Kriterien und Pluralität

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

In den letzten Tagen habe ich mich viel mit der Frage beschäftigt, unter welchen Voraussetzungen es für eine Gruppe möglich ist, eine gewisse Vielfalt auszuhalten. Die Frage ist in mehrerer Hinsicht interessant: als Lehrer hat man es normalerweise mit Schülern zu tun, die sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Als Schuldirektor möglicherweise mit sehr unterschiedlich handelnden und denkenden Lehrern.

Für mich ist – vor allem auch dank meines großartigen Mentors an einer freien Schule – klargeworden, wie ich mit der Problematik am besten umgehen kann: durch die Formulierung und Kommunikation klarer, für beide Seiten nachvollziehbarer und überprüfbarer Kriterien. Man könnte statt dem Wort „Kriterien“ wohl auch „Bedingungen“ verwenden, aber bei letzteren ist möglicherweise nicht klar, wie wichtig die beidseitige Überprüfbarkeit jener Bedingungen für das konstruktive Gelingen ist.

Ein Beispiel aus dem Spannungsfeld Lehrer-Schüler: der Lehrer möchte erreichen, dass alle Schüler einen bestimmten Lehrplaninhalt erfüllen und gibt ihnen deswegen eine von ihm gewählte Aufgabe. Er kommuniziert nicht, dass sein eigentliches Ziel die Erfüllung des Lehrplaninhalts ist, möglicherweise hat er auch gar keine konkrete Vorstellung, woran die „Erfüllung“ des Lehrplaninhalts überprüfbar wäre („Namenwörter nach dem Artikel ordnen“ im Lehrplan an sich z.B. sagt noch nichts darüber aus, wie viele Namenwörter man ordnen können muss, und dieser Aspekt ist noch ein sehr leicht überprüfbarer). Damit verurteilt er den Schüler zu zwei Handlungsalternativen: dem Lehrer zu folgen oder sich ihm zu widersetzen (das berühmte „warum muass I den Schmarrn mochn?“).

Entwirft der Lehrer stattdessen jedoch eine Möglichkeit, die Erreichung des ihm gerade wichtigen Lehrplanzieles zu überprüfen (etwa durch eine Art von Test), so kann er seinen Schülern kommunizieren, dass das gemeinsame Ziel das Erlernen einer Fähigkeit sei und der Grad der Fähigkeit durch jenen Test gemessen werde. Damit eröffnet er seinen Schülern verschiedene Möglichkeiten, mit der Herausforderung des Lernziels umzugehen: der Schüler kann die vom Lehrer vorgeschlagene Übung erledigen, er kann selbst nachdenken, er kann mit Mitschülern, Freunden, Eltern lernen. Und er kann möglicherweise, wenn er die geforderte Fähigkeit bereits beherrscht, besagten Test sogar gleich bestehen, was ihm Freiräume schafft, sich mit anderen, für ihn herausfordernderen Themen zu beschäftigen.

„Kriterien helfen nur den guten Schülern“

Die Arbeit mit Kriterien hilft vor allem zwei Gruppen von Schülern: den „guten“ und den „schlechten“. Ersteres mag auf den ersten Blick ersichtlich sein, aber zweiteres ist sogar noch viel mehr der Fall. Üblicherweise wird in Schulklassen ja mittlerweile differenziert in verschiedenen Schwierigkeitsstufen unterrichtet, was unter anderem dazu dienen soll, die schwächeren Schüler nicht völlig zu demotivieren und sie vor zu großen Frustrationen zu schützen. Nur: die größte Frustration muss es wohl sein, sich selbst als „schwächerer Schüler“ wahrzunehmen und im Grunde nichts dagegen machen zu können. Man bekommt dann von gutmeinenden Pädagogen auf schwächere Schüler abgestimmte Übungen, aber wie ist es für einen „schwächeren Schüler“ eigentlich realistischerweise möglich, jene Selbstbezeichnung je wieder loszuwerden?

In einer regelmäßigen Schreib-Übung (jede Woche ein Text der gleichen Textsorte unter gleichen Bedingungen) haben sich alle Schüler ohne Ausnahme mit der Zeit verbessert – die Kriterien blieben dabei jeweils gleich. Die „schwächeren Schüler“ sind mittlerweile anhand der selben Kriterien betrachtet zu durchschnittlichen Schülern geworden, einige durchschnittliche gleichgeblieben und einige sind nun anhand der Kriterien wohl als „gute Schüler“ zu betrachten. Einige meiner „schlechteren Schüler“ schreiben in manchen Kriterienbereichen mittlerweile die besten Arbeiten. Für mich ist das ein klares Argument für die Nutzung von Kriterien.

