In den letzten Tagen und Wochen ist mir ein Konzept immer klarer zu Bewusstsein gekommen, dass ich der Einfachheit halber für mich „Kapazität“ genannt habe. Einerseits geht es dabei um die Kapazität von Individuen, mit überfordernden Situationen umzugehen – und Möglichkeiten, die entsprechenden Kapazitätsgrenzen auch nach außen deutlich zu machen. Andererseits geht es dabei aber auch um die Kapazität von sozialen Systemen, mit Überforderung umzugehen. Aber der Reihe nach:
Die Kapazität des Individuums
Das Konzept der Kapazität des Individuums, auf die Anforderungen der Umwelt zu reagieren, lässt sich leicht beschreiben mit der subjektiven Grenze, ab wann ein gewisser Stress-Level erreicht wird. Stress wird ja subjektiv sehr unterschiedlich empfunden, einerseits als positiver Motivationsschub (etwa dem Herannahen von Abgabeterminen), andererseits aber auch als angsteinflößend und hemmend. Obwohl sich die individuellen absoluten Grenzen jeweils stark unterscheiden können, können wir wohl vereinfacht davon ausgehen, dass es für jeden Menschen einen gewissen Level an Impulsen der Umwelt gibt, die in ihm eher das Gefühl der Langeweile hervorrufen, dann einen Bereich, der als positiv stimulierend wahrgenommen wird und schlussendlich einen Bereich, der als bedrohlich erlebt wird.
In der Regel können diese Impulse von außen als etwas beschrieben werden, das – wie eine Freundin von mir unlängst sehr schön umschrieben hat – einen „anspricht“, beispielsweise ein nicht abgewaschener Teller, der den Reiz auslöst, ihn abzuwaschen, oder ein geknickt wirkender Bekannter, der den Reiz auslöst, ihn in den Arm zu nehmen oder zu fragen, was los sei mit ihm. Nun gibt es mehrere interessante Phänomene, die in diesem Prozess auftreten können.
Erstens ist es individuell und situativ völlig unterschiedlich, ob eine Situation jemanden „anspricht“ bzw. wie sehr er sich persönlich von ihr angesprochen fühlt. Dies kann sich sogar bei der jeweiligen Person zu verschiedenen Zeitpunkten ändern. Beispielsweise war es für mich – bis ich selbstständig zu wohnen begann – völlig nebulös, wie eigentlich schmutzige Teller wieder sauber wurden. Ich hatte mich nie damit beschäftigen müssen, weil das „von selbst“ geschah. Dass meine Eltern „dahintersteckten“, war mir damals irrelevant. Heute sind mir die dahinterliegenden Prozesse viel bewusster, und beschmutztes Geschirr fällt mir entsprechend mehr im Sinne einer Handlungsaufforderung auf. Dasselbe Prinzip gilt aber auch für die meisten anderen Impulse von außen. Menschen fühlen sich unterschiedlich stark von gewissen Impulsen angesprochen.
Zweitens bedeutet ein Wahrnehmen von Handlungsimpulsen nicht automatisch, dass dem Impuls auch nachgegeben wird. Bequemlichkeit kann einer der Gründe sein, warum dies nicht passiert, oder erlebter Zeitmangel, aber auch ein Gefühl von „das ist nicht meine Verantwortung“. Ein Teller kann schmutzig sein, ich kann ihn sehen und wissen, dass er abgewaschen werden sollte, aber es trotzdem nicht als meine Aufgabe empfinden. Ein sehr interessantes (und schockierendes) Experiment diesbezüglich wurde vor vielen Jahrzehnten durchgeführt, bei dem festgestellt wurde, dass Menschen, wenn sie das Gefühl haben, dass sich die Verantwortung zu Handeln auf viele verteilt, weniger geneigt sind, selbst zu handeln, selbst wenn es sich um einen Notfall handelt (bei dem Experiment ging es um eine simulierte Straftat).
Und drittens erfolgt bei der Wahrnehmung des Impulses auch eine Bewertung des Aufwandes, die mitentscheidet, ob und auch wann/wie dem Impuls nachgegeben wird. So ist etwa das Ansprechen eines offensichtlich verstörten Menschen in der Straßenbahn für jemanden, der Erfahrung in Ausnahmesituationen hat, gefühlt wohl einfacher als für jemanden, der ohnehin schon Angst hat, andere Menschen anzusprechen, weil er eher kontaktscheu ist.
