Lebendige Eintrittskarten

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Für heute hatte mich meine Schwester gebeten, ihr bei der Vorbereitung auf die Mathematik-Matura behilflich zu sein. Wir fuhren also gemeinsam an einen See, sprangen ins Wasser und legten los. Differentiale. Beschämt musste ich feststellen, dass ich zwar den ungefähren Vorgang noch wusste, aber die meisten der Beispiele nicht mehr zusammenbrachte. Später, in der Finanzmathematik, ging es dann besser, aber auch hier war ich mehr Mit-Schüler als allwissender Lehrer, der die richtigen Lösungen parat hatte. Mir wurde wieder einmal heftig bewusst, wie oft ich diese Integrale in meinem bisherigen Leben wirklich verwendet hatte, und in welchen Situationen: selten, und wenn, dann um sie anderen zu erklären, die ähnlich wenig Sinn darin fanden.

Wie oft wurde mir erklärt, ich würde diese Integrale und Differentialgleichungen (und vieles mehr) noch brauchen, ich solle keine dämlichen Fragen stellen, natürlich hätten sie einen Sinn, würden in jedem Flugzeug und jeden Gefrierschrank untrennbar eingewoben sein. Aber ich kenne exakt zwei Personen, die diese ganzen Gleichungen jemals in praktischer Anwendung erlebt haben, und beide arbeiten hier in Linz an der Uni. Weniger als ein Promille der Menschen, die ich kenne, verwenden in ihrem Leben je einen Bruchteil der in der Schule verlangten Fertigkeiten. Viele scheitern bereits am Weg, bleiben zurück, sie waren eben nicht gut genug, „minderwertig“ vor den Höhen der Mathematik. Mehr noch quälen sich durch Prüfungen, erlangen die Noten, die Papiere, und geben sich dem Vergessen hin.

Müllschlucker

Es scheint sich um ein Naturgesetz zu handeln, dass alles, was wir nicht anwenden können, irgendwann in Vergessenheit gerät. Ich konnte diese Differenziale, ich konnte diese Zinsberechnungen, denn irgendwann wurde mir erzählt, sie würden mich zu einem Erwachsenen machen, wären eine Art von Mindest-Statussymbol, das es zu erlangen galt. Tatsächlich erscheint mir heute ein eklatanter Unterschied zwischen dem Papier, dass mir ausstellt, Integrale zu beherrschen, und meiner tatsächlichen Fähigkeiten zu bestehen. Papier verbleibt bedruckt, während meine Impressionen, meine Fähigkeiten, stetig erneuert werden müssen, um nicht vom schwarzen Loch des Vergessens verschluckt zu werden.

Die Art und Weise, wie wir Prüfungen heute verwenden, um Wissen und Fähigkeiten sicherzustellen, ist für mich nicht sehr effizient. Einerseits geht sie davon aus, dass dieses Wissen und diese Fähigkeiten statisch wären, dass einmal erlangte Fähigkeiten sich später nicht mehr erweitern oder verloren gehen. Andererseits gehen wir davon aus, dass ein gewisses Grundmass an Wissen und Fertigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben eines Menschen dafür sorgen, dass dieser Mensch eines selbstständigen Lebens fähig ist und dann sich selbst überlassen werden kann.

Natürlich gibt es neben der Matura auch andere Prüfungen, die diskussionswürdig sind, aber ich werde sie hier als Beispiel heranziehen. Meine Schwester wird also nun, um die Matura (und damit eine Berechtigung für ein Studium und damit beispielsweise erst der Lehramtsberechtigung) zu bestehen, sich mit Integralen herumschlagen müssen, obwohl sie diese mit grosser Wahrscheinlichkeit nach der Matura nie wieder verwenden und damit vergessen wird. Eine Art von Prüfung für alle Menschen, bevor sie ihr Studium antreten dürfen. Ebenso die Schularbeiten, Tests und anderen Prüfungen bis hinab zu Volkschulen. Das hält sie am Lernen, hält sie in Schach.

Müllvermeidung

Carl Rogers, und nebenbei auch Ivan Illich, sind nicht gegen Prüfungen an sich, sondern gegen ihre heutige Form der Diagnose, der Beschränkung und der Generalität. Sie schlagen vor, Prüfungen als Eintrittskarten zu gestalten, die die Nutzung bestimmter Ressourcen eröffnen. Ein bestimmter Meister verlangt gewisse Vorkenntnisse, bevor er sich bereit erklärt, sich mit dir abzugeben. Der freie Zugang zu einer potentiell gefährlichen Maschine ist erst nach Ablegen einer Sicherheitsprüfung geeignet. Die Prüfung wird freiwillig abgelegt, weil ihr Bestehen ein Mehr an Freiheit bedeutet, und wird freiwillig gemieden, wenn der Nutzen subjektiv nicht sinnvoll erscheint. Es handelt sich um Eintrittskarten für gewisse Bereiche, nicht für das Leben an sich, wie es eine Matura darstellen kann.

Wenn diese Prüfungen jederzeit freiwillig abzulegen sind, ermöglichen sie eine transparente Steuerung von individuellen Grenzen abhängig von den individuellen Fähigkeiten des Einzelnen. Die derzeit übliche Form der Einteilung in Klassen kann einer freien Zusammensetzung, nur eingeschränkt durch diese Grenzen, weichen.

Eine Trennung der Prüfung vom Lernweg, wie sie Illich bereits vor über 40 Jahren vorschlug, bedeutet auch eine Öffnung der möglichen Lernwege. Wer eine Prüfung bestehen möchte, um in den Genuss der entsprechenden Vorteile an Freiheit zu kommen, weiss, was verlangt wird und kann seinen als effektivsten empfundenen Lernweg gehen, ob dieser darin besteht, zu lesen, Videos zu sehen, mit Mitschülern, Freunden, Lehrern gemeinsam zu lernen oder alleine. Nicht einmal der Schulbesuch selbst ist eine wichtige Komponente – wie viele lernen ausserhalb der Schule weit mehr als innerhalb ihrer kargen Mauern!

Noten als Unterscheidungsmerkmale zwischen Lernern verlieren ihre Bedeutung, wenn es keine Merkmale für alle mehr gibt und verschiedene Lernkarrieren unterstützt werden, und so auch zeitlich bedeutsame Vermerke über Leistungen. Prüfungen werden bestanden oder nicht, und nichts als das Datum des Bestehens und das Faktum, bestanden zu haben, sind dabei wichtig, nicht, ob es der fünfte Versuch war oder die vorherigen miserabel sein sollten.

Die Entscheidung, das Lernen von den Prüfungen zu trennen, kann gewaltige Konsequenzen haben. So wird es erleichtert, intrinsisch, wegen der Sache selbst, zu lernen, wenn keine Prüfungen im Nacken sitzen. Einen jedem ist es möglich, in seinem Tempo die für ihn wichtigen Prüfungen abzulegen, wann er sie für wichtig hält, ob mit fünf, fünfzehn, 20 oder 67, und da die Prüfungen freiwillig sind, wird der Anteil an sinnfreiem Lernen (und Vergessen) wohl erheblich reduziert werden. Für mich und meine Schwester wird es wohl leider schon zu spät sein, in den Genuss dieser Vorteile zu kommen.

Aber meinen zukünftigen Kindern wünsche ich es.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

Nächste Veranstaltungen