So, heute endet mein Experiment, eine Woche als Strassenmusikant zu (über)leben, und ich wollte euch meine Erfahrungen zugänglich machen. Die Bedingungen waren einfach: eine Woche lang würde ich alle meine Ausgaben (abgesehen von der Miete) von den Einnahmen meiner Strassenmusik zu bestreiten haben. War kein Geld da, war eben kein Geld da. Punkt. Die letzten Wochen zuvor hatte ich vergleichsweise absurd hohe Ausgaben gehabt, ohne sie überhaupt bewusst so direkt wahrzunehmen. Diese Woche war eine sehr lehrreiche Woche für mich, weil ich viele Dinge erstmals wirklich bewusst wahrgenommen habe.
Der Wert des Wartens
Ich habe gemerkt, wie viele unnötige Ausgaben ich tagtäglich tätige, allen voran für Süssigkeiten wie Schokolade oder Kekse. Es handelt sich fast schon um eine Sucht. Wenn ich in dieser Woche mit meinen paar zusammengesammelten Reais den Supermarkt betrat, spürte ich ein fast körperliches Verlangen, mir doch eine Packung Kekse oder eine Tafel Schokolade mitzunehmen. Eine Tafel Schokolade, die ich dann, zuhause angekommen, auf einen Sitz verputzen würde, um dann nachher Bauchweh zu bekommen. Unterschwellig war mir die Sinnlosigkeit dieser Einkäufe schon lange bewusst, aber trotzdem tätigte ich sie fast täglich. Es dürfte wohl ähnlich sein wie wenn andere ihre Zigaretten rauchen. Man weiss, dass es nicht sehr gesundheitsförderlich ist, aber man tuts halt trotzdem.
Ich habe den Wert des Wartens wieder für mich entdeckt. Bei einem durchschnittlichen täglichen Budget von etwa 10 Reais gibt es keinen Platz für spontane Bedürfnisbefriedigung, wenn keine Reserven für zumindest den nächsten Tag angespart wurden. Möglicherweise verdiene ich morgen nichts, weil es regnet, ich krank werde oder einfach niemand gewillt ist, mir Geld in meine Hut zu werfen, und auch morgen muss ich essen. Am Freitag kochten wir um 9 Reais Hamburger und gestern waren wir um 8,50 im Kino, während ich mir die 10 Reais Eintritt für eine Bar am Samstag dafür einsparte. Mit wenig Geld auszukommen, lehrt, zwischen zufällig aufkommenden Bedürfnissen und wirklichem Wollen zu unterscheiden.
Offene Musik
Das Folgende ist nur eine Theorie meinerseits, aber ich glaube, ich erkenne mittlerweile gewisse Regelmässigkeiten im in-den-Hut-werf-Verhalten der Menschen hier. Lieder, die bekannt sind (Beatles, Eric Clapton, …) werfen tendenziell mehr ab. Manchmal sind es jedoch auch eher unbekannte Lieder oder gar meine eigenen, die den grössten Ertrag liefern. Ich glaube, die verbindende Komponente ist die Verbindung, die die Musik erzeugt. Meine eigenen Lieder (in Englisch geschrieben) werden vor allem von jenen gelobt, die sich hinsetzen und genau zuhören, weil die rudimentären Englisch-Kenntnisse der Menschen hier ein tiefes Hineinfühlen in meine Texte im Vorbeigehen erschweren.
Musik zu machen würde damit bedeuten, das Verbindende in den Menschen aufzuzeigen, kein Monolog, nicht einmal ein Dialog, sondern ein Pluralog (gibt es dieses Wort?) zwischen Menschen. Es geht nicht vorrangig um Perfektion, sondern darum, durch sein Spiel, seinen Gesang, eine Verbindung zwischen mir und anderen Menschen zu öffnen. Ihnen zuzulächeln, ihnen dabei ein Lächeln, einen synchronisierten Schrittrhÿthmus oder gar ein Tänzchen zu entlocken. Die Musik selbst ist dabei nur die Technik, das Mittel zum eigentlichen Zweck. Es geht nicht darum, bekannte Musik perfekt nachzuspielen, sondern darum, einen gemeinsamen Nenner für eine Verbindung, eine Kommunikation zu schaffen.
Diese Verbindung, diese Notwendigkeit der Öffnung, ist es vermutlich auch, die es selbst nach dem fünfzigsten Mal noch schwierig macht, das erste Lied, den ersten Ton anzustimmen. Es ist ein Verwundbar-machen, ein Nackt-Sein, ein dem Urteil der anderen hingeben, vor dem wir Angst haben, nicht davor, den Ton nicht perfekt zu treffen. Öffentlich zu musizieren, und noch viel mehr, zu singen, ist, Vertrauen zu haben. Vertrauen, sein Innerstes der Welt offenbaren zu können, ohne dass diese Welt diese Öffnung nützt, uns Schaden zuzufügen. Strassenmusik ist somit vor allem auch eine Vertrauensübung.
Holy fuck, we can!
Die überraschendste Erfahrung ist jedoch jene, dass es funktioniert. Dass es möglich ist, sich an eine Strasse zu stellen, jeden Tag (ausser am Sonntag), und genug Geld zusammenkommt, um davon überleben zu können, um die vielen schönen Begegnungen, die dabei zustanden kommen und völlig unbezahlbar sind, gar nicht einzurechnen. Dass es möglich ist, etwas zu tun, was mich (und offensichtlich Hunderte andere Menschen) mit Freude erfüllt, und dabei sogar noch Geld verdienen kann, ist etwas, was in einem diametralen Gegensatz zu dem steht, was ich in der Schule als beinharte Realität erklärt bekommen habe: mach das, was du willst, in deiner Freizeit, aber damit du es dir leisten kannst, musst du in der Arbeit das machen, was dir dein Chef sagt, nicht das, was du willst, was du richtig findest oder gar was dich persönlich erfüllt.
Es geht also doch auch anders.
Niklas