Nun leben wir (oder die meisten von uns) ja in einer Gesellschaft, in der es in vielen Situationen gewisse normierte Verhaltensweisen gibt, wobei für bestimmte Gruppen wiederum weitere Normen existieren können. Diese zu befolgen, hängt in vielen Fällen eng mit der Wahrnehmung von äußeren Impulsen und der entsprechenden Reaktion zusammen. Interessanterweise wird dabei aber leicht übersehen, dass „korrektes“ Handeln in jeder Situation rasch dazu führen kann, dass die eigenen Grenzen dabei übersehen werden, also das, was ich gerne individuelle Kapazität nennen würde. Vor einiger Zeit schrieb ich ja über die wundersame Macht der Kriterien, die ich immer noch für sehr wertvoll halte. Nur kann eine reine Entscheidungsfindung über Kriterien, die nur die jeweiligen Lösungsvorschläge bewertet, ohne die eigene Kapazität miteinzubeziehen, rasch zur Selbstaufopferung führen.
Eine (meiner Ansicht nach) genial einfache Lösung für dieses Problem liefert der Text „A gift for my daughter“, den ich vor einigen Jahren einmal entdeckt habe. Sinngemäß heißt es darin, dass niemand niemandem etwas schulde, und dann werden die Konsequenzen aus diesem Gedanken ausgeführt. Etwa dass diejenigen, die mir etwas Gutes tun, es deswegen tun, weil sie mich lieben, nicht, weil sie es mir schuldig sind. Dass ich mich nicht beschweren sollte, wenn mich jemand schlecht behandelt, weil mir niemand gute Behandlung schuldig war. Und vieles, vieles mehr – ich empfehle den Text einem jeden, der auch nur ein bisschen Englisch kann. Vor allem aber befreit er mit einem Schlag von allen gesellschaftlichen Normen und schafft die Möglichkeit, bewusst zu entscheiden, welche ich für mich als sinnvoll empfinde und befolgen will. Er bereit natürlich nicht vor der Irritation anderer Menschen, wenn man „normalen“ Regeln nicht folgen möchte – aber niemand schuldet mir ja, nicht irritiert über mein Verhalten zu sein.
Für mich existiert eine wichtige Ausnahme in dieser Einstellung, und dass sind Versprechen bzw. Verträge. Wenn ich mir die Freiheit herausnehme, nichts zu müssen, und dann aus dieser Freiheit heraus jemandem etwas verspreche (oder sogar Verträge abschließe), sind diese Versprechen oder Verträge für mich absolut bindend. Natürlich können diese auch abgeändert werden, wenn beide Seiten zustimmen. Dies bedeutet aber, dass ich mir – und zwar bevor ich ein Versprechen gebe oder Verträge abschließe – ganz genau überlegen muss, ob ich diese auch tatsächlich einhalten kann. Und wieder begegnet uns der Begriff der Kapazität: bin ich fähig, meine eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen?
Dieses Vorgehen unterscheidet sich grundlegend von dem sonst üblichen Befolgen gesellschaftlicher, familiärer oder auch nur zwischenmenschlich ausgehandelter Normen. Letztere sind in vielen Fällen nur auf den ersten Blick ähnlich oder sogar gleich erlernt oder interpretiert worden und führen somit rasch zu Konflikten, wenn verschiedene Menschen glauben, Gleiches gehört zu haben, um dann feststellen zu müssen, dass sie Verschiedenes gemeint haben. Ein Paradebeispiel wäre beispielsweise die Beziehung zwischen Mann und Frau – „zusammen“ zu sein wird tagtäglich derart verschieden aufgefasst, dass es mich offen gesagt manchmal wundert, dass es überhaupt in manchen Fällen noch funktioniert. Vor allem ist man dann „schon zusammen“ und stellt erst im Nachhinein fest, welche Ansprüche der jeweils andere eigentlich an so eine Beziehung stellt.
Kapazität von sozialen Systemen
Was uns auf diesem Blog jedoch vor allem interessieren wird, ist die Kapazität von sozialen Systemen, wie eine Schule auch eines ist. Interessanterweise finden sich auch hier einige Parallelen beziehungsweise aus der individuellen Problematik abgeleitete Prozesse wieder.
Das Phänomen, dass unterschiedliche Menschen (und auch noch je nach situativer Verfasstheit) Situationen sehr unterschiedlich wahrnehmen (und auch unterschiedliche Handlungsaufforderungen und Dringlichkeiten daraus ableiten), ist bereits eine erste wichtige Komponente der Feststellung der Kapazität sozialer Systeme. Ein jedes soziales System erfüllt ja in gewisser Weise eine Aufgabe, die in vielen Fällen beschreibbar ist aus der Summe an Handlungsweisen, die auf unterschiedliche Impulse folgen könnten/sollten. Wenn einem sozialen System (etwa dem Team einer Schule) klar ist, auf welche Impulse es überhaupt achten sollte, bedeutet dies noch nicht, dass diesen Impulsen auch Handlungen folgen – einzelne Teammitglieder werden je nach Erfahrung und Verfasstheit jeweils unterschiedlich reagieren.
