Können Menschen tatsächlich mit Hilfe von Zuckerbrot und Peitsche so weit gebracht werden, dass ihr Verhalten zu 100% kontrollierbar, oder zumindest vorhersagbar ist? Hannah Arendt schrieb in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge des Totalitarismus“, dass diese Ansicht zumindest eine Zeit lang sehr weit verbreitet war. Sowohl im Nationalsozialismus als auch im Stalinismus, die die traditionelle telweise Fremdbestimmung in Form von Gottes Willen durch andere, totalere zu ersetzen suchten, war ein gewisser Hang zum Determinismus wiederzufinden. In beiden Weltanschauungen wurde ein Gesetz zur treibenden Kraft der Geschichte erhoben, deren Verlauf und Ende als vorhersehbar angesehen wurde. Der Rassenkampf wie der Klassenkampf waren deterministische Erklärungsmodelle der Welt, und eine Unterwerfung unter die entsprechenden „Naturgesetze“ wurde als notwendig angesehen. Während die Religion zumindest noch einem Gott (und in gewissem Sinne den Interpreten seines Willens) einen wirklich freien Willen zusprach, wurde in den totalitären System selbst dieser abgeschafft, und alles den zwingenden Notwendigkeiten der „entdeckten“ historischen Naturgesetze untergeordnet.
Laut Arendt waren etwa die Konzentrationslager der Nationalsozialisten unter anderem auch Experimentierstätten, wie weit man Menschen mit Hilfe der Konditionierung formen konnte. In gewisser Hinsicht war es auch ein gesamtgesellschaftliches Experiment, aber nirgends war die Abschottung von einer eventuell rettenden Außenwelt so total wie in den Lagern. Für die Außenwelt machte es wenig Unterschied, ob die Menschen in den Lagern noch am Leben waren oder nicht – nachdem kaum Informationen in die Lager oder aus den Lagern drang, glichen sie dem Gleichnis von Schrödinger’s Katze. Wer drin war, konnte für die Außenwelt tot sein, obwohl er vielleicht noch am Leben war. In den Lagern war die Macht der Aufsichtspersonen, ihre Gefangenen zu konditionieren, so total wie selten sonst in der Geschichte der Menschheit. Und doch gelang es ihnen nicht, alle Insassen gleichmäßig zu konditionieren.
Der bekannte Psychologe Viktor Frankl, der selbst eine Zeit lang in den Konzentrationslagern verbracht hatte, beschreibt dazu eine interessante Theorie. Nach ihm existieren gewisse äußere Bedingungen, die auf einen Menschen Druck ausüben, auf bestimmte Art zu Handeln. Das spezifisch Menschliche am Menschen beschreibt er jedoch als die Fähigkeit des Menschen, frei auf diesen Druck zu antworten. Dies nennt er als den Grund, warum manche Menschen in den Konzentrationslagern unter enormen Druck zu Verrätern an ihren Mitgefangenen wurden, während andere zu Helden wurden. Die Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren, waren weitgehend gleich. Würde die Konditionierung des Menschen direkt funktionieren, müssten die Menschen folgerichtig allesamt ähnliche Reaktionen auf die unmenschliche Behandlung in den Konzentrationslagern gezeigt haben. Doch das haben sie nachweislich nicht, was stark für die Theorie spricht, dass Menschen in ihrem Inneren eine Art Selbst haben, das mit dem Druck der Außenwelt im Dialog steht, und dessen Willens-Kraft es mit einem bestimmten Maß an äußeren Druck aufnehmen kann.
Konsequenzen für die Schule
Wenn wir nun davon ausgehen, dass ein jeder unserer Mitmenschen diese innere Entscheidungsinstanz in sich hat, können wir feststellen, dass wir unsere Mitmenschen in Wahrheit immer nur indirekt kontrollieren können, indem wir einen bestimmten Druck auf sie ausüben. In vielen Fällen wird uns dies gar nicht auffallen, weil ihr eigener Wille sich mit dem ihren ohnehin weitgehend überschneidet. Interessant wird es dort, wo sich mein Wille mit dem eines Schülers spießt. Ich kann dann auf verschiedene Arten Druck ausüben, um seinen Willen zu überrumpeln, was umso leichter ist, je weniger entwickelt dieser noch ist. Man könnte sich dies als eine Art Kugel in einem 3-dimensionalen Raum vorstellen, die sich in eine bestimmte Richtung bewegen möchte, während die äußere Welt versucht, sie ebenfalls in bestimmte Richtungen zu bewegen. Je nach Kräfteverhältnissen wird sich die Kugel nun in die Richtung bewegen, die sie selbst einschlagen möchte, oder eher in die Richtung, die von außen von ihm verlangt wird. Vielleicht bewegt sie sich auch in eine Richtung, die man einen Kompromiss nennen könnte.
