Könnt ihr das hier noch lesen?

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einiger Zeit schrieb ich an dieser Stelle über die Möglichkeiten, die das Internet bietet, auch kritische Meinungen ohne großen Aufwand an eine breite Masse zu bringen. Ich schrieb darüber, wie das Internet den traditionellen Unterschied zwischen Produzenten und Konsumenten von Information aufheben kann. Spätestens mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke, so argumentierte ich, ist es selbst einem völlig unbekannten Menschen möglich, Informationen weltweit zu verbreiten. Ich glaube immer noch an die demokratisierende Macht des Internets, doch unlängst sah ich ein Video, indem eine spannende Frage aufgeworfen wurde: wie können wir sichergehen, dass wir für uns relevante Inforamtionen überhaupt zu Gesicht bekommen?

Der Präsentator des Videos erzählt, dass er einige Bekannte gebeten habe, die gleiche Suchanfrage in die Google-Suche einzugeben, und wie völlig unterschiedlich die Ergebnisse aussahen. Während die ersten Treffer bei dem einen Bekannten voll mit Berichten über die Aufstände des arabischen Frühlings waren, wurden dem zweiten Bekannten nichts davon angezeigt, nur Reiseberichte. Wie konnte es dazu kommen?

Filterung und Reihung

Man könnte hier annehmen, dass es sich um eine Verschwörung Googles handelt, den durchschnittlichen Menschen von der für ihn relevanten Information abzuschneiden, doch die Erklärung, die in besagtem Video gegeben wird, klingt nachvollziehbarer: das Problem liegt in der Filterung und Reihung, die viele Seiten heute vollautomatisch vornehmen. Am deutlichsten lässt sich dies wohl am Beispiel Facebook demonstrieren. Je nachdem, mit welchen Facebook-Freunden und Seiten wir am häufigsten kommunizieren, werden uns die Informationen dieser „Freunde“ häufiger in unserer Überblicks-Liste angezeigt. Facebook schreibt alles mit, was wir tun, und nutzt diese Informationen, um uns mit den Informationen zu füttern, die es als besonders interessant für uns einschätzt.

Es ist nur logisch, dass ein Unternehmen, dessen Unternehmenswert seine Nutzer und ihre Verbindungen und deren Unternehmenskonzept daraus besteht, Benutzer mit bestimmten Inhalten zu verbinden, diese Filterung und Reihung auf diese Art und Weise vornimmt. Dass dabei gegen ein kleines Entgelt auch ein wenig „geschummelt“ werden darf, indem gewisse zahlende Kunden vorgereiht werden, ist aus wirtschaftlicher Sicht ebenso verständlich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es meinen Freunden tatsächlich so wichtig ist, mich zum Spielen irgendwelcher Facebook-Spiele zu bewegen, als es die vielen Einladungen erscheinen lassen. Natürlich wird da in irgendeiner Form ein wenig Geld im Spiel sein.

Was ist relevante Information?

Durch diese Filterung, ob durch Geldeinfluss verzehrt oder nicht, entsteht jedoch ein Problem in der Verbreitung relevanter Informationen. Wenn ich nun beispielsweise diesen Artikel auch über Facebook veröffentliche, wer von meinen Facebook-Freunden hat wirklich noch eine realistische Chance, ihn zu finden? Wie viele mehr müssten wohl minutenlang nach unten scrollen, weil Fotos von Katzen und Saufgelagen ihrer Freunde von Facebook als relevanter angesehen und damit nach vorne gereiht werden? Ginge es nur um Facebook, wäre die Problematik kaum so groß, doch wenn immer mehr der größeren Seiten dazu übergehen, eine ähnliche Reihung vorzunehmen, stehen wir möglicherweise eines Tages vor einem gravierenden Problem. Wenn ich nur noch Informationen jener Quellen zu sehen bekomme, denen ich in der Vergangenheit vertraut habe (=auf die ich geklickt habe), wie komme ich dann an alternative Perspektiven, die mich noch zum Nachdenken bringe? Oder wollen wir tatsächlich eines Tages nur noch im Saft der eigenen Selbstzufriedenheit schmoren?

Was tun?

Ich wünschte, ich hätte eine perfekte Lösung für das Problem anzubieten. Vielleicht kann ich jedoch einige Möglichkeiten vorschlagen, die Problematik anzugehen und für ein wenig Entlastung zu sorgen. Als erstes steht wohl das Bewusstsein, dass die Inhalte, die ich mit meinen „Freunden“ teile, von sich aus keine große Chance mehr haben, diese Freunde jemals zu erreichen, weil es viel zu viele andere gibt, die ebenso irgendwelche Inhalte teilen wollen. Wenn ich sichergehen will, dass eine Information jemanden erreicht, ist es wohl sicherer, den Link zu dieser Information als Nachricht/Mail weiterzuleiten bzw. mit diesem Jemand darüber zu sprechen.

Eine zweite Strategie wäre es, darüber nachzudenken, was es tatsächlich wert ist, mit anderen geteilt zu werden, wenn wir bedenken, dass der Platz interessanter Nachrichten, die tatsächlich noch gelesen werden, vielleicht auf zehn Nachrichten beschränkt ist. Natürlich ist es schön, lustige Videos oder Bilder zu finden, aber wäre es nicht auch wichtig, Inhalte dort vorzufinden, die zum Nachdenken bringen oder soziale Fragen betreffen? Wenn irgendwo in der Türkei versucht wird, das Internet sukzessive zu sperren, ist das nicht mindestens so interessant und relevant für mich als ein Video über eine Katze, die gegen eine Wand läuft? In einer Welt, indem wir alle zu potentiellen Produzenten oder zumindest Verbreitern von Informationen werden, wird es auch Zeit, uns der Verantwortung, die dahinter steckt, bewusst zu werden.

Eine dritte Strategie könnte es sein, regelmäßig gewisse Seiten zu besuchen, die diese automatische Vor-Reihung nach der Relevanz für den Nutzer (noch) nicht vornehmen bzw. sie optional oder zusätzlich anbieten. Diese Vorfilterung mag für gewisse Anwendungen ein Segen sein, demokratiepolitisch ist sie wohl als bedenklich anzusehen, vor allem, wenn sie im Stillen passiert und vom Einzelnen nicht deaktiviert oder umgangen werden kann. Ich persönlich halte auch regelmäßigen Kontakt mit Freunden aus aller Welt, die mir dann und wann erzählen, was in ihren Teilen der Welt gerade interessantes passiert. Denn auch der eigene Standort der Internetnutzung beeinflusst die Reihung der angezeigten Informationen.

In Zeiten, in denen zentralistisch organisierte Fernsehsender, Radios und Zeitungen an Einfluss verlieren, gilt es, darauf aufzupassen, dass wir nicht eines Tages in einem von den anderen isolierten, persönlichen Internet aufwachen, indem ein jeder in seiner eigenen Blase an Informationen verbleibt.

In dem Sinne: könnt ihr das hier noch lesen? Und falls es euch gefällt und ihr auch anderen gerne die Möglichkeit geben wollt, es zu lesen: wie könnt ihr sichergehen, dass auch andere es lesen können?

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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