Irgendwann, vor langer Zeit, hatte ich noch so etwas wie einen Plan. An der pädagogischen Hochschule war es immerhin auch Vorschrift, vor jeder Unterrichtseinheit einen schriftlichen Plan einzureichen, der beschreiben sollte, was man vorhatte, um die Schüler dazu zu bringen, dieses und jenes zu machen. Da war es also etwa die Vorgabe, Schülern innerhalb einer Unterrichtseinheit beizubringen, wie sie mit Hilfe des schriftlichen Additionsverfahrens eine oder mehrere Summanden zu einer Summe addieren konnten. Ohne den Übertrag zu berücksichtigen, denn das sollte in einer eigenen Einheit geschehen.
Wäre ich nun ein ebenso „braver“ Lehrer gewesen, wie meine Schüler brave Schüler sein sollten, so hätte ich wohl entsprechende Übungsblätter vorbereitet und meine Schüler stumpf irgendwelche Rechnungen herunterüben lassen. Doch ich kannte meine Schüler nach kurzer Zeit immerhin gut genug, um zu wissen, dass unter ihnen welche waren, die mit einer solchen Aufgabe massiv überfordert waren – aber auch welche, die damit massiv unterfordert waren und sich dabei langweilen würden. Also schrieb ich ihnen entsprechende Aufgaben auf Post-It-Zettelchen, auf deren Rückseite sich die entsprechenden Lösungen befanden. Es gab dabei Aufgaben, die einfacher als die geforderte Unterrichtseinheit waren und Aufgaben, die bedeutend schwerer als sie waren. All diese Aufgaben lagen auf einem Teppich in der Mitte der Klasse verstreut, und es war den Kindern überlassen, wie viele und welche der Aufgaben sie erledigen sollten. Für die übermotivierten unter ihnen hatte ich leere Post-It-Zettelchen mitgenommen, die sie selbst mit Aufgaben und Lösungen versehen konnten. Nachdem ich überprüft hatte, ob die Lösungen auch tatsächlich korrekt waren, kamen auch sie in den Aufgaben-Pool hinzu.
Die Unterrichtseinheit „explodierte“ innerhalb kürzester Zeit in ein Mathematik-Spektakel. Jeder war am Rechnen, am Entwerfen neuer, besonders schwerer Aufgaben. „Dürfen wir auch über 1000 rechnen?“, fragte ein Schüler. „Dürfen wir auch Minus-Aufgaben aufschreiben?“ ein anderer. Als die Einheit vorüber war, waren die Schüler kaum von ihren Aufgaben zu trennen, was mir eine negative Beurteilung der Klassenlehrerin eintrug. Immerhin hatte ich es unterlassen, für einen sauberen Übergang in die nächste Einheit meiner Kollegin zu sorgen und „die Kontrolle verloren“, denn die Kinder rechneten völlig andere Dinge als vorgegeben. Dass sie sich dabei völlig ohne Fremdeinwirkung bis in den Millionenbereich und an mathematische Operanden herangewagt hatten, die für ihre Klasse noch weit nicht vorgesehen waren, war der Lehrerin egal.
Es war eine der denkwürdigsten Erfahrungen in meiner Lehrerlaufbahn gewesen, diese Lust am Rechnen völlig entflammt zu erleben. Ich wusste nicht, was passieren würde, nur, dass ich nicht die Klassenlehrerin mit ihren immer gleichen Arbeitsblättern kopieren wollte. Es war auch nicht meine erste Mathematik-Einheit in dieser Klasse gewesen, sondern das Ergebnis einer Art von „Feldforschung“, wie sie auch Maria Montessori in ihren Büchern als das oberste Gebot für Lehrer beschreibt. Es gehe nie darum, einer toten Methode nachzujagen, sondern herauszufinden, was für die jeweilige Situation, die jeweiligen Kinder und Lehrer tatsächlich funktioniert.
