Klarheit und Handeln

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

In meinen ersten beiden Artikeln über Klarheit, Klarheit und Autorität bzw. Klarheit und Risiko, ging es um die Kommunikation mit anderen Menschen. Die Serie über Klarheit würde allerdings nicht vollständig sein ohne einen Artikel über die Kommunikation mit unserem häufigsten Gesprächspartner: uns selbst.

Es gibt Momente im Leben, in denen plötzlich alles klar und die möglichen Wege vorgezeichnet erscheinen. Die Komplexität, die Wirren der Lebendigkeit treten in den Hintergrund, und was wir sehen können, sind sehr simple Entscheidungen oder Möglichkeiten. Das tatsächliche Gefühl dazu lässt sich – finde ich – schwer beschreiben, weswegen ich versuchen werde, Beispiele anzuführen:

Nach beinahe zwei Jahren, die ich mit einer Ex-Freundin zusammen war, dafür gekämpft habe, es irgendwie zu schaffen, mich mit Schuldgefühlen herumgeschlagen habe, war plötzlich klar, dass ein Ende überfällig war. In jenem Moment der Klarheit legte sich der Sturm der Gefühle, der mich in Geiselhaft gehalten und mit den Atem geraubt hatte, und vor mir tauchte ein gangbarer Weg aus den Fluten des Sollens und Müssens.

Nach einigen Wochen fiebrigen Arbeitens, um unter widrigsten Bedingungen gute Arbeit zu leisten, plötzlich die Erkenntnis, dass es nicht an meiner Person lag, dass mein Ziel hier nicht zu erreichen war, sondern an den Strukturen, in denen ich mich bewegte. Und dass es sinnlos war, hier weiter Energie zu opfern, wenn sich die Strukturen nicht ändern würden. Der gangbare Weg war also, konstruktive Strukturänderungen vorzuschlagen und bei Ablehnung die Konsequenzen zu ziehen.

Kein Weg zurück

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich ein Moment der Klarheit nicht mehr zurücknehmen lässt, selbst wenn ich es mir wünschen würde. Manchmal werde ich es wider besseren Wissens trotzdem versuchen, aber im Grunde impliziert Klarheit meist bereits eine Entscheidung. Im zweiten Beispiel war es für mich von außen betrachtet nicht unbedingt von Vorteil, zu kündigen. Aber sobald mir klar geworden war, dass die Entscheidung auf einer möglichen Änderung der Strukturen basieren würde müssen, verstummten die anderen Stimmen, die für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Bequemlichkeit zuständig waren. Ich habe von außen betrachtet mit dieser Kündigung ziemlich draufgezahlt, sogar einen Teil meines schon ausbezahlten Gehalts zurückzahlen müssen. Aber wer wirkliche Klarheit erlebt, kann sie nicht mehr zurücknehmen, auch wenn es Angst macht.

Nun, einige Wochen später, habe ich eine neue Stelle in Aussicht, die meinen Bedürfnissen wohl besser entsprechen wird. Kurzfristig hat mir die Erfahrung der Klarheit eher Nachteile gebracht, mittel- bis langfristig bringt sie mich bisher auf meinem Lebensweg voran. Ich bin froh, die kurz- und langfristigen Auswirkungen dieser inneren Klarheit schon mehrere Male durchgemacht zu haben. So kann ich guten Gewissens hoffen, das Richtige zu tun, wenn ich ihr folge.

Ins Ungewisse

Innere Klarheit bedeutet keineswegs immer, dass ich genau weiß, was mich erwarten wird. Tatsächlich bringt sie mich in vielen Fällen eher in eine große Ungewissheit und angstvolle Situation, die nicht nur mich, sondern auch Menschen, die mir etwas bedeuten, mitbetreffen kann. Vermutlich ist die Angst vor den Auswirkungen auf andere Menschen eine noch größere Hemmschwelle, zu wirklicher Klarheit zu gelangen als die Angst vor den Auswirkungen auf einen selbst. Ein Familienvater, der in sich entdeckt, dass er sich zu einer anderen Frau hingezogen fühlt, fühlt sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Frau und seine Kinder verantwortlich. Da lebt es sich leichter mit einem diffusen Gefühl von „irgendetwas ist da“ als der klaren Erkenntnis von „Ich will mich dieser Frau nähern“. Ersteres lässt sich unterdrücken, verstecken, leugnen. Zweiteres wird zur drängenden Frage, die eine Antwort sucht.

