Die größten Bemühungen um eine gewaltfreie Kommunikation zwischen Schülern oder zwischen Schülern und Lehrern müssen langfristig scheitern, wenn nicht darüber reflektiert wird, in welchen vielfältigen Formen sich Gewalt ausdrücken kann, oder was „Gewalt“ eigentlich bedeutet.
Macht und Gewalt
Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch den Unterschied zwischen Macht und Gewalt als den Einsatz von Mitteln, um jemanden zu etwas zu bringen. Macht ist der Zustand, wenn ein anderer Mensch mir und meinem Willen folgt, ohne dass ich mir überlegen muss, wie ich ihn dazu bringen kann. Es ist ein Zustand, den ich mir in den meisten Fällen über längere Zeiträume erarbeiten muss, in denen der andere Mensch die Erfahrung macht, dass er meiner Führung vertrauen kann, dass ich ihn auch zu seinem Vorteil und nicht nur zu meinem eigenen führe oder ver-führe.
Gewalt definiert Arendt als den Einsatz von Mitteln, um einen anderen (Menschen) zu etwas zu bringen, dass er nicht von sich aus machen würde. Diese Mittel können Belohnungen, die Androhung oder Durchführung von Strafmaßnahmen, negativen Bewertungen bis hin zur physischen Gewalt und so weiter sein. Tatsächlich ist mir in der Praxis aufgefallen, dass es Situationen gibt, in denen ich gar nicht darüber nachdenke, ob ein Schüler mir folgen wird, und ich ihn einfach darum bitte, etwas zu tun, etwa mir beim Aufräumen zu helfen. In jenen Situationen „funktioniert“ dies fast immer. Wenn ich allerdings beginne, vorher zu überlegen, wie ich dies am besten anstellen kann (mir die Mittel zurechtlege), funktioniert dies bedeutend seltener. Es kann ein wertvolles innerliches Feedback sein, sich selbst zu beobachten, bei welchen Schülern man anfängt, zu überlegen, wie an sie zu etwas bringen kann, und bei welchen man davon ausgeht, dass es „funktioniert“. Bei ersteren hat man es wohl noch nicht geschafft, ein Mindestmaß an natürlicher Autorität aufzubauen.
Warum habe ich Belohnungen in die Liste der Gewaltmittel inkludiert? Weil Belohnungen ebenso eine Form der Beeinflussung darstellen, die offensichtlich machen, dass meine Macht (noch) nicht ausreicht, dass mir andere Menschen auch ohne sie folgen. Hannah Arendt schreibt weiter, dass Gewaltanwendung immer meine bereits aufgebaute Macht (und damit das Vertrauen in meine Führung) zerstört. Weitergedacht bedeutet dies, dass das „Bestechen“ von Kindern durch Belohnungen, um erwünschtes Verhalten zu erzeugen, dazu führt, dass ich meine natürliche Autorität gefährde. Weil ich davon ausgehe, dass viele Leser diesen Satz und seine Bedeutung einfach überlesen, nochmal: Der Einsatz von Belohnungen, um Kinder zu etwas zu bringen, untergräbt die natürliche Autorität und damit meine Chance, in Zukunft ohne den Einsatz von (Gewalt-)Mitteln auszukommen.
Im pädagogischen Alltag kommen immer wieder Situationen vor, die mich als Lehrer zum Eingreifen aufzufordern scheinen. Sehr häufig handelt es sich um Situationen, in denen ich zwar eingreifen kann, aber keine Möglichkeit habe, durch die Übernahme konstruktiver Führung die Situation aufzulösen. Kinder, die noch nicht das notwendige Vertrauen in meine Führung aufgebaut haben, laufen dann etwa vor mir davon, und ich muss zu Mitteln wie dem Festhalten greifen, um die Situation klären zu können. Wenn dies geschieht, setze ich meine bisher aufgebaute Autorität bei den beteiligten Kindern aufs Spiel. Kinder können meiner Erfahrung nach besser damit umgehen, wenn Erwachsene nicht eingreifen, als wenn sie eingreifen und die Situation dann nicht klären können. Es ist sinnvoll, seine Kämpfe möglichst so zu wählen, dass man sie auch gewinnen kann. Und ansonsten nicht einzugreifen, auch wenn es schwerfällt. Genau zu beobachten, ja, aber nicht einzugreifen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, um Verletzungen zu vermeiden.
Wenn es über längere Zeit möglich war, weitgehend als Führungsperson und nicht als oberste Gewalt-Instanz zu fungieren, führt dies zum Aufbau von natürlicher Autorität, von Macht im positiven Sinne. Dies bedeutet nicht, dass diese nicht immer wieder hinterfragt werden kann und wird. An unserer Schule lässt es sich sehr schön beobachten, wie vor allem die etwas älteren Quereinsteigerkinder diese aufgebauten Machtstrukturen durch ihr Verhalten infrage stellen. Eine Strategie für neu hinzugekommene Kinder könnte es auch sein, den Kindern, die bereits längere Zeit mit den Erwachsenen Zeit verbracht haben, und ihren Bewertungen der Autorität der Erwachsenen zu vertrauen. Eine andere kann es sein, den Prozess der Erlangung natürlicher Autorität individuell neu einzufordern. Das ist für alle Beteiligten einerseits sehr anstrengend, andererseits sorgt es auch dafür, dass einmal erlangte Macht nicht zur Bequemlichkeit wird. Arendt schreibt auch, dass die größte Gefahr dann entsteht, wenn jemand gewohnt ist, Macht auszuüben, und diese Macht plötzlich infrage gestellt wird. Dann ist die Chance groß, dass Macht in Gewalt umschlägt.
