Für die Andersgeborenen unter uns

Einige Gedanken über den Umgang mit dem eigenen Anders-Sein, den Prozess der Selbstwerdung und der Notwendigkeit geeigneter Vorbilder auf diesem Weg.
(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Es soll Menschen geben, die in eine Familie hineingeboren werden, die ihren Bedürfnissen gut entspricht und innerhalb derer sie sich optimal entwickeln können. Eine gar nicht geringe Anzahl an Menschen jedoch sieht sich früher oder später mit dem Gefühl konfrontiert, irgendwie versehentlich „falsch abgeliefert“ worden zu sein – zumindest habe ich diese Geschichte nun mit den Jahren in unzähligen Variationen gehört – und auch im engeren Familienumfeld mehrfach (mit-)erlebt. Dabei ist mir aufgefallen, dass diese „Andersgeborenen“ oft sehr unterschiedlich auf das aufkeimende Gefühl reagieren, nicht zu „passen“. In gewisser Weise lässt sich jedoch eine Art von Stufenreihenfolge herstellen, die wohl von den meisten Betroffenen – still oder auch in manchen Fällen sehr laut – durchlaufen wird.

Phase 1: Anpassung

In dieser Phase wird ein Idealbild (z.B. innerhalb einer Familie) übernommen und versucht, sich den Vorstellungen anzupassen. Je nachdem, wie gut diese Anpassung gelingt, kann sie Jahre, Jahrzehnte bis zu einem ganzen Leben aufrechterhalten werden. In dieser Phase leidet der Andersgeborene an seinem Anderssein, bemüht sich, schämt sich bei Versagen, versteckt oft nicht nur sein Anderssein sondern auch, dass es ihm Mühe kostet, den Schein des Normalen aufrechtzuerhalten. Das reale Ich, sich nackt zu zeigen, wird als sozialer Suizid wahrgenommen („niemand kann dieses wirkliche Ich lieben“), aufs Höchste gefürchtet und damit gemieden.

Beispiele dafür gibt es wohl genug: unglückliche Ehen, die aufrechterhalten werden, Söhne, die Familienunternehmen übernehmen, weil es von ihnen als Erben erwartet wird, Kinder, die Ärzte werden, weil die Eltern dies erwarten, oder auch nur eine Schule fertigmachen, um den Eltern zu gefallen, obwohl sie doch eigentlich eine Mechaniker-Lehre machen wollten.

Phase 2: Aufbruch

Irgendwann ist es dem Andersgeborenen nicht mehr möglich, den Schein der Normalität zu wahren, oft unter dem Einfluss zusätzlicher Stressfaktoren. Je nach den Reaktionen der Umwelt kann hier eine Re-Integration in die Ursprungsgruppe/-Familie stattfinden – üblicherweise sucht der Andersgeborene aus Angst, abgewiesen zu werden, jedoch selbst die Distanz, soweit es ihm möglich ist. Ein Gegenentwurf zu der „Normalität“ der Ursprungsgruppe entsteht, der jedoch oft noch ebenso starr und perfektionistisch aussehen wird. Die existentielle Not des gefühlten Ausgestoßenseins macht in dieser Phase sehr empfänglich für scheinbar stabilisierende externe Norm-Systeme: Sub-Kulturen, Sekten, extremistische Gruppierungen. Eine neue Heimat, soziale Sicherheit wird in einer neuen Gruppe gesucht, wobei die tatsächlichen Gruppennormen in der Situation der existenziellen Bedrohung in den Hintergrund treten. In dieser Phase fällt auch der klassische Hang zur Kommunenbildung – „am besten verträgt es sich doch mit Gleichgesinnten“. Die reine Beschränkung auf Gleichgesinnte führt jedoch früher oder später zu einer gewissen Ideologisierung mit einhergehenden starren Gruppennormen.

Ein mir sehr lieber Mensch hat etwa im Streit ihre Ursprungsfamilie hinter sich gelassen, um sich einer anderen Familie anzuschließen, die mehr ihrem Wesen und ihren Bedürfnissen entspricht. Mit allen Schwierigkeiten, die Gruppennormen mit sich bringen, fühlt sie sich dort trotzdem wohler als in ihrer Ursprungsfamilie, weil die Normen eher ihren Bedürfnissen entsprechen.

