Ist Zucker eine Droge? Ein 4-Wochen-Experiment

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einigen Wochen ist an unserer Schule (wie offensichtlich an vielen freien Schulen) der Wunsch einiger Eltern erneut vorgetragen worden, den Konsum von raffiniertem Zucker bzw. die daraus hergestellten Produkte an der Schule zu verbieten. Diese Art der gesunden Ernährung, die zuhause gut zu gewährleisten sei, sei gefährdet, wenn die Kinder in der Schule ständig mit anderen Kindern konfrontiert seien, die entsprechende Mengen an zuckerhaltigen Lebensmitteln zu sich nehmen würden. Als jemand, der in einer Familie aufgewachsen ist, in der fast eine jede Mahlzeit entweder auf Fleisch oder Zucker basierte, war die Idee, Zucker als „Droge“ zu bezeichnen (wie bei manchen Eltern üblich), für mich irgendwie irritierend.

Da ich nun jedoch schon seit vielen Jahren mit regelmäßigen Verdauungsbeschwerden kämpfe, habe ich mir erst zum Ziel gesetzt, für einige Wochen auf Zucker sowie Weizenmehl (entspricht laut einer WG-Kollegin fast 1:1 raffiniertem Zucker) zu verzichten. So würde ich vieleicht herausfinden können, welchen Effekt Zucker tatsächlich auf mein Wohlbefinden hat, und ob Zucker tatsächlich „süchtig“ macht, wie einige behaupten.

Mein durchschnittlicher Zuckerkonsum vor dem Experiment

Ich war als Kind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es völlig normal sei, zum Frühstück drei bis vier Brote mit einer dicken Schicht Butter und Nutella zu sich zu nehmen, 5-6 Pancakes zu Mittag zu essen, und die Spieleabende unseres Jugendkreises waren normalerweise begleitet von zahlreichen 300g-Packungen Schoko-und-Keks-Schokolade. Oft spielte ich stundenlang PC und verspeiste nebenbei die eine oder andere 500g-Rolle nachgemachter Prinzenrolle.

Je älter ich wurde, desto weniger wurden dieses massiven Zucker-Mengen, die ich tagtäglich zu mir nahm, wobei vor allem dann, wenn ich „nebenbei“ etwas aß (etwa beim Computerspielen oder bei Brettspiel-Abenden) immer noch beachtliche Mengen zusammenkamen. Aufgrund der zunehmenden Verdauungsschwierigkeiten bin ich dann auf die Theorie gestoßen, dass Zucker den Körper mit-übersäuert, und habe stückweise versucht, meinen Zuckerkonsum zu reduzieren, etwa indem ich mir vornahm, nur noch selbst gebackene Kuchen und keine gekauften Kekse mehr zu essen. Oft hatte ich dann jedoch plötzlich Unmengen von Kuchen zuhause, „die man ja auch nicht einfach verschimmeln lassen kann“. Ich bin gut im nachträglichen Rationalisieren von dämlichen Entscheidungen, wenn mir etwas nicht wirklich wichtig ist.

Die ersten Tage des Experiments

Durch die Selber-backen-Regelung, die ich im Durchschnitt auch ganz gut einhalten konnte, gab es auch immer wieder Phasen, in denen ich einige Tage keinen Zucker zu mir nahm (eben, bevor der nächste Kuchen fertig war). Wohl deswegen waren die ersten 3-4 Tage völlig harmlos. Dann jedoch hatte ich massive Verdauungsschwierigkeiten, die einige Tage lang anhielten. In jener Zeit achtete ich darauf, den ungewohnten Mangel an Zucker durch ein Mehr an Obst (=Fruchtzucker) auszugleichen. Immer wieder wanderte ich im Supermarkt an dem Süßigkeiten-Regal vorbei, und es war gar nicht so einfach, den Einflüsterungen der Gewohnheit („ist ja nicht so schlimm“, „einmal ist keinmal“) zu widerstehen. Wenn ich dann jedoch etwas anderes essen konnte (z.B. eine Banane mit Walnüssen), wurde es besser. Die Vermutung liegt nahe, dass es weniger die Sucht nach dem Zucker als die Gewohnheit war, praktisch bei jedem Einkauf etwas Süßes mitzukaufen.

