Ich weiß nicht mehr, was ich mir wirklich vom Schulstart diese Woche versprochen hatte, aber vermutlich waren auch einige Auswüchse übersteigerten Selbstbewusstseins dabei. Wochenlang schon hatte ich mich darauf gefreut, und entsprechend sah ich den ersten Tagen mit einer Mischung aus freudiger Erwartung und Nervosität entgegen. Im Endeffekt wiederholte sich im Laufe der Woche ein Muster, dass mir schon aus denKinderlagern, die ich mitbetreut hatte, bekannt war, und das sich wohl auch in Zukunft weiter fortsetzen wird: die Autorität wächst mit der Vertiefung der Beziehungen in der Gruppe.
Die Gruppe akzeptiert die Autorität (nicht)
Über die letzten Jahre habe ich mich derart viel mit Pädagogik, Gruppendynamik und Politik beschäftigt, dass ich manchmal vergesse, wie essentiell der Faktor Beziehung in jeder Gruppe ist. Autorität ist neben anderen Dingen vor allem auch eine Frage der Beziehungsgestaltung und der Gruppendynamik, und es bleibt völlig irrelevant, was ich weiß oder was ich kann, wenn mir eine Gruppe die Autorität, das Wissen und die Fähigkeit einzusetzen, nicht verleiht. Ohne diese Anerkennung der Gruppe bin ich für sie nur ein nicht so recht ernst zu nehmender Mann, der sich für jemand Besseren hält. Jemand, dem aufgrund gewisser formaler Machtverhältnisse oder physischer Überlegenheit Folge zu leisten ist, nicht, weil ihm tatsächlich Führungsqualitäten zugesprochen werden.
Den Unterschied zwischen tatsächlich als (politischen) Führer akzeptierten Menschen einer Gruppe und jenen, denen eher aus letzteren Gründen Folge geleistet wird, lässt sich dadurch beschreiben, dass akzeptierten Führern im Regelfall auch dann gefolgt wird, wenn diese nicht anwesend sind. Ihre Macht basiert auf freiwilliger Unterordnung und echtem Respekt, beruht auf internen Faktoren, während formelle Macht und das Ausspielen physischer Überlegenheit externe Faktoren sind, die nur in bestimmten Situationen dazu führen, dass sich andere ihnen unterordnen. Sie basieren auf der Angst vor Bestrafung. Die Untergrabung dieser Autorität erfolgt dementsprechend, indem versucht wird, Bestrafung zu entgehen: im Verborgenen handeln, lügen, Schwachstellen suchen und ausnutzen.
Warum Lehrer „ausgetestet“ werden
Manchmal habe ich das Gefühl, als würden Kinder oft – bewusst oder unbewusst – einen jeden Menschen, den sie kennenlernen (vor allem auch Lehrer und andere „Autoritätspersonen“) austesten wollen, ob sie sich vor ihm hüten müssen, weil er externe Mittel benutzen will, um sie fügsam zu machen, oder ob sie ihm folgen können, weil er sich auf seine interne Autorität verlässt. Diese Tests sind oft schwer zu durchschauen und führen oft in grenzwertige Situationen – eingreifen oder gewähren lassen? Es geht dabei wohl weniger um die Erfüllung gewisser pädagogischer Konzepte, sondern um Authentizität.
Ein jeder neuer Lehrer, eine jede neue Autoritätsperson stellt das Kind ja vor die Frage, ob es diesem Menschen vertrauen kann: Ist das, was dieser Mensch mir erzählt, ehrlich gemeint, oder möchte er mich manipulieren? Vieles, was wir als „Pädagogik“ bezeichnen, könnte man auch als „Manipulation“ bezeichnen. Ob (zumindest vermeintlich) „zum Wohle des Kindes“, dem der Eltern oder unserem Eigenen, bleibt dabei relativ irrelevant – Manipulationsversuche bedeuten, dass ich dieser Person (und damit auch der Führung und Autorität dieser Person) tendenziell nicht vertrauen kann.
Fahrlässige Selbstüberschätzung
Wenn ein Kind erfahren darf, dass ein Erwachsener (meistens) nach seinen inneren Maßstäben, also authentisch handelt, anstatt sich ganz den Anforderungen seiner Rolle zu fügen, unabhängig davon, ob er sich stark genüg fühlt, sie auch ganz zu übernehmen, hat dies auch einen weiteren, wenig beachteten Nebeneffekt: Das Kind lernt, in welchen Situationen es sich darauf verlassen kann, dass der Erwachsene für es da ist, und – was noch viel wichtiger ist – in welchen Situationen es nicht auf seine Hilfe zählen kann. Und so paradox dies klingen mag, dies kann gefährliche Situationen oft besser verhindern helfen als der vermeintlch „perfekte“ Pädagoge, der zumindest vorgibt, alles zu können. Ein Kind, das sich auf die Unterstützung eines Erwachsenen verlässt, traut sich Aufgaben zu, die es sich alleine nicht zutrauen würde, auch die Bewältigung größerer Gefahren. Der Erwachsene, der einem Kind vorgibt, es unterstützen zu können, wo er es tatsächlich nicht kann, kann das Kind in bedrohliche Situationen bringen.
Im Verlauf dieser ersten Woche an der Schule erlebte ich die übliche Entwicklung von den projizierten Vorstellungen eines „typischen Lernbegleiters“ und entsprechender Erwartungen hin zu einer realistischeren Einschätzung meiner Persönlichkeit, meinen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Auch wenn es passieren kann, dass ich bestimmte Aussagen und Handlungen wider besseres Wissen persönlich nehme, handelt es sich doch vermutlich um den immer gleichen Prozess des Abtastens, des Kennenlernens. Die „Authentizitäts-Tests“ werden mit der Zeit weniger, und der Beziehungsaufbau beginnt.