Wenn wir die Theorie Frankls akzeptieren, können wir auch die Konditionierung in einem neuen, tieferen Licht betrachten. Konditionierung funktioniert. Aber sie funktioniert nicht deswegen, weil Menschen über Belohnung oder Bestrafung „programmierbar“ sind, sondern weil diese Formen des Drucks sind, die die Entscheidungsfreiheit eines Menschen einschränken. Dies ist wertneutral gemeint. Worauf ich hinauswill, ist, dass man sich in Wahrheit nicht darauf verlassen kann, dass einmal konditionierte Verhaltensweisen auch auf Dauer Bestand haben, gerade eben weil sie nur Formen von Druck sind, die in einem komplizierten Wechselspiel mit zahlreichen anderen Bedingungen wie anderen „Druckmitteln“ von außen oder dem eigenen, sich entwickelnden Willen stehen.
Es ist ja mittlerweile vermutlich hinlänglich bekannt, dass Konditionierung mit Hilfe von Belohnungen meistens nur so lange wirkt, wie die Belohnungen aufrechterhalten beziehungsweise sogar gesteigert werden. Auch dies lässt sich mit Frankls Theorie erklären. Der Druck (oder Sog) auf die Kugel wird mit dem Wegfall der Belohnung schwächer, womit andere Einflüsse (oder der eigene Wille) relativ gesehen stärker werden. Das gleiche Prinzip gilt für Bestrafungen.
Bei einer gesunden Entwicklung junger Menschen, bei denen ihr Wille nicht dermaßen unter Druck gesetzt wurde, dass er bricht, wird dieser mit der Zeit widerstandsfähiger gegen Druck von außen. Es ist daher kein Wunder, wenn unsere Kugel bald nicht mehr von denselben äußeren Einflüssen wie früher „unter Kontrolle“ gehalten werden kann. Mitunter entwickelt sich dieser Wille dermaßen stark, dass selbst Erwachsene nicht mehr die Kraft aufbringen können, Kinder davon abzuhalten, destruktives Verhalten an den Tag zu legen. In vielen Fällen liegt diese Destruktivität der Kinder jedoch daran, dass sie nie verlässliche Vorbilder für ein weitgehend druckfreies Miteinander erlebt haben.
Um beim Bild mit der Kugel zu bleiben, gibt es für mich zwei Varianten, mit jemandem umzugehen, dessen „Bewegungsrichtung“ mir nicht behagt. Einerseits kann ich den Weg der Konditionierung wählen und versuchen, genügend Druck aufzubauen, seinen Willen umzulenken oder ganz zu stoppen. Dies führt jedoch rasch zu massiven Machtkämpfen ohne wirkliche Sieger. Die andere Variante, mit solchen Situationen umzugehen, habe ich aus dem Tao Te King bzw. dem Tai Chi Training. Wenn es mir gelingt, dass die Kugel etwas anderes will als das, was mir unpassend erscheint, muss ich keine Kraft aufwenden, um sie davon abzuhalten. Sie wird dann von selbst das machen wollen, was ich ebenso von ihr will. Dies setzt jedoch voraus, dass ich mich in die Weltsicht des Anderen hineinversetze, um ihn wirklich zu verstehen. Erst dann, wenn ich ihn wirklich verstehe, kann er mir genügend vertrauen, um sich von mir leiten zu lassen.
„Schlimme Schüler“ als logische Folge gescheiterter Konditionierung
Heute habe ich an einer Schule beispielsweise beobachtet, wie „Mein rechter Platz ist leer“ gespielt wurde, und ein Schüler wiederholt von Erwachsenen ermahnt wurde, das Spiel nicht zu stören. Während die anderen Kinder offensichtlich noch die Kraft und Energie hatten, weiterzuspielen, wirkte der Schüler überfordert mit der Situation. Offenbar war es ihm zu anstrengend geworden, still zu sitzen und darauf zu warten, dass er wieder dran war, weswegen er alle möglichen Faxen machte. Um ihn ruhig zu bekommen, wurde er mehrere Male ermahnt, dann umgesetzt und immer wieder mit einem „Shhh“ bedacht. Die Erwachsenen, die in der Situation die Position der Anführer der Gruppe für sich beanspruchten, nutzten die Mittel der Konditionierung, um ihn zum Schweigen zu bringen, waren aber nicht konstant genug in ihrer Aufmerksamkeit, um ihn völlig ruhig zu stellen. Vergeblich schienen sie zu hoffen, dass er von selbst aufhören würde, nachdem sie ihn mehrfach ermahnt hatten. Aber das Verhalten des Schülers folgte relativ genau dem oben beschriebenen Muster: solange Druck auf ihn ausgeübt wurde, beugte er sich der Übermacht der Erwachsenen. Fiel der Druck weg, regte sich in ihm wieder das eigentliche Bedürfnis, das er aufgrund des Drucks unterdrücken zu müssen glaubte.
