An dieser Stelle wollte ich euch heute eigentlich vom durchschlagenden Erfolg meiner Ideen im Favela-Projekt erzählen. Aber ich schulde euch die Wahrheit.
Ich hatte dem Hauptbetreuer des Projekts auf Anfrage eine Email mit meinen Plänen für den heutigen Tag geschickt. Als ich morgens ankam, bat er mich zu einem Gespräch. Da das Internet in meinem Apartment regelmässig ausfällt, hatte ich seine Antwortmail noch nicht gelesen, weswegen ich etwas verwirrt war. In der Folge sprachen wir etwa eineinhalb Stunden über unsere unterschiedlichen Ansichten der Pädagogik. Er erzählte mir, dass die Kinder im Projekt zuhause keine Grenzen gesetzt bekommen, oder, schlimmer, die Erfahrung machen, dass diese Grenzen mit ein wenig Durchhaltevermögen leicht überwunden werden können. Dies bedeutet unter anderem, dass siebenjährige Kinder bis Mitternacht alleine auf den Strassen spielen.
Deswegen versuchen die Mitarbeiter des Projekts, die Kinder zu einer sehr strikten Struktur anzuhalten und ihnen auch innerhalb dieser Struktur nur wenige Freiheiten zu lassen. Verstossen Kinder gegen die allgemeinen Regeln oder folgen sie den Anweisungen der Mitarbeiter nicht, so werden sie scharf zurechtgewiesen. Die einzelnen Blöcke innerhalb der Struktur sind so aufgebaut, dass ein Mitarbeiter ein Programm für eine der fixen Gruppen (5-9 oder 10-13 Jahre) plant und durchführt. Es ist nicht vorgesehen, etwa ein Angebot für die Kinder einer Gruppe anzubieten und die nicht interessierten Kinder andere Beschäftigungen finden zu lassen (es stehen etwa Papier, Stifte, Schweren, Brettspiele und vieles mehr zur Verfügung). Einzige Möglichkeit in dieser Richtung ist es, die Kinder etwa zwischen zwei vorbereiteten Aktivitäten wählen zu lassen.
Gordische Knoten
Nun hielt ich mich an die Anforderungen des Projekts und spielte mit den Kindern eben Rot-Blau-Tot (ein Ballspiel mit einfachen Regeln). Einige Kinder begannen, sich gegenseitig zu sekkieren. Anfangs holte ich sie noch auseinander, aber je mehr ich eingriff, desto mehr Chaos brach aus. Bis mir in voller Wuchtigkeit bewusst wurde, dass ich mich in einer Situation befand, in der ich vom System in einer kontrollierenden Rolle geworfen wurde, während die Kinder die natürlichste, menschlichste Reaktion wählten: Widerstand und das Suchen des schwachen Punktes zur Überwindung der Kontrolle. Innerlich blockiert zwischen meinem Vorsatz, die Kinder nicht für ihr Verhalten in einer mir völlig verständliche Situation zusammenzuschreien (wie es üblich war) und dem zunehmenden Verfall einer jeglichen Ordnung spürte ich, dass der Druck, den ich mir selbst machte, überhand zu nehmen drohte.
Ich verliess den Raum, suchte mir einen halbwegs ruhigen Ort, an dem ich mich setzen konnte, und liess meinen Gefühlen (und ja, Tränen) freien Lauf. Ich war nicht wütend auf die Kinder selbst. Ich hätte vermutlich ebenso reagiert wie sie. Aber ich sah keinen wirklichen Ausweg. Oder sollten die anderen Betreuer doch Recht haben?
Junge Helden
Zwei Kinder, offenbar auf der Suche nach mir, sahen mich in meinem Elend und riefen die anderen zusammen. Eines der Kinder, mit der Situation vermutlich ebenso überfordert wie ich selbst (ein Erwachsener weint?!), entschuldigte sich im Namen der anderen Kinder bei mir, während die anderen ihre Zustimmung murmelten. Er meinte, er kenne ein tolles Spiel, und er könne es den anderen erklären, falls ich noch nicht wieder dazu bereit wäre. Ich nickte, verwirrt, und doch gerührt von der Fähigkeit eines 7-jährigen, eine Situation einzuschätzen und sich konstruktiv zu verhalten.
(Ich sollte vielleicht an dieser Stelle anmerken, dass ich die Kinder nicht einfach sich selbst überliess, als ich ging, sondern sie in der Obhut einer anderen Betreuerin liess. Alles andere wäre unverantwortlich gewesen.)
