Als ich die Tage von meinem Grossvater zum Essen eingeladen wurde, redeten wir auch sehr viel über seinen Werdegang als Geschäftsmann, der beinahe ausschliesslich darauf basierte, funktionierende Netzwerke aufzubauen. Da mir immer mehr klar wird, dass beinahe jeglicher beruflicher Erfolg darauf aufbaut, diese Netzwerke zu nutzen, fragte ich mich, wie dieses Netzwerken, das Aufbauen und Nutzen von Freunden, eigentlich mit dem negativ besetzten Begriff der Freunderlwirtschaft zusammenhängt.
Auch aus anderen aktuellen Anlassfällen höre ich immer wieder, wie Arbeitsstellen über Empfehlungen von Bekannten und Freunden vermittelt werden, und von einiger Entfernung betrachtet macht dies auch sehr viel Sinn: diejenigen Menschen, die Zeit mit uns verbringen, können uns in vielen Bereichen sehr viel besser einschätzen als Notengrade oder Abschlüsse. Sie wissen, dass sie mit uns in zwischenmenschlicher Hinsicht zurechtkommen, was zukünftige Reibereien im Vorhinein unwahrscheinlicher macht.
Subjektiv vs. objektiv
Die Einschätzung von Freunden ist eine subjektive Einschätzung, was ein erheblicher Vorteil bei der Einschätzung über Kompatibilitäten zwischen Mitarbeitern sein kann. Der Freund, der mich empfiehlt, wird in vielen Fällen weitgehend reibungslos mit mir zurechtkommen. Für eine Zusammenarbeit mit diesem Freund (und bis zu einem gewissen Grad auch seine Freunde) ist seine subjektive Einschätzung sehr viel aussagekräftiger als eine gute Bescheinigung über „Teamfähigkeit“.
Laut Seth Godin entwickelt sich mittlerweile wieder eine Art von loser Stammeskultur, in der sich Menschen nach bestimmten Interessen und Sympathien zusammenfinden: Computerbegeisterte, Guerilla-Stricker oder Fussballer – Netzwerke. Zunehmend losgelöst von alten Familienbanden und Nationalitäten verbinden sich heute Menschen, die sich aufgrund ihrer Ähnlichkeiten zueinander hingezogen fühlen, erwerben durch ihr Handeln innerhalb dieser Stämme einen Ruf, der wieder zu neuen Verbindungen und Möglichkeiten führt. Anstatt zwingend die eigenen Kinder zu unterstützen, wird derjenige oder diejenige unterstützt, dem oder der wir uns am Nächsten fühlen.
Freunderlwirtschaft = Netzwerken?
Unsere Freunde, Menschen, denen wir uns verbunden fühlen oder/und deren Anliegen wir für unterstützenswert halten, bekommen unseren Zuspruch, unsere Empfehlung, unsere Hilfe. Ich halte dies für eine natürliche Sache. Ich kann nicht alle gleich behandeln, will dies auch gar nicht, denn je nach Situation werde ich manche Menschen aufgrund meiner subjektiven Erfahrungen mit ihnen in vergleichbaren Situationen für mehr oder weniger kompetent halten. Wenn ich von einer Herausforderung höre, deren Bewältigung mir sinnvoll und wichtig erscheint, werde ich auch den- oder diejenige dafür vorschlagen, der oder die aus meiner subjektiver Sicht kompetent erscheint.
Problematisch wird dieser natürliche Prozess dann, wenn ich mich nicht mit dem Ziel eines Projektes, einer Arbeit identifizieren kann, wie es im Arbeitsleben oft vorkommen mag. Wenn ich den extrinsischen Nutzen einer Arbeit (etwa Geld) vor den intrinsischen (etwa die Erfüllung vor Bedürfnissen) stelle, wenn ich einem Freund helfen will, Geld zu verdienen, anstatt durch sein Vorschlagen die Arbeit selbst unterstützen zu wollen, nähern wir uns der negativen, der destruktiven Seite der Freunderlwirtschaft: derjenigen, in denen Menschen in Situationen geschoben werden, für die sie ungeeignet sind, oder – noch destruktiver – die erst zur Erfüllung ihres Geldbedarfs geschaffen werden.
