Vor ein paar Tagen schrieb ich hier über Klarheit und Autorität. Schon während des Schreibens wurde mir klar, dass der Begriff „Klarheit“ mehr als einen Artikel verdienen wird. Nun also zu Teil 2:
Die Lücken in der Kommunikation
Wie bereits im vorherigen Artikel beschrieben, basiert ein großer Teil unserer Kommunikation auf Annahmen, die unser Geist trifft. Anhand einiger Eckpunkte, die wir zu verstehen glauben, vervollständigt unsere Wahrnehmung das Wahrgenommene, um zu einem wahrscheinlichen Verständnis der Realität oder des Gesagten zu kommen. Kurz gesagt: je weniger wir tatsächlich wissen, desto mehr Arbeit hat diese Autovervollständigung. Nun stellt sich die spannende Frage, wie diese „Autovervollständigung“ denn eigentlich abläuft. Und hierbei scheinen zumindest zwei Phänomene zu wirken.
Das erste Phänomen ist jenes der Ähnlichkeit. Vorurteile, im Positiven wie im Negativen, fallen etwa in diese Kategorie. Ein Mensch, den wir noch nicht kennen, wird anhand einiger Kriterien, die wir wahrzunehmen glauben, mit unseren Erfahrungen mit ähnlichen Menschen verglichen. Dabei dürfte es ebenso eine sehr individuelle (und vermutlich ebenso auf vergangene Erfahrungen oder Glaubenssätze basierende) Auswahl der relevanten Kriterien geben, nach denen wir die anderen Menschen in Kategorien einteilen. So ist Abstammung und Migrationshintergrund für manche Menschen ein Top-Level-Kriterium, für mich weniger. Ich mag Menschen mit Dreadlocks oder die barfuß herumlaufen üblicherweise besonders gerne. Wie alle Vorurteile sind jene Urteile zumeist eher statisch und schwer zu ändern. Treffe ich einen Menschen mit Dreadlocks der mir unsympathisch ist, werde ich nicht alle Dreadlock-Menschen als unsympathisch ansehen. Lernt meine Uroma einen „Ausländer“ kennen, der „überraschend nett“ ist, wird sie nicht ihr Grundurteil über Ausländer sofort anpassen.
Das zweite Phänomen ist jenes der Emotionen oder Stimmungen. Je nachdem, wie ich mich fühle, interpretiere ich das Un-Gesagte anders. Ein klassisches Beispiel ist die Stille. Fühle ich mich von einem Menschen, den ich liebe, unverstanden, werde ich seine Stille anders interpretieren als wenn ich mich ihm sehr verbunden fühle. Interessanterweise können offensichtlich nur sehr wenige Menschen unterscheiden, welche Emotionen, die sie gerade fühlen, mit ihrem jeweiligen Gesprächspartner zu tun haben. Wenn ich beispielsweise Angst habe, meine Arbeitsstelle zu verlieren, werde ich die Worte und vor allem die Bedeutung zwischen den Worten eines Gesprächspartners anders interpretieren als wenn ich gerade eine Beförderung bekommen habe.
Vor- und Nachteile von Kommunikationslücken
Die beiden oben genannten Phänomene (und vor allem das zweite) werden durch unklare Wahrnehmung und Kommunikation verstärkt – wobei ich unter „unklar“ alles verstehe, was ich „nicht sicher“ weiß bzw. glaube zu wissen und wo diese „Autovervollständigung“ in Kraft tritt. Während die Folgen von Vorurteilen noch ein Stück weit vorhersehbar – weil stabil – sind, sind jene von Stimmungen es oftmals nicht. Im Grunde kann man aber zusammenfassend sagen, dass die Autovervollständigung in einer positiven Grundstimmung eher positive Geschichten über das Wahrgenommene erfinden wird als in einer negativen Grundstimmung und umgekehrt. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind versuchte zu „timen“, wann ich meiner Mutter von einer schlechten Note und wann ich ihr von einer guten erzählte – vermutlich kennen die meisten meiner Leser jene „Tricks“ in irgendeiner Form.
Tatsächlich könnte man sagen, dass unklare Kommunikation ein Stück weit das Risiko erhöht, dass sich der andere negative Geschichten vervollständigt – aber auch die Chance, dass er sich positive Geschichten vervollständigt, die uns in besserem Licht darstellen, als wir tatsächlich sind. Während klare Kommunikation versucht, nachvollziehbare, verlässliche und emotional neutrale Fakten zu schaffen, hofft unklare Kommunikation eher auf eine emotional positive Autovervollständigung.
Was dabei interessant erscheint, ist der Unterschied zwischen kurz- und langfristigen Folgen von klarer oder unklarer Kommunikation. Langfristig wird der Vorteil von zu positiven Geschichten üblicherweise aufgehoben durch die eher zu negativen Geschichten, die wir uns selbst in negativeren Phasen erzählen. Kurzfristig aber kann es durchaus von Vorteil für den Kommunizierenden sein, unklar zu kommunizieren, um die Fantasie des Gesprächspartners anzuregen, sich positive Möglichkeiten auszumalen. Etwa für einen One-Night-Stand, der am nächsten Tag vielleicht gar nicht mehr so schön wirkt – aber dann ist man ja schon weg… unklare Kommunikation kann auch ganz bewusst eingesetzt werden, um auf Reaktionen zu testen. Ein Freund erzählte mir etwa, er hätte im Fernsehen Angela Merkel beobachtet, die im Parlament sehr diffus gesprochen hatte und dann plötzlich sehr klar wurde – er meinte, sie hätte wohl herausfinden wollen, welche Variante klarer Ansagen bei ihrem Publikum besser ankommen würde, bevor sie klar wurde.
