Den folgenden Text hat meine Kollegin Nina Berger verfasst, den ich hier mit ihrer freundlichen Genehmigung abdrucke. Danke Nina!
Wo ist die Grenze zwischen Vorschlag, Motivierung und Druck/Zwang?
Das Mutter-ICH
Ich habe 2 Kinder, die unsere Schule besuchen. Sie sind 7 Jahre alt. Beide haben bis vor kurzem zwar ab und an Interesse daran gezeigt, lesen und schreiben zu lernen, von einer tief aus dem eigenen Inneren kommenden Motivation oder gar von einem „sich vertiefen“ konnte man da aber nicht sprechen.
Ich ertappe mich im privaten Alltag bei Aufforderungen an meine Kinder, gut versteckt in „guten Absichten“, in etwa so: „Es ist soooooo toll, Bücher lesen zu können, all die wunderbaren Geschichten…“ Verstehendes Nicken, dann schnell wieder das Eintauchen in etwas GANZ ANDERES. Da schleicht sie sich von unten an, die kleine Angst: Du konntest selbst ja schon vor der ersten Klasse fließend lesen, werden meine Kinder denn nie von selbst lesen wollen? Schreiben wollen? Können sie überhaupt irgendetwas „richtiges“ lernen, wenn sie doch die Grundlage nicht haben. Die Angst wird größer und größer, studieren, wie soll das gehen, bis dahin werden sie niemals genug GELERNT haben, und dass, obwohl ihre Eltern (zumindest ich) Literatur lieben, und bereits als ganz junges Kind gelesen und gelesen und gelesen hat. Sprache, unser höchstes Gut…
Das Lernbegleiter-ICH
An einem Vertretungstag biete ich nach dem Primaria-Morgenkreis ein Buchstaben-Lese-Quiz an. 7 Kinder haben Lust, 2 von Ihnen sind noch so unvertraut mit den einzelnen Buchstaben, dass sie nach einiger Zeit das Interesse verlieren. Eine ältere Schülerin greift ihr Bedürfnis auf und nimmt die Beiden mit, um mit Ihnen zu üben. Wir übrigen starten unser Quiz, ich beginne langsam in Großbuchstabe für Großbuchstabe Worte anzuschreiben. Wer eine Idee hat, welches Wort gesucht wird, ruft laut „Ding Dong!“
Das Spiel macht Spaß, wir lachen viel, untersuchen T und D… Dann ändern wir die Regel, jetzt denkt sich ein Kind ein Wort aus und beginnt, es an die Tafel zu schreiben. Wir stolpern über „CH“ und „SCH“, wir haben noch mehr Spaß und auch die etwas schüchternen Kinder trauen sich, Wörter an die Tafel zu schreiben. Wir entdecken, dass sich PF und F oft ganz ähnlich anhören, wenn man schnell spricht. Und wir entdecken gemeinsam, dass ein Pferd ein Pferd ist und kein Feat…
Was habe ich gelernt?
Ich habe gelernt, dass ich (meinen) Kindern vertrauen kann.
Und ich lerne mal wieder, was ich als Zwillingsmutter eigentlich wissen sollte, dass Kinder im gleichen Altern unterschiedliche Interessen, ein unterschiedliches Tempo und unterschiedliche Herangehensweisen haben, dass es keine absolute „richtige“ Zeit dafür gibt, z.B. lesen zu lernen, wohl aber eine, in der Kinder am einfachsten und mit Freude lernen, es ist die Zeit, in der sie selbst ein Interesse oder später auch ein Bewußtwerden der Notwendigkeit daran entwickeln. Das ist die „richtige“ Zeit. So war es beim Laufen lernen, so war es beim alleine aufs Klo gehen, so wird es immer in ALLEM sein. Vielleicht lerne ich ja sogar noch Backen.