Die Zeit für uns arbeiten lassen
Wieder wiederholte sich auch das Muster, dass ich mit einigen wenigen Kindern von Anfang an eine gute Basis fand, während mich andere eher kritisch beäugten. Anstatt mich jedoch mit allen gleich „anfreunden“ zu müssen, vertraue ich da mittlerweile auf die Macht der Gruppendynamik. Manche Menschen sind risikofreudiger im Umgang mit anderen Menschen und gehen sofort auf Kontakt, andere lassen lieber erst andere erste Erfahrungen machen und entscheiden aufgrund dieser Erfahrungen, ob auch sie Kontakt mit dem „Neuen“ aufnehmen möchten. Wichtig ist es, die Beziehung zu den mutigen ersten Kontakten positiv und lohnend zu gestalten, dann folgen die anderen mit der Zeit von selbst. Innerhalb einer Gruppe funktioniert die Kommunikation dahingehend meist sehr gut.
Diese ersten Kontakte sind der Hebel, der die anfangs naturgemäß beschränkte Autorität (wie soll man jemanden respektieren, den man nicht kennt und damit nicht einschätzen kann?) vervielfachen kann. Es geht dabei nicht darum, seine Autorität zu demonstrieren und zu zeigen, dass man erwachsen und toll ist, sondern darum, seine Autorität sparsam dort einzusetzen, wo es auch Sinn macht und wo man tatsächlich etwas beizutragen hat. Wenig untergräbt die eigene Autorität mehr als Situationen, in denen man eingreifen möchte und ihnen offensichtlich nicht gewachsen ist.
Warum Autorität nicht „böse“ ist
Aber warum spreche ich hier überhaupt von Autorität, als Verfechter alternativer Pädagogik und freier Schulen? Weil Autorität und Freiräume sich nicht widersprechen, Autorität diese Freiräume (siehe Paulo Freire) sogar erst ermöglicht. Ob es sich nun um die Autorität eines Menschen oder die Autorität von von allen akzeptierten Gesetzen handelt: ohne diese Aufgabe gewisser Möglichkeiten menschlichen Handelns wäre Gesellschaft, wie wir sie kennen, kaum möglich. Wir sind derart an unsere zivilisierte Gesellschaft gewöhnt, dass wir gerne ausblenden, dass ein Sechsjähriger körperlich durchaus fähig wäre, einen Erwachsenen schwer zu verletzen oder gar umzubringen.
Echte Autorität ist wohl weitgehend gleichbedeutend mit der Akzeptierung der Führung eines anderen (oder von Gesetzen), der im Gegenzug verspricht, für ein gutes Zusammenleben zu sorgen. Sie war der Grundpfeiler einer jeden Monarchie, ist Grundlage einer jeden Demokratie und ebenso die Grundlage des Wunsches nach dem starken Mann, der Ordnung in die Welt bringt, der dieser Tage auch in Europa immer öfter vernommen wird. All diese Systeme entstanden wohl aus dem Wunsch der Menschen nach Ordnung und der Berechenbarkeit, der Sicherheit, die sie brachte. Innere Autorität ist eine Fähigkeit, die all die großen Führer der jüngeren Geschichte eint, sei es nun ein Ghandi, ein Luther King Jr. oder ein Jesus. Kaum würde man ihnen vorwerfen, Diktatoren zu sein, obwohl auch ihnen sich eine große Masse an Menschen unterordnete.
Und ähnlich sehe ich nun auch innere Autorität innerhalb einer Schule nicht als das Problem an, und noch weniger das Verbannen jeglicher Autorität aus den Schulen als Lösung. Wir können dafür sorgen, dass illegitime Führungsansprüche (die rein aus formellen Machtansprüchen und physischer Überlegenheit entstehen) vermindert werden, doch gleichzeitig halte ich es für essentiell, das dadurch entstehende Machtvakuum durch unsere innere Autorität aufzufüllen. Dies jedoch erfordert eine gehörige Portion Mut. Mut zur Authentizität, Mut zur Ehrlichkeit und zum Fehler – Mut zum Mensch sein. Und es erfordert Zeit. Das Ertasten und einschätzen der inneren Autorität des jeweils anderen ist ein andauernder Prozess des gegenseitigen Entdeckens und Förderns, der kaum in einigen Tagen abgeschlossen werden kann.
Auf dem Weg zur inneren Autorität werden wir uns wohl manchmal trotzdem noch äußerer Autorität bedienen müssen, vor allem, bis diese innere Autorität ausreichend gewachsen ist, um potentiell gefährliche Situationen zu entschärfen. Es gibt gewisse Menschen, die diese innere Autorität derart ausstrahlen, dass sie sie auch in jeder neuen Gruppe sofort ausstrahlen, aber ich bin leider noch nicht soweit, auch wenn es mittlerweile immer schneller geht und sich meist nur noch um einige Tage handlet. Äußere Autorität kann ein notwendiges Werkzeug sein, um diese erste Zeit zu überbrücken, doch sollten wir aufpassen, dass sie nicht zum Selbstzweck wird und dem Ausbilden der inneren Autorität im Wege steht, denn äußere Autorität ist gefährlich bequem. Doch wenn es unser Ziel sein soll, als leuchtende Vorbilder unserer Schüler beständig über uns selbst hinauszuwachsen, werden wir die Bequemlichkeit hinter uns lassen müssen und uns Schritt für Schritt vortasten auf dem Weg, den alle großen Führer unserer Geschichte begangen sind.
Niklas