Solange eine Vielzahl an Unternehmen die Gewinnmaximierung vor dem intrinsischen Sinn ihrer Arbeit stellen, wird es diese destruktive Form der Freunderlwirtschaft, diese Korruption, geben, weil sie eine logische Folge von ihr sind. Es wird nicht viel bringen, diese Netzwerke zu verbieten oder zu bestrafen, sie arbeiten hinter verschlossenen Türen und sind schwer kontrollierbar. Zudem können sie, richtig eingesetzt, ein machtvolles Instrument zur Besetzung der richtigen und hochmotivierten Mitarbeiter sein. Freunderlwirtschaft ist nicht an sich eine schlechte Sache.
Trennung
In meiner Schulzeit wurde mir erklärt, wenn ich nur die nötigen Kompetenzen und Abschlüsse erwerben würde, würde ich später schon eine Arbeit finden, und dies entspricht vermutlich auch der Wahrheit. Ich würde eine Arbeitsstelle finden und ich würde vermutlich gar nicht so schlecht verdienen. Aber wenn es mein Ziel ist, die extrinsischen Belohnungen wie ein hohes Gehalt oder einen hohen Status in der Gesellschaft als angenehme, aber vernachlässigbare Nebensachen hinter mir zu lassen, um mich auf den intrinsischen Nutzen meines Tuns zu konzentrieren, werde ich nicht umhinkommen, mich in diesen Netzwerken, diesen Stämmen, wie Godin es beschreibt, zu bewegen.
Es ist das alte Lied von der Individualisierung, der Trennung von mir und meiner Aussenwelt, dass mir hier vorgespielt wird. Erwerbe jene Kompetenzen, jene Abschlüsse, jene Geldsumme, um unabhängig von den anderen zu werden. Du brauchst sie nicht in deinem Leben, was ihnen passiert, ist unwichtig für dein Leben, dein Glück. Nur: es ist ein altes Lied, vielleicht mit romantischem Charakter, dass uns an eine gute alte Zeit zurückdenken lassen mag, als wir noch daran glaubten, nicht ohne die Ironie, die aufgrund der darauf folgenden Erfahrungen dieses Lied in einem anderen Licht erscheinen lässt. Der reiche Geschäftsmann am Ende seines Lebens und seine Tränen in dem Moment, in dem er den wahren Wert seines Reichtums erkennt. Die verstörte Frau mit Gebärmutterhalskrebs, die nun ihre Entscheidung, ihren Kinderwunsch ihrer Karriere zu opfern, um später genug Geld für sie zu haben, bitter bereut.
Kompetenzen und Abschlüsse sind Ausdruck einer Objektivierung, sind Ausdruck einer Reduktion des Menschlichen in unserer Interaktion. Nicht Hermann Häusler verkauft mir sein Brot, sondern ein Bäcker. Nicht Niklas erklärt mir etwas, was ich nicht verstehe, sondern der Herr Lehrer. Zur Besetzung einer Stelle suchen wir keinen Menschen, sondern eine Rolle. Kapitalismus muss in seiner Logik Freunderlwirtschaft bekämpfen, weil Freunderlwirtschaft auf zwischenmenschlichen Beziehungen basiert, die in der Abstraktion des Wertes nicht vorkommen. Ironischerweise verstärkt der gleiche Kapitalismus mit seiner Verschiebung von der intrinsischen zur extrinsischen Motivation erst den negativen Effekt der Freunderlwirtschaft.
Ich denke, wir sollten Kindern und Jugendlichen in der Schule die ganze Wahrheit erzählen. Dass all ihre Kompetenzen und Abschlüsse schön sind, aber sie es ohne Netzwerke heutzutage schwieriger haben werden. Dass sie, wenn sie diese Netzwerke nutzen, um einer Sache zu dienen, innerhalb dieser Netzwerke einen guten Ruf aufbauen können, der ihnen neue Wege eröffnen kann, während sie, wenn sie sie hauptsächlich nutzen, um sich oder ihre Freunde zu bereichern, mit Vorwürfen der Freunderlwirtschaft, der Korruption und einer gehörigen Portion Neid und Missgunst rechnen sollten. Dass es eine Entscheidung ist, die sie tagtäglich neu treffen und mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen leben werden müssen.
Und, so nebenbei, dies gilt auch für uns.
Niklas