Dies führt nicht nur dazu, dass es unter Umständen notwendig ist, mehrere Teammitglieder zu haben, die gewisse Impulse mit entsprechenden Handlungen beantworten können, sondern kann auch zu Konflikten im Team führen, wenn Teammitglieder anderen vorwerfen, sie würden doch Impulse wahrnehmen, aber „nichts tun“. Vor allem dann, wenn es keine klaren Aufgabenbereiche gibt und große Bereiche über viele Mitarbeiter verteilt sind, erhöht sich die Gefahr, dass Teammitglieder, die einfach eine andere Wahrnehmung haben, zu Unrecht beschuldigt werden, „faul“ zu sein, weil sie nicht so handeln, wie es andere Teammitglieder gerne täten. Gesellschaftliche, institutionelle bis hin zu familiären Normen, unreflektiert als „normal“ übernommen, verstärken den Effekt noch.
Die Kapazität von sozialen Systemen ist nicht linear steigerbar, weil neue Individuen im System (erstmal) an die institutionellen Normen angelernt werden müssen. Man könnte sogar sagen, es gibt eine Art absolute Grenze, an die sich die Kapazität eines sozialen Systems annähert, weil zusätzliche Mitglieder immer einen zusätzlichen Kommunikationsaufwand und damit die Möglichkeit von Kommunikationsfehlern impliziert. Es ist schwierig, von einem sozialen System zu erwarten, neue Aufgaben reibungslos übernehmen zu können, nur weil ein entsprechender neuer Mitarbeiter eingestellt wird. Das kann eine Art Zielvorstellung sein, aber in sozialen Systemen erfolgt Veränderung eher sprunghaft als linear.
Ein Aspekt, den sich soziale Systeme wie Schulen von dem Text „A gift for my daughter“ (siehe oben) abschauen könnten und wohl auch sollten, ist das genaue Definieren von Erwartungshaltungen. Vor allem an freien Schulen haben ja die meisten Eltern wie Lehrer jeweils sehr konkrete Vorstellungen davon, wie Schule aussehen soll, vor allem aber wie das „Ergebnis“, also die Kinder, am Ende „herauskommen“ sollen. Noch unterstützt durch oft sehr schwammige und in Wahrheit nichtssagende Konzepte sind sich anfangs meist noch alle Beteiligten einig – bis dann die ersten Konflikte auftauchen. Dann kann es Sinn machen, von vornherein klar festgelegt zu haben, wozu man sich als Schule verpflichtet hat (und das auch zu machen, solange das Vertragsverhältnis gilt) und den Rest als Geschenk zu betrachten, das man geben kann, wenn man es für richtig hält und die Kapazitäten dafür aufbringen kann.
Vor allem aber bietet das Konzept der Kapazität auch die Möglichkeit, sich einmal genau anzusehen, was eigentlich vom jeweiligen sozialen System erwartet wird und ob dies auch (unter Annahme reibungsloser Abläufe) überhaupt mit den jeweiligen Ressourcen (Personal, Material, …) möglich ist. Dann könnte man noch eine gewisse natürliche Fehlerquote hineinrechnen, die die Sache erschwert. Und dann könnte man anhand der Kriterien und der gefühlten eigenen Kapazität entscheiden, was denn für das soziale System tatsächlich möglich ist, auch langfristig zu leisten, ohne auszubrennen. Welche Verpflichtungen man guten Gewissens überhaupt eingehen kann, und welche (mit den aktuellen Bedingungen) eben nicht. Welche Schritte gesetzt werden müssten, um die Bedingungen zu schaffen, die notwendig wären, um gewisse zusätzliche und erwünschte Aufgaben zu erfüllen.
Gemeinsam mit der Macht der Kriterien bietet das Konzept der Kapazität sozialer Systeme ein (meiner Ansicht nach) sehr mächtiges Werkzeug zur Entscheidungsfindung. Ich habe mich die letzten Tage gefragt, ob es wohl möglich sein könnte, eine Art wissenschaftliche Methode zur Bestimmung der eigenen Kapazität oder etwas Ähnliches herzuleiten, aber dann festgestellt, dass es darauf für meine Zwecke gar nicht ankommt. Denn worauf es mir ankommt, ist aufzuzeigen, wie wichtig es ist, einzugehende Verpflichtungen genau zu definieren beziehungsweise zu reflektieren, ob und wie sie mit den Kapazitäten der sozialen Systeme überhaupt erfüllt werden können. Denn dann kann plötzlich ganz viel Klarheit auf allen Seiten entstehen.
Niklas