Klare Kommunikation in Institutionen fördern
In Institutionen hat man üblicherweise nicht nur eine Nacht, sondern mehrere Wochen, Monate bis Jahre miteinander zu tun, und die positiven Geschichten aufgrund von unklarer Kommunikation, die mit der Zeit auch mal in ihren negativen Widerpart umschlagen, „zahlen sich nicht aus“. Nicht nur gleichen sich Vor- und Nachteile mit der Zeit aus, der Fall von 150% toll zu 150% mies schmerzt auch mehr. Zudem erhöht sich die Ineffizienz der Kommunikation exponentiell mit der Anzahl der Mitarbeiter der Institution.
Was klare Kommunikation in Institutionen tendenziell fördern kann, ist die Schriftlichkeit wichtiger Kommunikation. So zwingt Schriftlichkeit zum Nachdenken über Formulierungen, erleichtert Transparenz und die Verbreitung von Kommunikationsergebnissen und ermöglicht es auch, zu einem späteren Zeitpunkt nachzusehen, was eigentlich beschlossen wurde. Allerdings ist es hierbei wichtig, sich eine der wichtigsten Lektionen der Etablierung des Internets als Kommunikationsplattform in Erinnerung zu rufen: nur weil mehr produziert wird, heißt das nicht, dass auch mehr gelesen wird. Es gibt ein individuell unterschiedliches, aber doch bei jedem Menschen vorhandenes Limit an Information, das er aufzunehmen bereit ist. Klare Kommunikation, die Unwichtiges weglässt, kann helfen, aber auch ehrlich darüber zu sprechen, ab wann es schlicht „zu viel“ ist. Wenig ist so problematisch als die Situation, dass ein jeder fleißig Informationen verschickt und niemand darüber spricht, dass sie nicht gelesen wird. So glauben alle, dass alle wissen, aber wissen nicht, dass kaum jemand weiß. Schlecht.
Ein zweites großes Problem, das in schriftlicher Kommunikation auftreten kann, ist, dass alle glauben, dass sie sich einig sind, es aber nicht sind. Schulkonzepte freier Schulen sind dafür besonders anfällig: um niemanden der Gründer und Unterstützer zu verlieren, wird so lange daran herumgefeilt, bis alle zufrieden mit den Formulierungen sind und alle sich darin „wiederfinden“, eine Umschreibung für „jeder kann darin seine Ansichten sehen und glaubt, dass sie völlig klar sind“. Wenn sich dann unterschiedliche Ansichten in der Praxis zeigen, kann jeder darauf verweisen, dass es „im Konzept völlig anders steht“. Wenn sich zwei Menschen, die einem Konzept zugestimmt haben, darüber streiten, ob es auch so umgesetzt wird wie da drin steht, ist die Chance groß, dass das Konzept unklar formuliert wurde. Klarheit würde bedeuten, dass sich beide sehr rasch einig werden könnten, ob das der Fall ist oder nicht, und zwar an konkreten Kriterien, die beide bewerten können.
Aber da an freien Schulen tendenziell gerne friedliebende Menschen zusammenkommen die nicht allzu gerne streiten, wird da beim Schreiben des Konzepts gerne die Feel-Good-Variante präferiert – was in der Gründungsphase meist noch gut gehen kann, aber in der Praxis zu eigentlich vermeidbaren Katastrophen führt. Während der Aufbruchsstimmung der Schulgründung werden die Lücken im Konzept noch hoffnungsvoll autovervollständigt – in der Praxis, unter Druck, kann davon nicht mehr ausgegangen werden. Die Menschen, die es in friedlichen Zeiten vermieden haben, klare Formulierungen zu finden (mit allen Konflikten, die das mit sich bringen kann), werden sie nun, in einer Atmosphäre des Misstrauens, damit anfangen?
Zusammengefasst könnte man sagen, dass unklare Kommunikation den Interpretationsspielraum des Gesprächspartners öffnet, während klare Kommunikation die Autovervollständigung entlastet. Je mehr letztere in Aktion tritt, desto mehr erhöhen sich die Chancen, dass etwas extremer wahrgenommen wird als in einer klaren Kommunikation. Dies kann einem Menschen in kurzfristigen Bekanntschaften egoistisch betrachtet sogar „mehr bringen“ als klar zu kommunizieren, der Effekt hebt sich jedoch langfristig auf bzw. wird vor allem in Beziehungen mit mehr als zwei Menschen (wie in Institutionen) von anderen problematischen Effekten begleitet.
Dies war der zweite Teil meiner kleinen Serie zum Thema Klarheit und Kommunikation. In Kürze folgt – hoffentlich – Nummer drei.
Niklas