Geschlossene Macht-Systeme und ihr Monopol

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einigen Tagen hörte ich einigen Menschen zu, die über ein muslimisches Mädchen mit Kopftuch diskutierten und wie ihm zu helfen sei, mehr persönliche Freiheit zu erlangen. Es wurden einige interessante Argumente angeführt (etwa, dass ein muslimisches Jugendangebot bzw. das Tragen des Kopftuches für ein muslimisches Mädchen ein Mehr an Freiheit bedeuten kann, weil es sich damit außerhalb des Familiensystems bewegen kann), es kam allerdings auch zum Ausdruck, dass es oft eben leider nicht gelänge, besagten Menschen zu mehr persönlicher Freiheit zu verhelfen. Und während ich weiter zuhörte, kam mir ein interessanter Gedanke: die Familie ist – vor allem in eher traditionell angehauchteren Familien – ein weitgehend geschlossenes Macht-System.

Das Phänomen des leeren Blickes

Um zu erklären, was ich damit meine, muss ich an dieser Stelle ein wenig weiter ausholen. Ich unterhalte mich sehr gerne mit Zeugen Jevovas oder anderen Vertretern der Straßenbekehrer, weil ich – wenn ich nicht gerade in Eile bin – mich sehr für verschiedene Perspektiven zum Thema Glauben und Leben allgemein interessiere. Mit der Zeit ist mir jedoch aufgefallen, dass meine Gesprächspartner unter den Straßenbekehrern oftmals Menschen sind, die oft gar nicht so viel über die – angeblichen – Grundlagen ihres jeweiligen Glaubens (also Bibel, Koran, …) zu wissen scheinen, sollten sie auf jemanden wie mich treffen, der die jeweiligen Werke interessiert gelesen hat und vertiefte Fragen zu stellen weiß.

Wirklich interessant wird es für mich jedoch, wenn ich anfange, ihnen gewisse Fragen zu stellen, die geeignet wären, ihren (oft sonderbar oberflächlich wirkenden) Glauben zu erschüttern, die beispielsweise Widersprüche in den Texten behandeln. Dann habe ich bereits mehrmals ein Phänomen beobachtet, dass ich für mich das „Phänomen des leeren Blickes“ nenne: jemand scheint mich gar nicht mehr hören zu können, sobald ich gewisse Aspekte anspreche. Wechsle ich zurück auf ein „einfacheres“ Thema, läuft das Gespräch wie gehabt weiter, als würde meinem Gesprächspartner gar nicht auffallen, was gerade Seltsames geschehen ist.

Mit der Zeit habe ich dazu für mich die Hypothese entwickelt, dass ich – mehr oder weniger zufällig – mit meinen Fragen die Aspekte des Glaubens des Anderen berührt oder in Frage gestellt habe, die die Grundfesten ausmachen, jene, die er nicht hinterfragen kann, weil er dafür seinen Glauben gewissermaßen von außen betrachten müsste, und dazu ist er (noch) nicht bereit oder fähig.

Ursachen des Phänomens

Ich habe mich bereits wiederholt gefragt, warum diese an sich sehr intelligent und wissbegierig wirkenden Menschen offenbar an einigen „wunden Punkten“ nicht fähig oder willig scheinen, sich bzw. ihren Glauben „von außen“ zu betrachten, und meine derzeitige „Arbeitshypothese“ läuft daraus hinauf, dass sie sich durch ein Hinterfragen „von außen“ eben auch außerhalb der hinterfragten Gruppe oder Gruppen-Identität stellen, und dass die Konsequenzen dieser potentiellen Trennung untragbar erscheinen. Derjenige, der nicht wagt, bestimmte Aspekte seines Seins oder Tuns zu hinterfragen, befindet sich damit in Abhängigkeit der Gruppen, als deren Teil er diesen Aspekt aufrechterhält.

Weil dies sehr abstrakt formuliert ist, ein einfaches Beispiel: das 12-jährige Mädchen, das auf Wunsch ihrer Familie oder ihrer Glaubensrichtung Kopftuch trägt, ist faktisch von seiner Familie abhängig. Es darf in Österreich als zu junge Jugendliche noch nicht arbeiten, was eine gewisse physisch/finanzielle Abhängigkeit zur Familie bedingt, zudem ist es emotional, sozial und in seiner Identität wahrscheinlich noch nicht fähig, unabhängig von ihrer Familie zu leben, was bedeutet, dass ihre Familie (als der Gruppe, von der sie abhängig ist) die Grenzen ihrer Freiräume definiert. Selbst wenn ihre generelle Glaubensrichtung in Österreich kaum reelle Macht besitzt und sie nicht zum Tragen des Kopftuches zwingen kann, kann ihre Familie es tun, wenn sie glaubt, dass dies aus religiösen Gründen richtig ist, oder auch einfach aus dem Grund, weil es der Familie so recht oder bequem ist. Es wird ihr nichts nützen, wenn in Österreich das Recht der Frau auf Selbstbestimmung in der Verfassung steht. Solange sie sich in direkter Abhängigkeit zu anderen Mächten befindet, haben diese anderen Mächte Vorrang.