Phase 3: Isolation, Selbstzufriedenheit und Zynismus

Der Andersgeborene findet sich in einer Gruppe wieder, deren Normen sich von den Normen der Ursprungsgruppe unterscheiden, merkt aber mit der Zeit, dass er auch hier einem Perfektionszwang ausgesetzt ist und fängt an, sich von der Gruppe zu distanzieren. Nachdem er diese 2. Phase möglicherweise noch einige Male wiederholt hat („Vielleicht war es nicht die richtige Gruppe, Religion, …“) kommt er zu der Erkenntnis, dass es doch hauptsächlich darauf ankäme, mit sich selbst zufrieden zu sein. Er distanziert sich von allen Gruppen, die ihm Verhaltensnormen vorschreiben wollen, entwickelt dabei häufig eine gewisse Selbstzufriedenheit, ein Gefühl der Überlegenheit aufgrund seiner subjektiven Unabhängigkeit und damit einhergehend auch einen gewissen Zynismus – und versucht sich das damit einhergehende Gefühl der Einsamkeit rationell auszureden oder sich zu zerstreuen, um es nicht fühlen zu müssen.

Ich schätze, den Großteil der letzten Jahre habe ich in dieser Phase verbracht. Je nach Stimmung in einer unregelmäßigen Abfolge von gefühlter Überlegenheit bis Überheblichkeit, immer wieder unterbrochen vom Gefühl des Abgeschnitten-Seins und totaler Isolation. Wem in seinem Zynismus nichts gefährlich werden kann,  der wird auch von Liebe nur am Rande berührt. Mir ist bewusst, dass es nicht sonderlich gute Werbung für meine Person sein mag, dies öffentlich einzuräumen, und das es möglicherweise taktisch klüger wäre, dies nicht zu tun. Nur: ich bin damit gefühlt kein Einzelfall sondern eher eine (heimliche) Norm, und solange Menschen nicht ehrlich darüber sprechen können, wie sie sich selbst wahrnehmen, werden wir nicht wirklich an ein wahres Miteinander gelangen.

Phase 4: Selbstakzeptanz und Fremdakzeptanz

Der Andersgeborene hört schrittweise auf, sein Anderssein als etwas zu betrachten, das er entweder verstecken oder verteidigen muss, oder das ihn in bestimmte vordefinierte Gruppen einordnet. Er beginnt zu unterscheiden zwischen seiner allgemeingültigen Wertigkeit als Mensch mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten und der situationsbedingten Nützlichkeit seines Seins in bestimmten Situationen. Er beginnt zunehmend damit, herauszufinden, wie sich seine ganz speziellen Vorzüge auch für andere gewinnbringend einsetzen lassen. Gleichzeitig wird er sich fragen, welche Art von Unterstützung er braucht, um seine Schwächen als Kehrseite seiner Schwächen ausgleichen zu können. Je mehr er sich mit anderen Menschen umgibt, die sowohl sich selbst als auch andere Menschen realistisch einzuschätzen gelernt haben, desto mehr kann er sich auf ein Unterstützungsnetzwerk verlassen, das es ihm erlaubt, selbst die Grundfesten gesellschaftlicher Normen (z.B. „man muss Geld verdienen, um ‚objektiv‘ wertvoll zu sein“) zu überwinden.

Vor einiger Zeit habe ich eine „gute Hexe“ kennen und lieben gelernt, die wohl die größte mir bekannte Zauberkünstlerin auf dem Gebiet der bedingungslosen Liebe ist und mir mit viel Geduld und Liebe auch zu so etwas wie einer von ihr unabhängigen Selbstakzeptanz verholfen hat. Seitdem gelingt es mir immer öfter, zwischen situativen Stärken und Schwächen und meinem Wert als Mensch zu unterscheiden, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich dadurch auch mit größerer innerer Ruhe zu meinem Sein mit all seinen Facetten stehen kann. Bisher konnte ich dies nur anderen zugestehen, mittlerweile klappt das auch im Großen und Ganzen ganz gut mir selbst gegenüber.

Phase 5: ?

Ich weiß nicht, ob es noch weitere Phasen gibt, doch mit meinen 27 Jahren halte ich es für vermessen, anzunehmen, bereits den ganzen Prozess durchschaut zu haben. Ebenso stellt jede Reihung von Bewältigungsstrategien natürlich eine implizite Wertung dar, und es mag sein, dass ich in 20 Jahren diese Reihung anders vornehmen würde. In dem Sinne stellt die obige Zusammenstellung nichts Anderes dar als einen Prototyp, der anderen Andersgeborenen, die sich auf dem Weg befinden, helfen soll, ihren Platz in der Welt zu finden – vor allem aber dabei zu realisieren, dass sie nicht alleine auf ihrem oft verzweifelten Weg sind. Da im Alltag kaum jemand offen über diese Prozesse spricht, passiert es rasch, sich als tragischen Einzelfall, vielleicht gar als „Verrückten“ wahrzunehmen, der seine „Schrullen“ besser wieder unterdrücken sollte. Aber im Grunde sind wir alle auf dem Weg, und die „Verrückten“ vielleicht auch nur den einen kleinen Schritt weiter, der uns noch zu verstehen verwehrt ist.

