es ist zu schreiben. Da fällt mir viel ein dazu, da bin ich ja Experte drin!“).
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4. Dimensionen verringern, um Aufmerksamkeit freizuschaufeln
Das Spiel funktioniert übrigens auch umgekehrt: wer sich in Problemen oder Mitmenschen gerne mal verzettelt ist möglicherweise in zu vielen Bereichen in einer zu hohen Dimension involviert. Es stellt sich die Frage, in welchen Bereichen man nicht vielleicht die Dimension der eigenen Wahrnehmung herunterschrauben könnte – weil man sich ohnehin darauf verlassen kann dass der jeweils andere das schon richtig macht, selbst wenn man ihm nicht alles lang und breit und komplex erklärt.
So kann die Kommunikation zwischen Chef und Mitarbeiter beispielsweise reduziert werden auf die Dimension der Erwartungen aneinander und den Konsequenzen wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden. Das Warum der Erwartungen, obwohl sicher interessant an sich, ist möglicherweise irrelevant für die Ausführung, und wenn einer oder beide ohnehin gestresst sind kann hier Aufmerksamkeit „eingespart“ werden.
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5. Ich kann doch nicht einfach… doch, du kannst!
Mit Komplexitätsdimensionen frei spielen zu lernen braucht Zeit und Praxis. Es wird möglicherweise nicht immer gleich gut klappen, aber es lohnt sich, sich darin zu üben, weil es die Fähigkeit verleiht, inneren Freiraum auch in den äußerlich einengendsten Situationen zu schaffen. Vermutlich ist es diese Fähigkeit, die Menschen wie Viktor Frankl ein KZ überleben ließen oder einen Nelson Mandela seinen jahrzehntelangen Gefängnisaufenthalt.
Es gibt zumindest einen großen inneren Widersacher in dieser Teildisziplin der Kunst des Bunterrichtens: die Anhaftung. Aber dazu mehr in weiteren Artikeln.
Fürs erste möchte ich euch die Empfehlung geben, euch immer wieder mal für ein paar Minuten darin zu üben, Komplexitäts-Dimensionen in eurer Wahrnehmung zu verändern. 1x/Tag als fixes Ritual funktioniert für mich gut, am besten verknüpft mit wiederkehrenden Ereignissen wie „immer morgens nach dem Aufwachen“ oder „immer vor dem Duschen“ – aber wie das genau für euch am besten funktioniert findet ihr am besten selbst heraus.
Viel Freude damit!
Niklas
P.S.: Ich hoffe ihr habt Freude an meinen kleinen Zeichnungen, falls ja werde ich mich bemühen öfter welche einzusetzen. Bringen ein wenig Farbe in die langen Texte, und machen auch Spaß beim Malen 🙂