Im Idealfall ist Macht nicht ein einmal erarbeiteter Ruf, sondern ein im Miteinander immer wieder aktualisierter Prozess, der dafür sorgt, dass alle Beteiligten immer wieder die Erfahrung machen können, dass es für sie in gewissen Situationen sinnvoll ist, der Führung anderer Personen zu folgen, ohne dass diese Personen zu allem möglichen Mitteln greifen müssen, um ihre vermeintliche Macht zu demonstrieren.
Formale/symbolische Macht
An unserer Schule sind derzeit in etwa 60 Kinder und Jugendliche sowie rund 5-6 Erwachsene/Tag. Dies ist eine Größe, für die es noch relativ einfach ist, natürliche Autorität mit einem jeden einzelnen Schüler aufzubauen. An einer Schule mit 300 Kindern wird dies nicht mehr so einfach im direkten Kontakt möglich sein. Deswegen gibt es auch ein gewisses Maß an symbolischer bzw. formaler Macht, die dafür sorgt, dass Menschen nicht nur vor der natürlichen Autorität gewisser Individuen, sondern auch vor der symbolischen Autorität gewisser Positionen Führungsqualitäten erwarten. Es ist eine Art Vertrauensvorschuss, der einem persönlich unbekannten Menschen aufgrund seiner formalen Position gewährt wird, weil ich davon ausgehen kann, dass bei der Besetzung der formalen Position darauf geachtet wurde, einen möglichst geeigneten Kandidaten auszuwählen.
Je nachdem, welches Bild ich subjektiv von einer gewissen formalen Position habe, sind mit jener Position unabhängig von der sie ausfüllenden Person gewisse Erwartungen verbunden. Wenn ich an einer freien Schule davon ausgehe, dass Lernbegleiter grundsätzlich versuchen, gewaltfrei zu kommunizieren, dann werde ich als Schüler diese Eigenschaft tendenziell auch mir unbekannten Lernbegleitern zuschreiben, und das selbe gilt auch ganz allgemein für Fähigkeiten, mich durch schwierige Situationen zu führen. Solange ich als Schüler mit einem Lernbegleiter keine persönlichen Erfahrungen gemacht habe, stütze ich mich vermutlich auf die Erzählungen anderer Schüler oder eben der symbolischen Position, die dieser Lernbegleiter innerhalb der Schule innehat. Langfristig oder im Zweifelsfall zählt jedoch die eigene Erfahrung mit dem anderen Menschen meist mehr als seine formale Position oder symbolische Macht. Dies zeigt sich sehr gut an dem Lehrer, den es wohl auf fast jeder Regelschule gibt, der auf „Respekt“ vor seiner Lehrer-Position pocht, ohne sich bewusst zu sein, mit einigen unbedachten Einsätzen von Gewalt-Mitteln seine natürliche Autorität bereits längst untergraben zu haben. Oft versucht er dann (ganz Arendts Vorhersage folgend) durch den Einsatz weiterer Mitteln seine Autorität wiederherzustellen, was sie noch weiter untergräbt.
Strukturelle Gewalt
Es ist interessant, dass es an vielen freien Schulen völlig widerspruchsfrei erscheint, wenn von den Lernbegleitern erwartet wird, das Verhalten der Kinder völlig zu akzeptieren (und teilweise auch zu tolerieren), dann jedoch an die Erwachsenen ein völlig anderer Maßstab angelegt wird. Das Kind soll sich im Umfeld von Erwachsenen möglichst frei entwickeln, die in der Vorstellung vieler Eltern sehr wohl gegen ihren Willen zu gewissen Verhaltensweisen gezwungen werden können. In Österreich existiert der bekannte Ausspruch „nach oben buckeln, nach unten treten“, der gut beschreibt, was die Folge der Fremdbestimmung auch für den Alltag der Kinder sein kann. Es ist erheblich einfacher, andere voll akzeptieren zu können, wenn man selbst immer wieder die Erfahrung machen darf, wie wertvoll dies sein kann.
Gewaltfreie Strukturen würden in dem Fall etwa bedeuten, dass Menschen anderen Menschen folgen, weil sie erkannt haben, dass deren Führung für sie persönlich bedeutsam sein kann, nicht, weil der Mensch, der führen will, über Mittel verfügt, den anderen entsprechend zu manipulieren. Es geht dann nicht mehr darum, jemanden zu etwas zu motivieren (von außen Energie einsetzen, um Bewegung zu erzeugen), sondern ihn zu inspirieren (die Eigenenergie des anderen durch Führung wecken). Das bedeutet ebenso, dass alle Beteiligten – Erwachsene wie Schüler – lernen müssen, was Führung im Vergleich zur Manipulation bedeutet, und wie man andere durch für sie schwierige Situationen führen kann, ohne sie dazu zwingen zu müssen.
