Eines der großartigsten Bücher für mich – und eines der wenigen, die ich immer wieder lese, weil ein jedes Neu-Lesen mir neue Erkenntnisse bringt – ist ein Gedichtband und über 2000 Jahre alt: das Tao Te King. Ein Konzept, dass sich in mehreren der 81 kurzen darin enthaltenen Gedichte wiederholt, ist jenes des „Tun, ohne zu tun“. Zu sagen, ich hätte die Bedeutung des Prinzips völlig verstanden, wäre wohl anmaßend, aber ich denke, ich habe für mich eine praktische Anwendung für den Unterricht gefunden. Anfangs mag dieses Konzept ein wenig ungewohnt wirken, aber an sich ist es nicht sonderlich schwierig umzusetzen – und eine sehr mächtige Quelle des qualitativen Lernens für Schüler.
Es gibt allerdings eine Voraussetzung: man muss als Lehrer bereit sein, ergebnisoffen zu arbeiten. Ich glaube, im Grunde tun wir das ohnehin, weil die Idee der Kontrolle eines anderen Lebewesens eine Art der Illusion darstellt, aber sich völlig in die Idee zu versenken und die Implikationen anzunehmen ermöglicht noch einmal ganz andere Handlungsräume. Mein direkt und bewusst formender Einfluss auf meine Schüler ist (auch wenn es für das Ego schmerzlich sein mag) tatsächlich eher gering. Die übergeordnete Wahrheit ist nicht „der Schüler tut, was ich ihm als Lehrer sage“, sondern vielmehr „Was ich als Lehrer tue oder unterlasse, hat Konsequenzen“. Ich habe als Lehrer zwar Einfluss, aber keine Kontrolle über die Entwicklung der mir anvertrauten Schüler, und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem ein Schüler zum ersten Mal zu denken wagt, dass er zuwiderhandeln könnte. Die Illusion der Kontrolle lässt sich nur aufrechterhalten, solange alle Beteiligten fest daran glauben.
Lehren, ohne zu lehren
Die Methoden, die wir an der pädagogischen Hochschule lernen sollten, basierten im Grunde in all ihren Unterschieden alle auf der Grundidee der äußeren Kontrolle des Lernens des Schülers, seien es „klassische“ Methoden oder „modernere“ wie der Planarbeit: das Tun des Schülers ist sehr eng vorgegeben, damit er auch zum „richtigen“ Ziel seines Tuns kommt, und je nach Unter- oder Überforderung des Schülers bekommt er eben mehr oder weniger Hilfe, leichtere oder schwierigere Aufgaben. Die Differenzierung erfolgt durch den Lehrer, für die Schüler. Mein Ansatz dreht das alles auf den Kopf. Ich gebe keine verpflichtenden Wege vor, um Ziele zu erreichen, und selbst die Ziele selbst sind bis zu einem gewissen Grad offen, weil kriterienbasiert. Dadurch entsteht automatisch eine Differenzierung anhand der tatsächlichen Fähigkeiten der Schüler, sie arbeiten exakt auf dem sie fordernden Niveau, arbeiten an für sie relevanten Zielen und sind trotzdem durch gemeinsame Kriterien in ihrem Tun verbunden (und können sich dadurch gegenseitig weiterhelfen).
Beispiele der Anwendung
Ein Bereich, in dem ich sehr stark mit diesem Prinzip gearbeitet habe, ist das Theaterspielen in meiner Deutsch-Klasse. Da die Klasse ganz wild aufs Theaterspielen war, habe ich versucht, immer wieder im Stundenplan Platz dafür zu finden und ihnen dabei zu helfen, ihr Theaterspiel weiterzuentwickeln. Anfangs war „Theater spielen“ für die Schüler noch eher ein „Ich mache irgendwas und andere schauen zu“, aber innerhalb weniger Wochen entwickelten sie sich enorm weiter. Alles, was es offensichtlich dazu brauchte, waren verschiedene von mir gestellte Aufgaben, die den oben genannten Prinzipien folgten.
Beispielsweise war ein Auftrag, als Gruppe ein kleines Theaterstück zu entwickeln, bei dem die Schauspieler selbst nicht sprechen dürfen, es einen Erzähler gibt der die Hintergrundinformationen erzählt und einen „Soundeffekt-Manager“ der eben Sounds sowie Dialoge beisteuert – das waren die Kriterien, die Art des Theaterstücks und was exakt passiert war frei. Unter anderem erwuchs daraus das Verständnis, dass es notwendig sein kann, die Geschichte vorher aufzuschreiben und z.B. Dialoge zu notieren, damit die verschiedenen Rollen (Erzähler, Soundeffekt-Manager und Schauspieler) auch tatsächlich synchron spielen können. Ein anderes Mal war es der Auftrag, aus einem zuvor geschriebenen Dialog ein Stück zu machen, bei dem man den Ursprungs-Dialog noch erkennen konnte (weil vor der Übung kaum Bezug auf vorherige Arbeiten genommen wurde). Anhand der Ergebnisse der jeweiligen Theaterstücke entwickelte ich dann jeweils Kriterien für neue Aufgaben, die bei Erfüllung einen Lernzuwachs darstellten, egal wie die konkrete Lösung jeweils war. Die Fortschritte waren beeindruckend, die Motivation riesig, und neue Erkenntnisse – selbst wenn sie nur in einer Gruppe erarbeitet wurden – verbreiteten sich rasch auch in den anderen Gruppen (nachdem zum ersten Mal ein Erzähler verwendet wurde und erkannt wurde, wie viel besser man dadurch die Geschichte versteht, gab es beispielsweise kein Stück mehr ohne Erzähler, auch als ich das Kriterium gar nicht mehr nannte). Nach einigen Wochen schaffte es eine Gruppe zum ersten Mal durchgängig, die wahrscheinlichen Reaktionen des Publikums vorauszuplanen und etwa eine bestimmte Stelle punktgenau lustig zu machen. Im Vergleich zu den ersten Versuchen nur wenige Wochen zuvor war die Entwicklung ein Wahnsinn.
