Kunst und Wissenschaft

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Als ich gestern mit einem Freund Linz über einen spontanen Spaziergang ohne Ziel in Richtung Osten erkundete, entwickelte sich ein Gespräch über das Wesen der Wissenschaft, dessen (vorläufige) Erkenntnisse ich hier mit euch teilen möchte.

Erfahrung und Wissen

Bevor wir uns mit dem Wesen der Wissenschaft beschäftigen können, müssen wir uns erst dem unterschiedlichen Wesen von Erfahrung und Wissen zuwenden. Erfahrung, das ist das Ergebnis subjektiven Erlebnisses. Ein Kind beobachtet, wie eine Nuss von einem Nussbaum fällt. Beobachtet, wie ein Glas vom Tisch auf den Boden fällt und zerbricht. Mit dem Zuwachs von Erfahrungen in seinem Leben gewinnt es möglicherweise die Erkenntnis, das Wissen, dass Dinge zu Boden fallen, und kann aufgrund dieses Wissens vorhersagen, dass ein Gegenstand, den es in Zukunft auslassen wird, ebenso zu Boden fallen wird. Wissen entsteht aus der Fülle von Erfahrungen, aus denen Ähnlichkeiten abstrahiert und zu Gesetzen zusammengefasst werden.

Nun besteht unser Wissen nicht nur aus unseren eigenen Erfahrungen und den Abstraktionen daraus. Unsere Zivilisation würde völlig anders aussehen, gäbe es nicht die Möglichkeit, Wissen zwischen Menschen zu übertragen. Ein großer Anteil unseres Wissens besteht aus diesem erlernten Wissen, das nicht auf eigener Erfahrung basiert.

Das Wesen der Wissenschaft

Die Wissenschaft geht sehr ähnlich vor wie das Kind, das aus seinen Beobachtungen und Erfahrungen Wissen abstrahiert, wobei sie die Erfahrungen, die zum abstrahierten Wissen führen, zu einem großen Teil durch weiteres Wissen ersetzt hat. Eine fast endlos zurückverfolgbare Kette von Zitierungen verbindet die heutige Wissenschaft mit ihren Anfängen, als Wissen tatsächlich noch weitgehen aus tatsächlicher Erfahrung abgeleitet wurde.

Die Wissenschaft schafft ein allgemein akzeptiertes Weltbild, oder zumindest zeigt sie Tendenzen dazu. Sie möchte aus vielen Erfahrungen ein Wissen formen, eine Wahrheit. Hannah Arendt schrieb in ihrem Buch über Totalitarismus, dass die Menschen unter Hitler oder Stalin an einem akuten Gefühl von Gottverlassenheit litten. Die kirchlichen Autoritäten verloren an Macht, und damit auch das allgemeine Wissen über die Welt. Die Welt drohte in verschiedene Erfahrungswelten auseinanderzubrechen, die keine Identifikation mit den Nachbarn mehr ermöglichte. Alleine die Abneigung, die hier in Österreich Migranten gegenüber im Vergleich zu gegenüber Österreichern oft beobachtbar ist, zeigt, wie sehr unser Zusammenleben von der Identifikation durch gemeinsame Werte, gemeinsames Wissen, geprägt ist. Fällt diese Identifikation, fallen die Grundfesten unseres Zusammenlebens.

Totalitäre Ideologien lassen sich, nimmt man die Prämissen, auf denen sie basieren, als Wahrheit an (im Nationalsozialismus etwa: es gibt den Rassenkampf im Darwin’schen Sinne), erschreckend wissenschaftlich daraus ableiten. Die Wissenschaft wurde als wahre Interpretation von Gottes willen, Hitler als Inkarnation Gottes gefühlt. Arendt schreibt auch über das Gefühl der Sicherheit, dass die Mitgliedschaft oder zumindest Sympathie zur NSDAP auslöste. Es war „wissenschaftliches“ Wissen, das sie einte, in einer Zeit, als alles alte Wissen seine Gültigkeit zu verlieren drohte.

Das Wesen der Kunst

Während die Wissenschaft darauf ausgelegt ist, eine Wahrheit aus den vielen Perspektiven und subjektiven Erfahrungen herauszukristallisieren, arbeitet die Kunst genau in die andere Richtung. Sie nimmt, was als eindeutige Wahrheit erscheint, und zeigt weitere möglichen Perspektiven auf, schafft die Differenzen, die die Wissenschaft zu überwinden sucht. Die Kunst sucht nicht, auf einen Nenner zu kommen, die Kunst stellt in den Raum, auf das ein jeder das Kunstwerk aus seiner Perspektive betrachte und zu seinen eigenen Schlüssen komme. Die Kunst polarisiere, heißt es des Öfteren, und genau dies erscheint mir ihre Aufgabe zu sein. Zu entzweien, zur Eigenständigkeit in der Einheit anzuleiten, die die Wissenschaft schafft. Nicht zufällig wurden und werden Künstler in kaum einer Diktatur gerne gesehen. Der größte Gefahr einer jeden Diktatur ist das Aufkommen von verschiedenen Meinungen.

Zwei Seiten einer Medaille

Ich glaube heute, dass die Kunst und die Wissenschaft zwei Seiten derselben Medaille sind, sie sind Gegenströmungen, die sich gegenseitig bändigen und beide notwendig sind. Während die Wissenschaft der Schwerkraft ähnlich ist, die die Menschen auf diesem Planeten nicht völlig in verschiedene Richtungen, Weltbilder und damit potentielle Kriegstreiberei abdriften lässt, entspricht die Kunst der Fliehkraft, die verhindert, dass „wissenschaftliche“ Wahrheiten nicht mehr hinterfragt werden, wie es etwa im Nationalsozialismus versucht wurde.

Ich halte mich selbst eher für einen Künstler denn für einen Wissenschaftler, aber nach diesem Gespräch ist mir klar geworden, dass in jedem Künstler auch ein Wissenschaftler, in jedem Wissenschaftler auch ein Künstler leben muss, damit sich diese beiden Kräfte gegenseitig in Zaum halten und das ermöglichen, was wir gemeinhin Zivilisation nennen.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

Nächste Veranstaltungen