Aus meiner Beobachterposition, und nicht verantwortlich für die ganze Klasse, hatte ich den geistigen Freiraum, mich auf seine Welt einzulassen, und rasch war klar, was notwendig gewesen wäre: der Situation fehlte der geordnete, konstruktive Ausweg. Es gab für den Schüler keine (für ihn sichtbare) Möglichkeit, den Sesselkreis zu verlassen, ohne negative Aufmerksamkeit zu erregen – deswegen suchte er – vergeblich – selbstständig alternative Wege, dies zu erreichen. Sein nach außen getragenes Bedürfnis, den Kreis verlassen zu können, erzeugte einen gewissen Druck, der von den Erwachsenen mit Gegendruck begegnet wurde. Er fügte sich zwar, fühlte sich aber sichtlich unverstanden. Eine jede Situation, in der mit Druck reagiert wird, anstatt die Bedürfnisse der Schüler in konstruktive Bahnen zu überführen, untergräbt die Autorität der Führungskräfte, in dem Fall der Erwachsenen. Das einzige, was in solchen Situationen wirklich effektiv konditioniert wird, ist das Image des Unruhestifters, – beziehungsweise, je nach Ansehen der Erwachsenen – des Heldens, der als Revolutionär gegen schlechte Führung zum Märtyrer wird.
Eine Alternative wäre es gewesen, im Vorhinein oder spätestens dann, wenn diese Bedürfnisse offensichtlich werden, eine konstruktive Möglichkeit für die Schüler zu schaffen, sich diese Bedürfnisse selbstständig zu erfüllen. So könnte man etwa den Schülern mitteilen, dass sie den Kreis jederzeit verlassen könnten, wenn sie in einen bestimmten Bereich des Raumes gehen, wo die Weiterführung der Aktivität selbst nicht gestört wird. Existiert diese Möglichkeit, den Kreis selbstständig zu verlassen, wenn es einem Schüler zu viel wird, steigt die Chance, dass er diese Möglichkeit nutzen wird, um seinen Bedürfnissen nachzukommen, und sinkt die Chance, dass er zu destruktiven Verhaltensweisen greifen wird, um sie zu erfüllen. Überhaupt halte ich es für realistisch, dass die meisten destruktiven Verhaltensweisen daher rühren, dass Menschen sich als Führer über andere Menschen aufspielen, deren Bedürfnisse sie verkennen. Oder – was noch schlimmer ist – nicht für wichtig genug erachten, sich damit zu beschäftigen. Auch hier gibt das Tao Te King einen schönen Rat: „Warum ist das Meer König Tausender Flüsse? Weil es unter ihnen liegt“. Wer erfolgreich führen will, muss lernen, zu dienen.
Aber im Alltag?
Natürlich ist es einfacher, diese Prozesse aus der Beobachterposition zu reflektieren, denn die pädagogische Praxis nimmt einen oft derart in Anspruch, dass solche Beobachtungen im Alltag schnell untergehen können. Ich will damit auch nicht die Erwachsenen in meinem Beispiel kritisieren, sondern damit nur illustrieren, welchen Unterschied es macht, ob man Situationen mit Hilfe von druckbasierter Konditionierung oder mit empathischer Führung zu lösen versucht. In jedem Fall wird es hilfreich sein, sich immer wieder zu fragen, wie gut man seine Schüler und ihre Bedürfnisse tatsächlich kennt – und wenn man unsicher ist, sie auch einfach zu fragen.
Ein Schüler, der regelmäßig die Erfahrung gemacht hat, dass seine Bedürfnisse und sein Wille von einem Erwachsenen wertgeschätzt und nicht (nur) mit Hilfe von Druck gelenkt wird, wird tendenziell umgekehrt auch andere Schüler wie Erwachsene ebenso wertschätzend behandeln. Wie wir weiter oben erörtert haben, ist alles, was wir tun, nur ein Faktor in einem sehr komplexen Wechselspiel vieler Faktoren im Inneren eines Menschen, und es mag Menschen geben, die von unserem empathischen Verhalten relativ unbeeindruckt bleiben. Aber das ist ebenso ihr gutes Recht wie unseres, uns tagtäglich dafür zu entscheiden, unsere Mitmenschen empathisch führen zu wollen.
Niklas