Ich hatte in der Vergangenheit stets das Glück, in wichtigen Momenten Wegbegleiter um mich zu haben, die es mir in Gesprächen, als Buch und in den meisten Fällen einfach durch die Art, ihr Leben zu leben, erlaubt haben, mein Anderssein mit den Jahren nicht nur als Besonderheit, sondern auch als enormen Wert zu erfahren. So habe ich lange nicht verstanden, warum viele meiner Mitmenschen manche für mich so offensichtliche Situationen so völlig anders einschätzten als ich, oder warum ich in seltenen Momenten in einen Zustand völliger Einsamkeit und Isolation von der Welt fallen kann. Heute bin ich mir relativ sicher, dass es neben den gesellschaftlich anerkannten fünf Sinnen noch mindestens einen weiteren gibt, nämlich den emotionalen Spürsinn – der es mir einerseits ermöglicht, feinste Stimmungsnuancen im Raum wahrzunehmen, andererseits aber auch „überladen“ kann, was zu genannten Isolationserfahrungen führt. Dadurch, dass dieser Sinn kaum anerkannt ist und darüber nicht gesprochen wird, ist er auch bei vielen Menschen wohl nicht so trainiert wie etwa der Sehsinn und wird daher nicht als solcher erkannt oder mit intuitiver Körpersprachewahrnehmung erklärt (über Jahre dachte ich, ich sei einfach gut im Lesen von Körpersprache oder Mimik, bis ich feststellte, dass ich Stimmungen auch ohne Menschen zu sehen fühlen kann, in extremen Fällen sogar über mehrere Hundert Kilometer Distanz). Grundsätzlich kann ich mir jedoch gut vorstellen, dass die Anlage dazu bei den meisten oder sogar allen Menschen vorhanden ist.

Eine dieser Wegbegleiterinnen, die ich ausnahmsweise an dieser Stelle auch persönlich erwähnen möchte, ist meine Stiefmutter, der ich es wohl zu verdanken habe, meiner Intuition mittlerweile mehr zu vertrauen als gesellschaftlichen Normen darüber, was existieren kann und was nicht. Über viele Jahre war sie (nach einer sehr hitzigen Ablehnungsphase meiner Familie ihr gegenüber) stets in ihrer sehr tiefsinnigen Art zur Stelle, wenn meine bisheriger rationaler Verstand aus Überforderung Erfahrungen als Einbildung brandmarken wollte. Es gab noch viele andere, die mich über die Jahre unterstützt haben, aber sie war in gewisser Weise das Epizentrum der Selbstakzeptanz für mich.

Alleine aus meiner Familiengeschichte heraus sehe ich jedoch auch, dass Menschen wie sie es sehr schwer haben, auch gesamtgesellschaftlich anerkannt zu werden. Sie werden kaum je Unmengen an Geld verdienen, obwohl ihre Dienste wertvoller anzusehen sind als pures Gold, weil es ihnen schwerfällt, formalisierte und damit oft ein Stück weit „abgetötete“ Ausbildungen durchzustehen. Es sind Menschen, die auf sich allein gestellt in einer formalen und gewinnorientierten Welt rasch als Versager scheinen und doch – mit der richtigen Unterstützung – zu den großen Weisen und Führern einer nach Menschen wie ihnen darbenden Welt werden würden. Wie diese Unterstützungssysteme aussehen könnten oder werden, weiß ich (noch) nicht, aber ich glaube, es wäre gut, sie zu haben, weil uns als Gesellschaft sonst viel Wertvolles unnötig verloren geht.

Ich habe mich lang als Andersgeborener gefühlt, als Nirgendwohin-Passer, aber mit den Jahren habe ich festgestellt, dass es oft nur meine eigenen Ängste waren, die mich von der Liebe und Akzeptanz anderer ferngehalten haben, die mir geraten haben, meine Stimme nicht zu erheben, wo doch offene Ohren auf ein gut gewähltes Wort hofften.

Vielleicht kommt nach der Phase der Selbstakzeptanz auch jene der Dankbarkeit. Nämlich jener, genau dort hineingeboren zu werden, wo das eigene Leben seinen Anfang und seinen Weg nahm, der mich zu dem Tisch führte, an dem ich heute sitze und diese Zeilen schreibe. Und wenn ich dann meine Lebensgeschichte mit jener anderer Menschen vergleiche, jener, die „richtig abgeliefert“ wurden, kann ich es nur als einen Glücksfall erkennen, ein Andersgeborener zu sein. Denn so schwierig es war, ist und wohl weiter sein wird, so immens reich macht es mich auch.

Niklas

P.S.: An dieser Stelle noch ein Lob einem ganz besonderen Andersgeborenen, der im Jahr 2016 leider von dieser Welt gegangen ist und dem ich sehr viel verdanke. Er ist wohl einer der wenigen Menschen, die ich kenne, dem ich es glaube, wenn mir erzählt wird, er sei in Frieden gegangen. Danke, Romeo – ich werde deine Fackel weitertragen.

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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