Die nächsten zwei Wochen

Dann ging es mir etwa zwei Wochen lang gesundheitlich so gut wie schon jahrelang nicht mehr. Auf Anraten meiner Mitbewohner ersetzte ich einen Teil des Obstes durch Gemüse und achtete auch darauf, Weizenprodukte durch andere Getreidesorten zu ersetzen. Ein angenehmer Nebeneffekt der Sache war, dass ich dabei herausfand, welche Vielfalt an Getreidesorten es eigentlich im Angebot gibt: von Linsen über Hirse zu Buchweizen waren der Kreativität da keine Grenzen gesetzt. Einmal aß ich ein Stück Geburtstagskuchen einer unserer Schülerinnen, um herauszufinden, ob es sofortige Konsequenzen im Wohlbefinden haben würde, aber es passierte nichts.

Im Zuge des Experiments habe ich auch einige interessante Entdeckungen gemacht: ich werde zum Beispiel nun am Abend müde. Ansonsten habe ich oft in den Abendstunden noch einige Zucker enthaltende Lebensmittel gegessen und fühlte mich dann oft viel zu wach, um vor 24:00 schlafen zu gehen. Da ich aber meistens um ca. 6:15 aufstehe, summiert sich der Schlafmangel über längere Zeit dann doch. Da ich nun (ohne den zucker-induzierten Energieschub) oft schon gegen 23:00 oder noch früher müde wurde, bin ich in jener Zeit häufiger auf meine 7-8 Stunden Schlaf gekommen. Vor allem habe ich auffallend oft auch tief geschlafen und fühlte mich am Morgen gut erholt. Anfangs war es seltsam, plötzlich weniger Zeit pro Tag zur Verfügung zu haben, aber nach einigen Tagen fühlte es sich irgendwie auch „richtiger“ an, und in den Wachstunden fühlte ich mich energiegeladener.

Auch interessant war, dass mein Appetit nach der Anfangsphase massiv zunahm und ich feststellte, dass ich einen großen Teil meines Appetits auf „sinnvolle“ Nährstoffe bisher immer wieder mit zuckerhaltigen lebensmitteln „ruhiggestellt“ habe. Deswegen kann ich wohl auch so viele Kekse essen – ich habe dann einfach Hunger, der mit den Keksen natürlich nicht langfristig gestillt wird. Dann habe ich wieder Hunger, esse wieder Kekse, und so weiter. Eigentlich ziemlich dämlich, wenn man darüber nachdenkt. „Richtige“ Sachen zu essen füllt dann auch tatsächlich, und fühlt sich langfristig auch besser an. Für den kurzfristigen Energieschub, der zuckerhaltigen Lebensmitteln oft rasch folgt, bezahle ich dann oft eine Weile später mit dem Gefühl der Energielosigkeit. In der Zeit, als ich auf Zucker verzichtet habe, schwankte meine Stimmung auch auffallend weniger.

Die letzte Woche

Einen Tag vor Ablauf der vier Wochen bin ich dann plötzlich während des Schreibens ohnmächtig geworden und vom Stuhl gefallen, was mir einige Abschürfungen im Gesicht und eine Nacht im Krankenhaus beschert hat. Laut der Ärztin ist es jedoch eher unwahrscheinlich, dass das Weglassen von raffiniertem Zucker etwas damit zu tun hat. Radikale Änderungen wie in diesem Fall können für den Körper (laut ihr) bis zu einem gewissen Grad eine Belastung darstellen, aber nach Ausschluss einiger anderer möglichen Risikofaktoren wie Herzrhythmusstörungen hat sie gemeint, ich hätte vermutlich einfach zu wenig getrunken gehabt. Ich erwähnte das hier nur der Vollständigkeit halber. Bei allen Nahrungs-Experimenten immer genug (=mindestens 2-3l/Tag für Erwachsene) trinken…

Ist Zucker nun eine „Droge“?