Dies ist beispielsweise auch in der Elternarbeit eine sehr wichtige Komponente. Wenn etwa unzufriedene Eltern versuchen, die Lehrer durch ihre Vorschläge zu überzeugen, dass ein alternatives Vorgehen in manchen Situationen sinnvoller wäre, ist das eine tolle Sache. Es kann allerdings auch vorkommen, dass Lehrer anderer Meinung sind als Eltern, und dann wäre es die Aufgabe der Eltern – wenn ihnen die Sache wichtig ist – so überzeugende Argumente zu finden, dass der Lehrer etwas dazulernen kann, und wenn sie diese überzeugenden Argumente nicht finden können, auch zu akzeptieren, dass es (noch) nicht gelungen ist. Was vor allem an freien Schulen gerne passiert, ist, dass Eltern eben dann versuchen, über den Vereinsvorstand (viele freie Schulen sind als Verein organisiert) oder gar noch übergeordnete Instanzen Druck auszuüben, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Dies kann oft besonders interessante Formen annehmen, wie dass Eltern versuchen, ihre Vorstellungen von gewaltfreier Kommunikation durch die Ausübung von formalem Druck (und damit einer Form von Gewalt) in der Schule einzuführen. Es ist dabei Aufgabe aller Beteiligten (vor allem der formal möglicherweise übergeordneten Instanzen), gut darauf zu achten, ob es wirklich gewollt oder sinnvoll ist, hier eine Gewalt-Anwendung zuzulassen oder sogar zu unterstützen.
Pädagogik und Organisation
Aus dem Buch „We make the road by walking“ von Paulo Freire und Myles Horton habe ich die Unterscheidung zwischen Pädagogik und Organisation übernommen, die ich für sehr wertvoll halte. Darin schreiben sie, dass es einen großen Unterschied mache, ob ich zum Beispiel möchte, dass 60 Kinder in möglichst kurzer Zeit und möglichst effektiv das machen, was ich will, oder ob ich möchte, dass sie lernen, einen eigenen Willen zu entwickeln und sich gemeinsam mit ihren Mitmenschen selbst zu organisieren. Wenn ich beispielsweise will, dass alle unsere Schüler möglichst schnell und effektiv ihre Abschlüsse schaffen, kann ich unsere Schule wohl so organisieren, dass sie um vieles effektiver darauf getrimmt werden – oder zumindest den Großteil ihrer Zeit so tun, als würden sie sich darauf vorbereiten. Das ist Organisationskunst. Das Ziel ist klar, und es ist extern – die Prüfung mit Bestnoten abschließen beispielsweise.
Aber Pädagogik arbeitet für mich (auch) mit einem Ziel, dass sich intern befindet: der Entwicklung des Willens des Schülers, und da gelten andere Gesetzmäßigkeiten. Da braucht es eine Gradwanderung zwischen Organisation und Chaos, zwischen Erfolg und Misserfolg, Spannung und Entspannung, und großen, für das Erreichen von sichtbaren Ergebnissen oft ach so ineffektiv scheinenden Freiräumen. Und diese Freiräume müssen dann auch noch von Menschen ausgefüllt werden. Im Idealfall noch von Menschen, die sich Gedanken über Macht, Gewalt und natürlicher Autorität gemacht haben und die jeweiligen Konsequenzen einschätzen können. Die sich in ihrer Schule gewaltfreie Strukturen geschaffen haben, um an ihrer natürlichen Autorität – und damit auch jener der Kinder, die sich viel von Erwachsenen, denen sie vertrauen, abschauen – zu arbeiten.
Das ist das Problem jeder „pädagogischen“ Organisation: ich kann durch Gewalteinfluss (= Wahl der richtigen Mittel) das externe Verhalten anderer Menschen zu einem guten Teil beeinflussen, aber nicht ihr Denken und ihren Willen. Das kann ich nicht, indem ich Druck ausübe, sondern nur, indem ich durch meine Persönlichkeit eine Art von Sog entwickle, der das Kind einlädt, mir immer wieder einmal zu folgen, wenn es das möchte. Dazu muss ich ihm die nötigen Freiräume gewähren, mir folgen zu können, und mir selbst die nötigen Freiräume, Führen zu lernen, ganz wie Maria Montessori in ihrem Hauptwerk auch schrieb: Die oberste Pflicht des Lehrers ist es, in seiner Schule das zu lernen, was die Schule braucht. Und Schule braucht dringend Lehrer und Lehrerinnen, die führen können. Das klingt in der Theorie einfacher, als es in der Praxis ist, aber die Schaffung eines solchen Umfeldes halte ich auch für notwendiger, als das den meisten Menschen, die ein solches Umfeld vielleicht nie selbst erlebt haben, bewusst sein dürfte.
Niklas