Trifft dieses Mädchen nun eine engagierte Sozialarbeiterin oder Freundin oder wen auch immer, die es ihr ermöglicht, auch andere Möglichkeiten für sich erträumen zu können, bricht dieser Akt der Unterstützung zwar einen Teil der Abhängigkeit auf, vor allem den emotionalen und sozialen, indem das „Monopol“ der Familie aufgebrochen wird – aber wie oft wird es vorkommen, dass das Mädchen in die Lage versetzt wird, sich auch finanziell/physisch aus ihrer Abhängigkeit lösen zu können? Zudem: wie stark darf es darauf vertrauen, dass diese Unterstützung von außerhalb der Familie auch verlässlich aufrechterhalten wird? Wird die Sozialarbeiterin auch in zwei Jahren noch an ihrer Seite sein? Wird die staatliche Unterstützung weiter ausbezahlt werden, wird sie (falls sie schon etwas älter ist und sich traut, gegen den Willen der Familie einen Job anzunehmen) den Job behalten, die Unabhängigkeit von der Familie dauerhaft aufrechterhalten können?

Das Beispiel des 12-jährigen muslimischen Mädchens ist plakativ gewählt. Im Grunde geht das Phänomen jedoch noch viel weiter. Abseits der medialen Aufmerksamkeit betrifft es im Grunde einen jeden Menschen, ist er hier geboren oder nicht, ist er 6, 12, 18 oder 53: worin besteht meine Abhängigkeit, steht sie mir im Weg, und: kann bzw. wie kann ich sie überwinden? Abhängigkeit an sich muss nicht per se problematisch sein, kann auch eine Art von Geborgenheit bedeuten. Das Problem entsteht dort, wo notwendige Entwicklungen und Ablösungsprozesse nicht durchgemacht werden können – und abstrakt formuliert ist damit immer dann zu rechnen, wenn geschlossene Systeme von Macht und Abhängigkeit in Form eines Monopols auftreten.

In dem Sinne halte ich es für sehr interessant, wenn es Migranten möglichst schwer gemacht werden soll, Arbeit zu finden, obwohl Arbeit zu finden und damit Denk-, Rede- wie Handlungsmöglichkeiten für die Arbeitenden zu erweitern womöglich der rascheste Weg wäre, problematische traditionelle/familiäre Machtstrukturen zu durchbrechen. Denn wer physisch/finanziell direkt abhängig ist von einem autoritären Familienoberhaupt, der mag sich trauen, selbstständig zu denken, aber dem Oberhaupt zu widersprechen oder gar ihm zuwiderhandeln, dazu muss derjenige schon großen Mut besitzen.

„Größere“ geschlossene Macht-Systeme

Ich habe in diesem Artikel bisher weitgehend familiäre Macht-Systeme beschrieben, aber im Grunde lassen sich die beschriebenen Phänomene auch gut auf größere Systeme umlegen, seien es Glaubens-Systeme oder auch Gesellschafts-Systeme. Vor gar nicht allzu langer Zeit war es auch bei uns lebensgefährlich, gewissen Glaubens-Dogmen öffentlich zu widersprechen. Offene Kritik am herrschenden Gesellschafts- wie Wirtschaftssystem ist zwar an sich hier in Österreich durchaus „erlaubt“ und sogar ganz gern gesehen, allerdings interessanterweise innerhalb gewisser Grenzen, ab denen wiederum das Phänomen des leeren Blicks anzutreffen ist. Es ist beispielsweise für den Großteil meiner Bekannten durchaus akzeptabel, Gehälter zwischen 1000 und 3000-4000 Euro zu verdienen, sich vorzustellen, 10000 Euro im Monat zu verdienen (unabhängig davon, ob die eigene Leistung es rechtfertigen würde), fällt den meisten der von mir dazu Befragten jedoch wiederum schwierig. Oder sich zu fragen, ob man „Leistung“ denn überhaupt mit Hilfe von Geld „messen“ kann und ob es damit überhaupt so etwas wie eine „gerechte“ Bezahlung geben kann.

Aus der Perspektive geschlossener sowie offener Macht-Systeme (offen = kein strenges Monopol auf Abhängigkeiten) heraus entstehen einige interessante Parallelen zwischen aktuellen Diskussionen und geschichtlicher Entwicklungslinien. Etwa die kontroverse Bibel-Übersetzung durch bzw. um Martin Luther hier in Europa und der Annahme, man könne den Qu’ran nur im Original, auf Arabisch verstehen, und auch nur dann, wenn man genügend gelehrt sei (wobei fraglich ist, wer aus welchen Gründen bestimmen darf und bestimmt, wer denn als „gelehrt“ bzw. „gläubig“ gelte).

Ist die oben beschriebene Perspektive der geschlossenen Macht-Systeme korrekt, so geht es am Kern-Problem vorbei, Menschen anderen Glaubens (oder anderer Tradition, anderer Ideologie im Allgemeinen) davon überzeugen zu wollen, dass die eigene Ansicht die (für alle Beteiligten) sinnvollere sei, weil der andere – solange er sich in existenzieller Abhängigkeit befindet – mir gar nicht folgen kann. Die Frage wird vielmehr, wie es möglich sein kann, einem jeden Menschen eine Existenzform zu ermöglichen, die es ihm ermöglicht, sich aus ehemals geschlossenen Macht-Systemen zu befreien, wie es also möglich ist, diese geschlossenen Macht-Systeme aufzubrechen, Alternativen zu schaffen, ohne notwendigerweise das Herkunfts-System und möglicherweise wertvoller Teilaspekte desselben gleich mitzuzerstören.

Erst wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind, mein Gesprächspartner also nicht nur frei denken, sondern auch frei sprechen und handeln kann, wird eine Diskussion mehr als ein Monolog sein können.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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