Die Suche nach der „perfekten Methode“
Ein häufiger Trugschluss, dem wir wohl unter anderem Skinner und seiner Lernmaschine zu verdanken haben, ist jener, dass eine Handlung auf unserer Seite notwendigerweise zu der geplanten Handlung im Kind führt. Negative wie positive Verstärkung haben ihre Effekte, doch nur indirekte. Ich kann mit Hilfe meiner Methoden, so ausgeklügelt sie auch sind, Druck auf jemanden ausüben, sich in bestimmter Weise zu verhalten, aber ich kann ihn nicht direkt lenken. Das hat Viktor Frankl eindrucksvoll in seiner Beschreibung der Konzentrationslager im Nationalsozialismus beschrieben. Gleiche Behandlung der Gefangenen führt nicht zu den gleichen Reaktionen, vielmehr machte die entmenschlichende Behandlung die individuellen Unterschiede erst so richtig sichtbar. Es ist damit eine Illusion, wenn wir davon ausgehen, nur die „richtige“ Methode finden zu müssen. Wir müssen vielmehr versuchen, unseren Schülern so gute Führer in dem oft schwierigen Gelände zu sein, in dem sie sich befinden, dass sie uns auch ohne irgendwelche Beeinflussungsmethoden vertrauen.
Nun wollte ich an der Schule, an der ich gerade arbeite, meinen Schülern helfen, Englisch zu lernen. Ich liebe diese Sprache und verwende sie täglich, und da ich innerhalb weniger Monate auch recht flüssig Portugiesisch gelernt hatte und den Prozess dabei bewusst mitreflektiert hatte, war ich mir eigentlich sicher, eine ganz gute Methode zum Englisch-lernen anbieten zu können. Tatsächlich stellte sich rasch heraus, dass sie den Umständen und den Kindern nicht angemessen war. Ich habe es gleichzeitig mit Kindern zu tun, denen noch kein einziges Wort in Englisch über die Lippen gekommen sein dürfte, und anderen, die durchaus bereits einen englischen Text ins Deutsche übersetzen können. Mit meiner Methode, so durchdacht sie auch war, unter- bzw. überforderte ich sie alle. Also beschloss ich, das Konzept des Kurses zu verändern. Ich wollte eine Methode entwickeln, die eine Art Vakuum erzeugte, in das die Schüler ihr Englisch hineinwerfen konnten, ähnlich wie bei den Mathematik-Aufgaben.
Der unbehauene Block
Einem von außen Beobachtenden mag es dabei so vorkommen, als hätte ich keinen Plan von dem, was ich tue, und tatsächlich entspricht das irgendwo auch der Wahrheit. Nur entsteht diese Planlosigkeit weniger aus Hilflosigkeit, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit, sich auf die Realität einzulassen. Um meinen Schülern tatsächlich eine Hilfe zu sein, muss ich herausfinden, was sie bereits können und wohin es geht. Ich kann ihnen keinen Weg vorzeichnen, wenn ich nicht weiß, wo auf der Karte sie sich befinden oder wo sie hinwollen. An einer Schule, an der sich ein jeder auf völlig unterschiedlichen Leistungsständen befindet, machen allgemeine Erklärungen für alle nur selten Sinn, weil eine jede Erklärung auf Vorwissen aufbaut und auch dieses nicht bei allen voraussetzbar ist.
Mit drei Kindern übersetzte ich also „Stairway to Heaven“, mit einem anderen hörte ich den Text eines anderen Liedes und schrieb ihn auf, bevor wir ihn übersetzen konnten (das Internet war ausgefallen, deswegen konnten wir den Text nicht einfach heraussuchen und mussten ihn abtippen). Mit anderen schrieb ich Geschichten und besserte gemeinsam mit ihnen die Fehler aus. Für eine junge Schülerin, die immerhin das Wort „horse“ kannte, wurde ich eben zum Pferd, auf dem sie umherritt. Natürlich war ich ein englisches Pferd, das nur englische Befehle verstand, woraufhin sie dann einige englische Befehle lernen wollte. Zwei ältere Schülerinnen, mit denen ich einen Unfall und anschließenden Krankenwagentransport in englischer Sprache nachspielte, vergaßen offensichtlich irgendwann völlig, dass sie sich überhaupt auf Englisch unterhielten und gingen völlig in dem Rollenspiel auf.
Kaum lernen meine Schüler dabei die Vokabeln von 25 Tierarten auswendig, wie sie es innerhalb einer „Unit“ in einem Englisch-Buch lernen würden, um dann zu den nächsten 30 Vokabeln, die vielleicht mit „ghosts & castles“ zu tun haben, überzugehen. Sie lernen dabei zwar auch Vokabeln, aber sie lernen sie dabei je nach Notwendigkeit. Wenn ihnen Wörter fehlen, um eine Aussage zu treffen oder einen Satz zu verstehen, so werden sie sie eben nachschlagen und diese im Kontext speichern. Das Mädchen, das mich als Pferd gebrauchte, wird sich wohl nicht ein jedes der Vokabeln gemerkt haben, womit es mich mit „Go to the …“ geschickt hatte, aber sich vielleicht die Bedeutung der Phrase merken, und mit großer Sicherheit die zwei Phrasen „Go where? Go there!“, die ihr sichtlich großen Spaß gemacht haben. Diejenigen, die Stairway to heaven übersetzten, wissen nun, was der Text tatsächlich bedeutet.