Klassenkämpfe
Später, als eine andere Betreuerin ihr Programm durchzog, beobachtete ich eine interessante Szene. Ein Kind nannte ein anderes eine Kuh, woraufhin das zweite Kind dem ersten auf den Kopf tapste. Beide lachten über die Interaktion, niemand schien sich verletzt zu fühlen und sie arbeiteten weiter. Doch als die Betreuerin, die das auf-den-Kopf-Tapsen gesehen hatte, anfing, das Kind dafür zu schimpfen, meinte dieses Kind, das Kind mit der Kuh habe angefangen, woraufhin dieses Kind das zweite als Lügner beschimpfte. Das selbe Kind, dass einige Minuten vorher sich bei mir entschuldigt hatte und versucht hatte, die Situation konstruktiv zu lösen, log nun die Betreuerin an.
Ähnliche Situationen konnte ich den ganzen Tag über beobachten. Wenn die Kinder untereinander Spiele erfanden, hielten sie sich an die Regeln. Sobald Betreuer Spiele oder Aktivitäten leiteten, testeten die Kinder die Grenzen der Betreuer aus. Es war teilweise bizarr: als wäre es ein Klassenkampf bei Marx, Kinder gegen Betreuer.
Wenn an dieser Hypothese irgendetwas dran ist, und meine Beobachtungen und Erfahrungen verstärken sie zunehmend, so mag die Ursache der Reibereien nicht an fehlenden Grenzen oder dem fehlenden Willen zur Einhaltung der Grenzen liegen. Die Kinder halten sich sehr wohl an die Regeln ihrer eigenen Spiele und Aktivitäten, selbst wenn sie nicht von ihnen selbst, sondern von ihren Freunden aufgestellt wurden. Aber im Gegensatz zu den mit ihren Freunden gemeinsam eingehaltenen Regeln halten sich Erwachsene oft nicht an ihre eigenen Regeln, stellen Regeln nur für Kinder auf.
Ein klassisches Beispiel ist, dass den Kindern tagtäglich erklärt wird, dass sie nicht streiten sollen, andere nicht zu etwas zwingen sollen. Sie hören von Jesus und den Jüngern, die durch ihre Worte und Tagen die Menschen inspiriert haben, nicht befohlen haben. Und doch werden sie tagtäglich zurechtgewiesen, weil sie sich nicht nach dem Willen der Erwachsenen verhalten. Und es funktioniert auch: die Kinder werden leise, halten still, hören zu. Aber bald geht das Chaos wieder los.
In dem sehr empfehlenswerten Buch („We make the road by walking“) sprechen Paulo Freire und Myles Horton über den Unterschied zwischen Organisation und Bildung. Während Organisation für den reibungslosen Ablauf, das möglichst effiziente Erreichen eines Ziels steht, steht Bildung für den Prozess, der die so Gebildeten vom Bildenden unabhängig macht. Diese beiden Faktoren komplementieren sich gegenseitig in der Organisation von Bildung. Je mehr für die Kinder organisiert wird, desto weniger Autonomie (und damit signifikantes Lernen) nehmen sie aus diesem Prozess mit. Wenn unser Ziel ein Bunterrichten der Kinder sein soll, so können wir den Kindern den Tag nicht zu 100% durchorganisieren.
Es ist so dunkel hier..
Aber welchen Ausweg gibt es aus diesem Klassenkampf? Die Kinder können nicht gewinnen: vertreiben sie mich, kommt jemand anderer. Abgesehen davon scheint dies, wenn man ihr Verhalten mir gegenüber, wenn ich nicht „an der Macht“ bin, miteinbezieht, nicht ihre Intention zu sein. Es wirkt, als wären sie gegen mein Betreuer-Ich, während sie mein ich-bin-nicht-besser-wie-ihr-Ich sehr gern zu haben scheinen und auch durchaus respektieren. Als Betreuer gewinne ich maximal die Ruhe vor dem nächsten Sturm. So entspannend diese Ruhe kurzfristig sein kann, sie ist trügerisch. Doch die Fronten sind bereits lang verhärtet, die Zahl der unschuldigen Opfer steigt täglich an. Die Welt hier scheint längst erblindet vor lauter Auge um Auge, sieht nur noch schwarz. Meine Tränen heute nur eine weitere bittere Erfahrung.
Vielleicht waren meine Tränen heute aber auch ein wichtiger erster Schritt zum Niederbrechen der Mauern. Wenn auch Erwachsene weinen und Kinder Verantwortung übernehmen können, könnte es, wider aller Vernunft, doch sein, dass wir alle Menschen sind.
Und, da! Zaghaft, unscheinbar, erglimmt plötzlich ein Licht.
Niklas