Ich habe gelernt, dass ich nicht vergleichen darf. Oft, wenn ich Kinder bei uns in der Schule in ein Buch vertieft sah, die nur knapp ein Jahr älter waren als meine, hab ich gedacht: „Ach, es wäre so schön, wenn sie das auch bald könnten.“
Es ist immer diese Angst, es ist der alte Maßstab, den ich oft doch anlege, obwohl ich es nicht will, obwohl ich täglich sehen kann, wie meine Kinder sich entwickeln, wie sie Verbindungen eingehen, wie sie sich organisieren, wie sie kritisch hinterfragen, wie sie untereinander Konflikte angehen, wie sie Beziehungen zu Jüngeren und Älteren aufbauen. Wie sie immer selbstbewußter werden. Und wie sie, wenn sie Interesse entwickeln, das AUS IHNEN kommt, unglaublich viel Wissen in sich aufsaugen, der vielzitierte Schwamm ist ein supersaugfähiger Schwamm.
Und mir fiel etwas ein: Ich hatte lange kein Klavier, aber ich wollte nichts als Klavier spielen lernen, ich hab mir die Tastatur auf einen Tisch aufgemalt… Lesen habe ich mir komplett alleine beigebracht, ich hatte keine sorgsam vorbereitete Umgebung, ich hatte nur die Sesamstrasse, aber ich hab dafür gebrannt, bis heute liebe ich Sprachen, Buchstaben und Schriften.
Ich versuche, meine Kinder nicht mehr anhand meiner Ängste und Bedürfnisse zu messen, ich versuche, loszulassen, ich versuche, mich selbst zu überprüfen, bin ich nicht selbst ständig einerseits „Erfüllerin“ für die Bedürfnisse anderer und andererseits wieder blind für die innere Verfassung meiner Mitmenschen? Habe ich eigentlich zu hundert Prozent gelernt, aus meiner inneren Überzeigung zu entscheiden, was ich gern können möchte? Habe ich gelernt, dass es auch ok ist, etwas nicht zu können?
Was wünsche ich mir für unsere Schule?
Eine noch so perfekt vorbereitete Umgebung und ein noch so engagierter Lernbegleiter sind keine Garantie für ein FREIWILLIGES INTERESSE. Es gibt keine Grauzone zwischen Freiwilligkeit und Nicht-Freiwilligkeit.
Wir wollen gemeinsam mit Schülern und Eltern Angebote ausarbeiten, möglichst viele Möglichkeiten (vorbereitete Umgebung) eröffnen, denn es ist unsere Grundannahme, dass ein Kind durch eine gut ausgestaltete, vorbereitete Umgebung in SEINEM Lernen am mühelosesten und sich geborgen fühlend beginnt, sich zu vertiefen, sich zu engagieren und zu lernen.
Hier kommt aber nicht die Umgebung zum Kind, sondern das Kind sucht sich die für es im Moment passende Umgebung, so wie es sich auch seine Beziehungen und Vertrauenspersonen sucht.
Ich wünsche mir, dass Eltern und Lernbegleiter gemeinsam einen Weg beschreiten, der auf der wirklichen Erkenntnis beruht, dass unsere Kinder in jedem Moment etwas lernen, auch wenn wir nicht sofort verstehen, WAS sie denn da lernen.
Ich wünsche mir, dass die Schule transparent ist, dass wir gut vernetzt sind, dass Eltern gut informiert sind und sich einbringen können und das auch tun, dass Eltern zusehen dürfen, dass Ängste von Eltern ausgesprochen werden dürfen und nicht „im Stillen zusammengesammelt“ werden. Ich wünsche mir eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens und der konstruktiven Kritik und Mitarbeit.
P.S.: Meine Tochter liest seit ein paar Tagen, erst mit einer ihr sehr nahe stehenden älteren Schülerin zusammen in der Schule, dann zuhause allein. Ich glaube, sie ist auf dem Weg in die wundervolle Welt der Bücher, aber ich bemühe mich, sie nicht zu „stupsen“.
Mein Sohn darf lesen lernen, wann auch immer er es will. Ich versuche, ihn so zu begleiten, dass er erkennen kann, was er will und was ihn erfüllt. Ich schenke ihm mein absolutes Vertrauen.
Nina Berger