Das Interessante daran ist, dass ich wiederholt festgestellt habe, dass diese drängenden Fragen (in welcher Hinsicht auch immer) ab einer gewissen Klarheits-„Stufe“ auch von anderen als Verunsicherung gefühlt werden können. Der Familienvater, der niemanden beunruhigen möchte, beunruhigt dann genau weil er sich nicht klar wird, was er da tatsächlich fühlt, seine Familie, die spürt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist und ihn beschäftigt. Vielleicht wird ihn seine Frau oder sein Sohn sogar darauf ansprechen, doch da er sich selbst nicht im Klaren darüber ist, wird er sie nicht mit etwas belasten wollen, was vielleicht gar nichts ist. Nur: ob da etwas ist und welche Konsequenzen dieses „etwas“ haben kann, ist nur über Klarheit herauszufinden. Das beängstigendste für Menschen ist meist ist das Ungewisse.

Wird sich der Mann klar darüber, dass er tatsächlich mit jener Frau schlafen möchte, kann er vielleicht gemeinsam mit seiner Frau überlegen, wie dieses Bedürfnis so zu erfüllen ist, dass sich niemand allzu verletzt fühlen muss. Vielleicht erzählt sie ihm in jenem Gespräch sogar, dass sie seit ein paar Monaten eine Affäre hat, aber sich bisher noch nicht getraut hat, es anzusprechen. Vielleicht erkennen sie plötzlich beide, dass sie sich seit Jahren auseinandergelebt haben, und nichts mehr füreinander empfinden, aber nicht den Mut gehabt haben, sich dies einzugestehen. Vielleicht erkennen sie auch, dass sie sehr wohl etwas füreinander empfinden, aber vom Alltag zu überwältigt waren, dies auch auszudrücken – nun wollen sie ein bisschen weniger arbeiten, um mehr Zeit für sich zu haben.

Klarheit eröffnet ungeahnte Möglichkeiten

In unseren Zeiten ist es ja sehr modern, gerne alles positiv formulieren zu wollen, und negative Formulierungen zu vermeiden. Klarheit kümmert sich nicht wirklich um jene Mode, sie funktioniert in beide Richtungen. Ich kann mir klar werden, was ich wirklich will (positive Formulierung), aber genauso gut auch klar werden, was ich nicht will (negative Formulierung).

Ein Phänomen, das mir schon öfter aufgefallen ist, ist jene, dass Menschen sich scheuen, zu Klarheit zu gelangen, weil sie das Gefühl haben, dass ein konsequentes Handeln anhand jener Klarheit unmöglich ist. Jene die Klarheit verhindernde Gedanken fangen gerne an mit „Ich kann doch nicht einfach…“ oder ähnlichen Satzkonstruktionen. Klarheit zeigt gangbare Wege auf, und wer sich vor den Wegen fürchtet, wird ein Interesse daran haben, Klarheit zu vermeiden. Wenn ich mich entscheiden kann, in einer für mich bequemen Situation zu bleiben, oder in einem Moment der Klarheit zu dem Schluss komme, diese bequeme Situation zu verlassen um ins Ungewisse aufzubrechen, werden sich die meisten Menschen für die Bequemlichkeit entscheiden, solange der Leidensdruck noch gut auszuhalten ist. Die Lösungen, zu denen Klarheit uns hinführen kann, sind in dem Moment, in dem wir den ersten Schritt setzen, oft noch un-denkbar und damit zu fantastisch, um Realität werden zu können. Und doch zeigt mir die Erfahrung, dass ich im Nachhinein jene Zeit, in der ich mich innerlich gegen eine klare Entscheidung gewehrt habe, meist als verlorene Zeit betrachtet habe und es schade fand, nicht früher den Mut gehabt zu haben, meiner Intuition zu folgen.

