Warum überschreiten Kinder Grenzen? Und wie können wir darauf reagieren, wenn wir Gewalt als Option ausschliessen? Dazu möchte ich Grenzen in zwei Untergruppen betrachten. Es gibt die Grenzen der Freiheit der Anderen, die für alle Menschen grundsätzlich gleich gelten. Kein Mensch darf etwa einen anderen verletzen. Kein Mensch darf (zumindest theoretisch) einen anderen zwingen, seine Meinung zu teilen. Die wirksamste Abwehr gegen Überschreitungen dieser Grenzen ist neben der strikten Wahrung wohl auch die Vorbildwirkung der Erwachsenen selbst. Wer selbst diese Grenzen übertritt, um Kinder zurechtzuweisen, wer sie übertritt, um Kinder zu bestimmten Verhaltensweisen zu zwingen, wirkt inkongruent, wenn er von den Kindern ein anderes Verhalten verlangt. Kinder haben ein sehr gutes Gespür für diese Inkongruenzen.
Diese Grenzen einzuhalten und auf deren Einhaltung auch der anderen Menschen zu achten, ist Aufgabe aller Menschen, nicht nur der Erwachsenen. Langfristiges Ziel wird jedoch die Internalisierung dieser Grenzen sein, um ein gewaltfreies Zusammenleben ohne die Notwendigkeit ständiger Repression zu ermöglichen.
Konstruktive Grenzen
Die zweite Gruppe der Grenzen, die anders als die permanent und universell gültigen Menschenrechte eine temporäre, konstruktive Funktion erfüllen, möchte ich äussere Grenzen nennen, die mit den inneren Grenzen eines Menschen in Wechselwirkung stehen, wenn sie richtig eingesetzt werden. Die inneren Grenzen eines Menschen, seine Fähigkeiten, sein Selbstbewusstsein und andere Faktoren, die seinen Handlungsspielraum einschränken, ermöglichen es ihm (noch) nicht, vollständig autonom zu leben, weswegen äussere Kräfte für die Erfüllung gewisser Bedürfnisse sorgen müssen. Eine äussere Grenze macht beispielsweise Sinn, wenn Kinder einen Werkraum mit schweren Maschinen benutzen dürfen – sie dürfen etwa die schweren Maschinen nur benutzen, wenn ein kundiger Erwachsener bei ihnen ist.
Diese sehr wichtige Funktion von äusseren Grenzen vermittelt Sicherheit. Grenzenlose Freiheit kann auch Angst machen. Eine Schwierigkeit dabei ist jedoch, dass diese äusseren Grenzen, um diese Funktion gut zu erfüllen, mit den inneren Grenzen des Individuums zusammenpassen müssen. Ansonsten kann zu viel Freiheit Gefühle der Überforderung nach sich ziehen, oder das Gefühl des eingeengt-Seins führt zu unkontrollierten und potentiell gefährlichen Grenzüberschreitungen oder eines Auslassens des Frustes über die Grenze an anderen.
Weil ich dich liebe
Dies bedeutet, dass die gleichen äusseren Grenzen für etwa eine Gruppe von Kindern tendenziell für die wenigsten exakt mit ihren inneren Grenzen harmonieren wird: Überforderung und unkontrollierte Grenzüberschreitungen sind die Folge. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte es sein, äussere Grenzen von vornherein mit Türen auszustatten, die die Grenzüberschreitung zur nächsten Grenz-Stufe auf kontrolliertem Wege ermöglichen. Die Kinder, die die Maschinen im Werkraum nicht alleine verwenden dürfen, können etwa durch den Erwerb eines „Maschinenführerscheins“ diese Grenze überwinden. Anstatt die Mauern zu bearbeiten, um Risse zu finden, können sie nach dem Schlüssel der Tür suchen. Das Kräftemessen wird zum Dialog: Du möchtest auf die andere Seite? Dort lauern einige Gefahren, und ich möchte sichergehen können, dass du für sie gewappnet bist. Nicht, weil ich dich zurückhalten will, sondern weil ich dich liebe, und nicht möchte, dass dir etwas passiert.
Faire Grenzen?
Ich glaube, wir tun Kindern nichts Gutes, wenn wir diese äusseren Grenzen aus falschem Gerechtigkeitsgefühl etwa für alle Kinder einer Schulklasse gleich definieren. Diese Kinder sind nicht gleich, unterscheiden sich stark in ihrem Charakter, ihren Fähigkeiten, und sie dürften mit diesen verschiedenen Grenzsetzungen (solange sie logisch nachvollziehbar sind und einem jeden die gleichen Chancen zu ihrer Überwindung bieten) wenige Schwierigkeiten haben. Auch in der Welt der Erwachsenen gibt es verschiedene äussere Begrenzungen für Erwachsene, warum sollte es für Kinder anders sein?
Was offen bleibt, ist die praktische Umsetzung eines solchen Prinzips, vor allem in einem auf repressive Grenzen basierendem System wie in dem Favela-Projekt, in dem ich mitarbeiten darf und mit meinem (äusserlich) begrenzten Handlungsspielraum, ganz zu schweigen von der nicht vorhandenen Diskussionskultur hier.
Aber es könnte einen weiteren Schritt aus der Spirale der Gewalt, hin zu einem liebevollen Dialog, bedeuten.