Ich glaube nach den vier Wochen nicht, dass Zucker „abhängig“ im sonst üblichen Sinn macht, sonst wäre es mir wohl nicht so einfach gefallen, ihn zu meiden. Vielmehr handelt es sich wohl bei vielen Menschen um eine Gewohnheit, die wie die meisten Gewohnheiten manchmal schwer zum Umgewöhnen sind. Wer sich beispielsweise nicht gerne die Zeit nimmt, bewusst einzukaufen und auch selbst zu kochen (z.B. weil jemand ohnehin schon überarbeitet ist und nicht glaubt, sich auch noch die Zeit dafür nehmen zu können), dem wird es schwer fallen, den inneren Freiraum in sich zu schaffen, sich im Supermarkt gegen die Kekse zu entscheiden. Wenn man durch bewussten Einkauf dafür sorgt, dass zuhause genügend Obst, Gemüse, Nüsse und so weiter und keine/kaum zuckerhaltige Lebensmittel vorhandenen sind, fällt es erheblich leichter, sich zu entwöhnen.

Wenn ich Hunger auf Süßes verspürte, habe ich mir einen Tee gemacht, einige Walnüsse geknackt und einen Banane dazu gegessen, danach fühlte ich mich besser. Man kann sich damit für die eigene Umgewöhnung relativ einfach selbst eine Art „vorbereitete Umgebung“ schaffen, die das Vorhaben unterstützt. Wer diese Umgebung alternativlos mit Süßem anfüllt (z.B. ins Kinderzimmer nur Süßes packt), wird – wenn er sich in dem Zimmer befindet – bevorzugt zu Süßem greifen.

Zucker hat wohl durch seine rasche Energiebereitstellung gewisse Merkmale von „Drogen“ an sich, aber den Vergleich halte ich trotzdem für sehr weit hergeholt. Tatsächlich folgt dem Zuckerkonsum (leicht versetzt) oft eine Art Hochgefühl, gefolgt von einer gewissen Energielosigkeit, weil die dadurch bereitgestellte Energie rasch verbraucht wird und dann schlicht wenig für später überbleibt. Die Folge können Gefühle von Lustlosigkeit bis hin zu depressiven Verstimmungen sein, oft gefolgt von einem Mehr an Süßem, um sich wieder energiegeladener fühlen zu können. Das kann bei manchen Menschen dazu führen, dass sie schlussendlich Unmengen von süßen Produkten in sich hineinstopfen, was vor allem aufgrund der bei industriell hergestellten Produkten oft massenhaft verwendeten Zusatzstoffe gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann. Bei manchen Menschen, die dazu neigen, verwandelt der Körper die im Moment schlicht nicht verwendbare Energie in -Reserven (=Fettpolster) um.

Zuckerhaltige Lebensmittel völlig zu meiden ist vor diesem Hintergrund wohl ein nicht unbedingt notwendiger Schritt in seiner Radikalität. Den Großteil der Nahrung sollten jedoch langfristige Energieverwerter ausmachen, um den Körper auch langfristig mit ausreichend Energie zu versorgen. Ein Übermaß an zuckerhaltigen Lebensmitteln sorgt eher dafür, dass in kurzer Zeit viel zu viel Energie zur Verfügung steht, was je nach Konstitution dann zu Fettleibigkeit oder (wie bei mir) offensichtlich zu Verdauungsschwierigkeiten führen kann.

Vor allem für diejenigen interessant, die glauben, keine Zeit für solche Überlegungen zu haben: der dafür aufgebrachte Aufwand rechnet sich schon nach kurzer Zeit in Form von konstanter zur Verfügung stehender Energie und einer spürbaren Verbesserung der Lebensqualität. Wer sich Gedanken darüber macht, was er eigentlich tagtäglich in sich hineinstopft und was er vielleicht vermeiden möchte, entdeckt dabei vielleicht ihm völlig unbekannte Lebensmittel. Und wer seine Nahrung aus einer Fülle an Möglichkeiten schöpft, hat eine bessere Chance, sich abwechslungsreicher und damit auch ausgewogener zu ernähren. Schon alleine deswegen würde ich es einem jeden Menschen empfehlen, regelmäßig mit seiner Nahrung zu experimentieren.

