Leben und Lernen in Dualitäten

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Eine Freundin von mir sagte mir vor ein paar Tagen, sie würde gerne lernen, so friedfertig wie ich zu leben, und tatsächlich kann ich mit gutem Gewissen behaupten, dass ich auf viele meiner Mitmenschen wohl eine harmonisierende Ausstrahlung habe, während sie aus Gründen, die mir nicht ganz klar sind, oft mit ihren Mitmenschen in Konflikt gerät. Und so sehr ich mich manchmal über unnütze Konflikte ärgere, wird mir doch zunehmend bewusst, dass ich mich in meiner friedfertigen Welt ohne Menschen wie sie nicht sehr wohl fühle. Ich glaube, wir Menschen brauchen den Konflikt ebenso notwendig wie die Harmonie. Die Art und Weise, Konflikte auszutragen, halte ich oft für verbesserungswürdig, aber ich merke, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich auf Dauer in einer zu harmonischen Umgebung lebe. Harmonie ist wunderbar ent-spannend, aber es fehlt dann auf Dauer die Spannung.

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Konflikte als etwas „Schlechtes“ wahrgenommen wurden und damit zu einem recht erfolgreichen Konflikt-Vermeider geworden. In vielen Situationen ist das eine sehr hilfreiche Eigenschaft, in anderen steht es mir jedoch auch im Weg. Dadurch, dass Konflikte für mich nichts Alltägliches, sondern Katastrophen waren, ist es für mich schwer nachzuvollziehen, dass man sich nach Konflikten auch wieder verstehen kann, während es für jene Freundin schwer nachvollziehbar ist, wie man Konflikten derart aus dem Weg gehen kann, weil man sich ja ohnehin danach wieder in die Arme nimmt und gerne hat. Ich bin ihr sehr dankbar, dass ich durch sie lernen konnte, dass Konflikte nicht das Ende der Welt (oder zumindest von Beziehungen) sind, sondern ein essentieller und ebenso wertvoller Teil des Lebens.

Ein-samkeit

Ein Kollege in meiner Schule, der sich viel mit dem Buddhismus beschäftigt hat, hat mir erklärt, dass viele Konflikte in der Welt aus der Illusion der Menschen entstehen, dass wir in der gleichen Welt leben (bzw. diese gleich wahrnehmen) und dann enttäuscht sind, dass der Andere anders als erwartet handelt. Wenn ein bestimmtes Handeln aus unserer Sichtweise völlig logisch erscheint, dann muss jemand, der anders gehandelt hat, das absichtlich getan haben, und wenn dieses Handeln mir schadet, dann will er mir folglich schaden. Er meinte auch, dass es eine sehr wunderbare Erfahrung sei, tatsächliches Verständnis für die individuelle Sichtweise des Anderen, tatsächliches Verstehen zu erleben, das die Illusion der Gleichheit ablöst.

Mein Kollege ist – soweit ich das beurteilen kann – ein eher kopflastiger Mensch, der Sachverhalte gerne rational erfasst und von Prinzipien ableitet, wohingegen ich mich eher als jemanden bezeichnen würde, der Sachen „erspürt“ und aus diesen Ahnungen dann das ableite, was ich zu wissen glaube. Ich kenne diese Übereinstimmung zwar auch aus Gesprächen, aber weit intensiver aus einer Art „energetischen“ Übereinstimmung mit anderen (ich mag das Wort nicht so gerne, aber mir fällt kein besseres dafür ein). In jenem Zustand fühle ich mich mit anderen sehr verbunden, kann ihre Gefühle und Ängste nachfühlen, und was ich will, will auch der Andere. Es ist, als würde ich in jenen Momenten die Grenzen meines eigenen Körpers überwinden und seelisch mit anderen verschmelzen, für einige Momente eins mit ihnen sein. Es fühlt sich dann ein bisschen so an, als würde ich hingebungsvoll Gitarre spielen. Dann wird die Gitarre zu einem Teil des Körpers und meine Finger bewegen die Seiten ebenso unbewusst, wie die Muskeln in meiner Hand meine Finger bewegen, wenn ich spiele. Die Trennung voneinander löst sich dabei auf. Es ist ein Zustand völliger Harmonie, völliger Entspannung. Konflikte kommen erst wieder ins Spiel, wenn die Trennung spürbar wird und wir uns wieder „von außen“ begegnen.