Ich entwarf auch häufig Aufgaben für Präsentationen, so sollten die Kinder beispielsweise ein Produkt wählen oder erfinden und dann vor der Klasse so präsentieren, dass die anderen Schüler es kaufen wollten. Ein andermal sollten sie sich einzeln oder als Gruppe vorstellen, sie bewerben sich für ein Weltraumunternehmen und hätten ein Vorstellungsgespräch, der Rest der Klasse spielte die „Firmenbosse“ – Kriterium war, eingestellt zu werden. Oder die Klassensprecherwahl (Kriterium: so präsentieren, dass man gewählt wird), bei der sich von selbst „Parteien“ bildeten, die sich gemeinsam präsentierten – von Wahlplakaten, Wahlgeschenken, Wahlprogrammen, Unterstützungs-Händen (wie beim Baseball, diese aufgeblasenen Hände) gab es alles Mögliche und Denkbare. So ganz nebenbei entstand dabei auch noch ein Verständnis für eine gewisse Adressatorientierung der Präsentationen, je nach definiertem Zielpublikum wurden die Präsentationen von den Kindern auch anders gestaltet.
Zunehmend haben die Schüler dann auch von sich aus Texte geschrieben und mir mitgebracht bzw. erfundene Charaktere in Theaterstücke eingebaut. Besonders beeindruckt war ich von einem Video, das eine Schülerin zuhause mit ihrer Familie aufbauend auf einen Dialog, den ich die Schüler als Hausübung schreiben lassen hatte (Kriterium: Dialog/Szene mit möglichst vielen direkten Reden), gedreht hat. Da wurde gebastelt, sich verkleidet, wurden als Familie Dialoge auswendig gelernt, alles gefilmt und mitgebracht – ohne dass ich je darum gebeten habe. Hätte ich versucht, all das über den Ansatz der Kontrolle zu erreichen, wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit gescheitert. So jedoch können die Schüler tatsächlich und auf eigene Initiative über sich selbst hinauswachsen. Ich habe ihnen häufig gesagt: „Überrascht mich“, und im Grunde wurde ich nie enttäuscht. Selbst das Kontrollieren der Texte, für viele Lehrer eine Qual, war für mich eine Freude, weil die Ergebnisse so unterschiedlich und immer neu waren anstatt sich einem vorgeplanten Ziel anzunähern.
Tun, ohne zu tun = Faul sein?
Das Seltsamste an dem Prinzip ist es wohl, dass man von außen aussieht, als würde man „nichts tun“, wobei es wohl eher eine sehr erfolgreiche Umsetzung des im Tao Te King beschriebenen „Tun, ohne zu tun“ ist (Kommentar einer Beobachterin: „Ich sehe hier keinen Unterricht“). Es schafft Räume für Schüler, aktiv zu werden und diese Räume mit dem zu füllen, was sie geben können, aktiviert und inspiriert sie. Im Tai Chi gibt es das Prinzip, dass zur Erreichung eines Ergebnisses möglichst wenig Energie verschwendet werden soll, und das Prinzip habe ich nach bestem Wissen und Gewissen umgesetzt. Das Ergebnis waren begeisterte und aktiv lernende Schüler.
In gewisser Weise dürfte das Prinzip des „Tun, ohne zu tun“ wohl für viele Lehrer schon alleine deswegen schwer zu akzeptieren sein, weil damit ihre eigene Rolle in Frage gestellt zu sein scheint. Wenn ich „nichts“ tue und die Schüler die ganze Arbeit machen, warum bin ich dann noch hier? Womit begründe ich mein Gehalt dann eigentlich noch? Nur: es macht eben einen Unterschied, „nichts“ tun zu können oder nicht hier zu sein. Im Tao Te King wird es als eine der höchsten Künste dargestellt, zu führen, ohne zu führen – gemeint ist für mich eben zu führen unter Aufgabe der Illusion der Kontrolle. Der größte Anführer einer Gruppe ist laut Tao Te King einer, dessen Anwesenheit und Beitrag zum Gelingen die Mitglieder einer Gruppe gar nicht merken, weil er ihnen nicht im Weg steht sondern sie unterstützt und nur dann führt, wenn sie ihm diese Macht gewähren oder wenn es notwendig ist, Unrecht aufzuhalten (und selbst dann nur so viel Gewalt anwendet, wie zwingend notwendig ist).
Das größte Hindernis zu lehren ohne zu lehren ist wohl das eigene Ego. Wer sich selbst sehr wichtig nimmt, braucht die Anerkennung, muss der deutliche Verursacher des Lernerfolges sein. Tatsächlich ist der Lehrer auch bei diesem Zugang sehr wichtig und nicht ersetzbar oder ganz entfernbar, nur muss der Lehrer dabei lernen, sich selbst zurückzunehmen und sich nicht aufgrund seines eigenen Geltungsdranges aufzudrängen, wo es gar nicht notwendig ist. Wahrscheinlich ist es auch ein Stück weit Charaktersache, ob einem diese Art zu unterrichte liegt oder nicht. Wichtig ist mir jedoch aufzuzeigen, dass sie durchaus – und zwar mit beeindruckenden Ergebnissen sowohl was Begeisterung als auch tatsächliche Leistungen betrifft – funktionieren kann, auch wenn bereits vor über 2000 Jahren festgestellt wurde, was heute immer noch wahr zu sein scheint:
“Teaching without words and work without doing
Are understood by very few.”
– Tao Te King, 43 –
Niklas