Zucker an Schulen verbieten?

Abgesehen davon, dass es an einer freien Schule wie der unseren fast unkontrollierbar wäre, halte ich es aus verschiedenen Gründen für eine absurde Idee, Zucker an Schulen zu verbieten. Wenn man damit anfängt, wo hört man auf? Soll man auch Salz verbieten, das ja ebenso ein Genussgift sein soll? Weizenmehl und Reis, weil diese auch schnell in Energie umgewandelt wird? Obst, weil die Fructose auch eine Art von Zucker ist? Sollen die radikaleren Wünsche einer Familie über die Essgewohnheiten der nächsten bestimmen? Da kommt man sehr schnell in Bereiche, die das Selbstbestimmungsrecht von Familien auch in anderen Bereichen untergraben.

Tatsächlich ist es (wie ich festgestellt habe), einfacher, auf bestimmte Nahrungsmittel zu verzichten, wenn sie in der umittelbaren Ugebung gar nicht aufzufinden sind. Und wenn mir jemand einen Keks anbietet, ist es schwerer, ihn nicht zu essen, als wenn ich ihn extra kaufen müsste. Aber geht es nicht gerade auch darum, dass ich selbst mich für oder gegen ein Nahrungsmittel entscheide, weil ich davon überzeugt bin, dass es mir bekömmlich oder schädlich ist? Und muss ich dafür nicht bis zu einem gewissen Grad auch meine eigenen Erfahrungen damit gemacht haben? Davon ausschließen möchte ich an dieser Stelle ganz klar harte Drogen wie Crack, die die eigene Urteilsfähigkeit angreifen bis völlig vernichten können. Aber Zucker?

Ein Stück weit handelt es sich beim Umgang mit Zucker ja um eine Art von „Glaube“, weswegen ich es für sinnvoll halte, die Sache auch entsprechend zu behandeln. Wenn ich davon überzeugt bin, dass kein oder wenig Zucker besser für meinen Körper ist, dann macht es Sinn, danach zu leben und den positiven Effekt vorzuführen, ohne andere dazu zu zwingen, mir nachzufolgen. Wenn der Effekt ein positiver ist, werden mir auch andere nachfolgen oder es zumindest für sich selbst ausprobieren. Zudem kann ich ja (wie an unserer Schule als „Obstzeit“ üblich) nur entsprechende Nahrungsmittel als Alternative zu Süßem anbieten. Das hat auch noch den Vorteil, dass sich dazu möglicherweise ein Supermarkt findet, der seine unverkäufliche Waren (weil zum Beispiel einer von 6 in Plastik eingepackten Äpfeln braun geworden ist) umsonst dafür spendet.

Ein jeder Glaube muss sich auch daran messen, wie tolerant er gegenüber Andersgläubigen sein kann. Demjenigen, der seinen Glauben anpreist und den anderer schlechtreden muss, kann ich nur schwer glauben, dass er von seinem Glauben wirklich überzeugt ist. Wenn jemand für sich selbst auf Zucker verzichten möchte, will ich ihm dies nicht ausreden. Auch ich werde nach meinem Radikal-Experiment meinen Zuckerkonsum massiv reduzieren, weil ich gemerkt habe, dass es mir dabei besser geht. Aber wenn jemand nun in den Supermarkt geht und sich eine Packung Kekse kauft und sie neben mir isst, dann muss ich das eben aushalten. Und wenn er so freundlich ist, mir auch noch welche anzubieten, dann habe ich jederzeit die Möglichkeit, sie abzulehnen.

Und diese Freiheit – und damit Verantwortung für die Konsequenzen – will ich meine Schülern nicht nehmen.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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