Zwei-Samkeit

Die letzten Tage habe ich bei meinem Vater verbracht, in dessen Haus für mich seit einigen Jahren eine unglaublich entspannende Atmosphäre wirkt. Normalerweise fällt es mir schwer, freie Zeit zu nutzen, mich zu entspannen, doch in diesem Haus überfällt es mich regelmäßig. Und so habe ich den 25. Dezember eigentlich nur damit verbracht, im Wohnzimmer auf einer Couch zu liegen und mich damit ganz wohl zu fühlen. Niemand schrieb mir vor, was zu tun war, nicht einmal ich selbst fühlte mich müßig, unbedingt etwas erledigen oder tun zu müssen. Es war eine sehr entspannte Zeit, und sehr schön. Doch schon am 26. wurde es mir innerlich irgendwie zu viel der Harmonie. Also ging ich laufen, arbeitete an einem Gedicht, kurz: entfloh der Harmonie des süßen Nichts-Tuns. Es wird mir einfach nach sehr kurzer Zeit auch wieder zu langweilig. Vielleicht bin ich besonders sensibel für jene Bedürfnisse, aber ich denke, dass es uns allen so geht, dass wir ein Bedürfnis nach einem Wechsel von Spannung und Entspannung, von Harmonie und Konflikt, von Eins-Sein und Trennung haben.

Leben in Dualitäten

Es ist für mich eine der genialsten Erfindungen des Lebens, Konstruktion und Destruktion, Aufbau und Zerstörung als notwendige Bedingung für seinen Weiterbestand festzulegen, den Tod zur Grundbedingung für das Leben einzuführen. Als die Schlange Eva den Apfel anbot, der ihr das Wissen über Gut und Böse eröffnen würde, bat sie ihr das Leben selbst an, denn Leben ist Veränderung, und es kann ein „Gut“ nur in Abhängigkeit von einem „Bösen“ geben, ein „kalt“ nur in Relation zu einem „warm“, eine „Freude“ nur in Relation zu einem „Leiden“, ein Wachsen nur in Relation zu einem Schwinden und den Fortbestand einer Idee, etwas Bestehendem nur in einem stetigen und ausbalancierten Wechsel zwischen diesen Dualitäten. Was bestehen soll, muss gehen und wiederkehren können.

Gestern habe ich mir einen alten chinesischen Film angesehen, in der eine Frau einige faszinierende Sätze sprach. Sie meinte, sie hätte einen Mann nicht heiraten wollen, weil er ihr nicht sagen wollte, dass er sie liebte, auch wenn sie wusste, dass er sie liebte, denn sie hatte geglaubt, Worte würden länger leben als Gefühle, die doch stets vergehen. Doch sie hätte sich geirrt: Alles würde vergehen, und nun hätte sie die Blütezeit ihres Lebens ohne den Mann verbracht, der sie doch geliebt hatte.

In all dem natürlichen Fluss des Lebens und der Seele zwischen den Dualitäten scheinen wir Menschen uns doch nach der Beständigkeit zu sehnen, wollen etwas dem Tod entreißen, wollen schaffen, was auch in Zukunft, was auch nachdem wir gegangen sind noch besteht. Es mag paradox erscheinen, doch mir scheint es, als würde nur jenes die Jahre überstehen, was wir bereit sind aufzugeben. Nur Weltbilder, denen ich der Disharmonie abweichender Erkenntnisse aussetzte, konnten stärker wiederauferstehen, wohingegen alle fixen Ideen irgendwann an der Realität zerbrechen mussten. Nur die Liebe, die (oft schmerzlich) verblassen durfte, kehrte mit neuer Macht wieder, weil der Wunsch nach Eins-Sein nur im Wechsel mit dem Wunsch nach Zwei-Sein aufrecht bleiben kann, der Wunsch nach Harmonie nur in Disharmonie entstehen kann und das Bedürfnis nach Spannung nur in der Entspannung.

Und die Pädagogik?

Wer diesen Blog schon länger verfolgt, wird vermutlich schon festgestellt haben, dass ich hier eine bunte Mischung aus praktischen Erfahrungsberichten, pädagogischen Spekulationen und allgemeinen Lebenserfahrungen veröffentliche. Dies hat den Grund, weil ich davon ausgehe, dass Pädagogik am Ende des Tages hauptsächlich Menschenkunde ist, und auch in der Menschenkunde an die Dualität der Harmonie (des Verstehens) und der Disharmonie (des Missverstehens) glaube. Es wird menschliche Eigenschaften geben, die sich auf andere Menschen, andere Situationen übertragen lassen, und welche, die eher speziell zu sehen sind, doch ich glaube, dass es wertvoll ist, eine Fülle an möglichen „Menschlichkeiten“ wirklich verstehen zu wollen. Einerseits hilft es dabei, andere Menschen besser zu verstehen, andererseits ist es eine schöne Idee, dass wir den jeweils anderen wohl niemals völlig verstehen werden. Denn dies bedeutet, dass er uns noch überraschen, dass er uns noch zum Staunen bringen kann.

Und anderen Menschen mit dieser interessierten Einstellung zu begegnen ist für mich schon an sich ein Grundpfeiler sinnvoller Pädagogik.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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