Es geht mir um den Sinn des Gesagten, nicht um die perfekte Grammatik oder um eine möglichst große Anzahl an Vokabeln, die sie wörtlich übersetzen können. Denn Wörter übersetzen kann auch der Google Translator, aber den tiefen Sinn einer Aussage zu verstehen bzw. ihn zu vermitteln ist die Fähigkeit, die in einem Gespräch oder beim Lesen eines Textes tatsächlich ausschlaggebend ist. Eine Aussage ist wie ein kleines Rätsel, und die übersetzten Wörter Hinweise, aber noch nicht die Lösung. Spätestens bei Metaphern steht der wörtliche Übersetzer dann völlig vor einem Buch mit sieben Siegeln.
Keine Abkürzungen auf Kosten der Verantwortung
Es wäre durchaus eine schöne, wenn wohl auch unrealistische Vorstellung, eines Tages ein derart feines Gefühl für die Fähigkeiten meiner Schüler zu entwickeln, dass ich sie mit nur einem Blick dort abholen kann, wo sie sich gerade befinden. Die Realität sieht jedoch derzeit so aus, dass ich es bei einem jeden einzelnen meiner Schüler herausfinden muss, und da manche meiner Schüler erst noch herausfinden müssen, wie sie ihren Tag so organisieren, dass sie auch nicht vergessen, einen Kurs, für den sie sich interessieren, auch zu besuchen, dauert es beizeiten eine Weile, bis sich hier ein wirklich produktives Arbeiten einstellt.
Es ist ein Stück weit auch immer erst ein Abtasten, ob es der andere auch tatsächlich ernst meint mit der Intention, ihn zu seinem Besten zu führen und nicht nur zu dem, was der Lehrer für das Beste hält. Ein durchschnittlicher Schüler wurde schon so oft von wohlmeinenden Lehrern, die tatsächlich glaubten, ihnen etwas Gutes zu tun, indem sie den modernsten und angeblich „besten“ Methoden folgten, enttäuscht, dass es für ihn oft schwer ist, sich erneut einem Lehrer anzuvertrauen. Das ist schade, aber doch auch ebenso ein Teil der Realität, mit der wir uns als Lehrer auch befassen müssen.
Ich bringe also keine fertige Methode mit in meinen Kurs, sondern einen Freiraum, den wir jedes Mal aufs Neue mit dem füllen können, was wir an jenem Tag brauchen, um unser Englisch zu verbessern. Außerdem bringe ich einige bewährte Werkzeuge. Was damit dann auch tatsächlich passiert, liegt dann nicht mehr nur in meiner Hand, sondern in der Hand aller Beteiligten. Ich zwinge niemanden, etwas bestimmtes zu tun, das würde jegliche natürliche Autorität sofort völlig untergraben. Entweder entdeckt er selbst den Sinn der Sache, oder er vertraut mir genug, es auf Basis dieses Vertrauens zu versuchen. Beides benötigt Zeit und Raum für Experimente.
Auch wenns manchmal weh tun mag: Ich bin für das Übernehmen von Verantwortung für das, was ich tue, und für ein Übernehmen von Verantwortung von Schülern für das, was sie tun. Das dauert zwar manchmal dann eine Weile, bis sich erste sichtbare Ergebnisse zeigen (vor allem für den ungeübten Beobachter), doch es ist der Weg, der mir der wertvollste erscheint. Da kommt dann eben ein Schüler, der gerne Fußball spielen wollte, wütend zu mir und beschwert sich, warum ich ihn nicht erinnert habe, dass es schon nach der ausgemachten Zeit ist, und ich sage ihm dann eben, dass es seine Aufgabe sei, auf die Zeit zu achten. Eine Woche später schafft er es tatsächlich selbstständig und kommt wie ganz selbstverständlich, aber doch mit einem Zwinkern pünktlich. Andere brauchen dafür auch mehrere Wochen, was immer wieder zu Frustrationen bei allen Beteiligten führen kann. Und doch halte ich es langfristig für den besseren Weg, auch jungen Menschen das Recht auf ein gesundes Maß an Selbstverantwortung nicht vorzuenthalten.
Niklas