Ich glaube, dass die Arbeit mit Kriterien und entsprechend nachvollziehbaren Überprüfungen da einen sehr gut durchführbaren Ansatz bietet. Dadurch, dass ich weniger davon abhängig bin, dass mein jeweiliger Klassenlehrer zufällig den Erklärungsansatz auswählt, mit dem ich etwas anfangen kann, steigen meine Chancen als „schwächerer Schüler“, jene Tests zu bestehen. Wenn nun zusätzlich die Möglichkeit geschaffen wird, jene Tests auch zu späterer Zeit wiederholen zu können (weil sie ja auf Kriterien basieren sind diese Tests ohne großen Aufwand reproduzierbar), entsteht damit eine reale Chance für die „schwächeren Schüler“, sich „hochzuarbeiten“. Man mag nun argumentieren, das übe einen zu großen Druck auf jene Schüler aus. Nur: der Druck, ein „guter Schüler“ zu werden, ist auch ohne Kriterien riesengroß. Der Unterschied besteht darin, dass ein solcher Schüler auf diese Art eine reelle Chance hat, etwas daran zu ändern.

Lehrer und Vorgesetzte

Ein ähnliches Thema mit Kriterien und Pluralität existiert auch eine Hierarchieebene darüber, zwischen Lehrern und Vorgesetzten. Wenn ein Vorgesetzter klare, überprüfbare Kriterien für die Arbeit eines Lehrers kommuniziert, so ist es diesem Lehrer möglich, seinen jeweiligen Unterricht so umzusetzen, dass es für seine Schüler und ihn als Person am besten passt, solange er alle an ihn kommunizierten Kriterien erfüllt. Werden ihm diese nicht in einer Form kommuniziert, die klar und für beide Seiten nachvollziehbar/überprüfbar sind, so schwebt er gewissermaßen „in der Luft“ und kann sich nie ganz sicher sein, ob er seine Arbeit richtig genug macht. Natürlich hat er die Möglichkeit, einen jeden Kommentar seines Vorgesetzten 1:1 umzusetzen, um auf der sicheren Seite zu sein, aber im Grunde bleibt das Gefühl, etwas aus Sicht seines Vorgesetzen richtig oder falsch zu machen, ein eher schwammiges. Vor allem aber verlagern sich dadurch Konflikte in der Sache fast unweigerlich auf die Beziehungs-Ebene, und Gruppennormen beginnen zu wirken.

Neben einigen anderen Gefahren wie Ermöglichung von Mobbing passiert auf der Gruppennormen-Ebene vor allem eines: eine jede Gruppe hält auf Dauer keine zu große Vielfalt aus, wenn sie keine Kriterien entwickelt, die für zusätzlichen Zusammenhang sorgen. Sie reagiert mit dem Versuch der Anpassung und – sollte dies fehlschlagen – mit Spaltung (wenn es größere Teilgruppen gibt) oder Ausschluss einzelner Gruppenmitglieder. Jemand wird aus dem Freundeskreis ausgeschlossen, Mitarbeiter werden gefeuert etc. Am dramatischten läuft dies ab, wenn in der Gruppe selbst gar nicht klar ist, was denn die Gruppe eigentlich ausmacht. Dann fragen die von der Ablehnung betroffenen Gruppenmitglieder vielleicht verzweifelt, was sie denn falsch machen, bekommen aber – weil es im Grunde keiner wirklich weiß – keine Antwort, bis sie von selbst gehen oder von der Gruppe ausgestoßen wurden. Dies ist wohl vor allem dann der Fall, wenn eine ehrliche Antwort auf die Frage, was man denn falsch mache, eigene unbewusste Anteile in der Hauptgruppe bewusst machen würde.

Vorgesetzte und deren Vorgesetzte: eine Kette an Kriterienlosigkeit

Ich kann nur vermuten, wie es die Hierarchiebenen nach oben weitergeht, halte es aber für sehr gut möglich, dass sich die Problematik durch alle Hierarchieebenen zieht. Wenn ich – angenommen – als Schuldirektor von meinem Vorgesetzten keine klaren Kriterien bekomme, ob das, was ich mache, korrekt ist, dann wird die Frage über die Beziehungsebene geklärt werden müssen („Wenn ich mich mit meinem Vorgesetzten gut verstehe, wirds schon passen“). Das bedeutet aber, dass der Schuldirektor dem Lehrer im Grunde auch nicht sicher bestätigen kann, ob das, was der Lehrer macht, in Ordnung ist, weil er ja auch von seinem Vorgesetzten keine Rüge bekommen möchte. Und der Lehrer wiederum, der auch keine Kriterien bekommt, traut sich auch nicht wirklich, vom Status Quo abzugehen (der offensichtlich in Ordnung geht). Da lieber ungestört dahinarbeiten. Angenommen diese Vermutung einer Kette an Kriterienlosigkeit würde zutreffen, hätten wir alleine in Österreich Zigtausende Menschen, die keine Ahnung haben, ob sie dürfen, was sie tun, außer sie machen es exakt so, wie es alle anderen machen bzw. wie es immer war. Vermutlich ist es deswegen so schwer, irgendetwas zu verändern. Die Chance ist groß, dass irgendjemand in der Hierarchieebene davon irritiert ist, nicht weiß, ob er das zulassen darf (er hat ja selbst keine klaren überprüfbaren Anhaltspunkte) und den Störenfried lieber entfernt…

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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