Klarheit und die anderen

Klarheit zuzulassen und ihrem Ruf zu folgen bedeutet für mich nicht, ohne Rücksicht auf andere für die Erfüllung meiner Bedürfnisse zu sorgen. Wenn ich in einer Beziehung klar erkenne, dass ich Lust für eine andere Frau verspüre, bedeutet das für mich nicht, dass ich dieser Lust ohne Rücksicht auf die Gefühle meiner Partnerin nachgehen muss. Aber sobald mir klar wird, was ich will, kann ich dieses Bedürfnis auch viel klarer mit ihr kommunizieren und muss nicht mehr hoffen, dass sie a) errät, was ich möchte, ohne dass ich es aussprechen muss oder b) zustimmt, ohne zu wissen, was ich eigentlich meine, weil ich der Meinung bin, sie könnte das nie wirklich gut heißen. Ich kann ausgehend von meiner inneren Klarheit kommunizieren, was ich will, und was mir dabei auch in Bezug auf meine Partnerin wichtig ist (z.B. dass sie weiß, dass die Lust für jene andere Frau keine Auswirkung auf meine Lust und Liebe für sie haben muss, oder dass mir ganz allgemein wichtig ist, mir ihr auch über solche Themen reden zu können).

In meiner Erfahrung ist dort, wo ich für mich selbst zu Klarheit gelangt bin und auch bereit bin, ausgehend von dieser Klarheit zu kommunizieren, sehr viel möglich, was üblicherweise für absolut surreal gehalten wird, sei es in Beziehungen, im Familienleben oder auch im Berufsleben.

Klarheit und Überforderung

Es gibt Situationen, in denen meine innere Klarheit eine Überforderung darstellen kann – für mich selbst und für andere, wobei ersteres meiner Erfahrung nach seltener vorkommt. In bestimmten Situationen kann zweiteres jedoch durchaus auch „gefährlich“ sein: würde ich in einer Diktatur leben, zu einer klaren Erkenntnis gelangen und offen darüber schreiben, kann mich das vielleicht den Kopf kosten. Bin ich als Frau bereit, mit meiner eigenen Sexualität offen umzugehen und sind viele meiner Familienmitglieder, Freunde und Bekannte damit sehr überfordert, kann es zu Repressionen führen. Erkenne ich als Mitarbeiter in einer Institution einen Missstand und spreche ihn klar und offen an, kann das zu meiner Entlassung führen.

Dies ist keine Warnung vor der Klarheit, die ich für sehr wertvoll halte, sondern eine Warnung vor einer Gesellschaft, die noch einen langen Weg zurückzulegen hat, bis sie den Wert der Klarheit erkennen wird. Wir leben (auch wenn einige Gegenteiliges behaupten) in einem Land, in dem ich öffentlich schreiben kann, was ich für richtig halte. Ich hoffe, dass sie Frau, die ihrer inneren Klarheit folgend, die Bedürfnisse ihrer eigene Sexualität anerkennen will, auf ihrer Reise auch Menschen kennenlernen wird, die sie in ihrer Klarheit unterstützen. Dass der Mitarbeiter, der gekündigt wurde, weil er die Wahrheit klar und für alle ersichtlich anspricht, beruflich weiterkommt. Wir sind als Gesellschaft (denke ich) noch nicht so weit, Klarheit, Ehrlichkeit und Authentizität über oder zumindest gleichwertig zu Bequemlichkeit und Anpassung zu stellen.

Innere Klarheit braucht Mut, sich seinen Ängsten zu stellen und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Sie ist unbequem, für einen selbst und für andere, die von Ängsten zu profitieren gelernt haben. Aber ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der innere Klarheit, Mut und Selbstverantwortung wertgeschätzt werden. Wir sind noch lange nicht soweit, dass dies flächendeckend der Fall ist. Aber jeder Weg beginnt bekanntlich mit einem ersten Schritt, und alle großen Veränderungen in der Geschichte sind ursprünglich mal von einer kleinen Gruppe inspirierter Menschen ausgegangen.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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