Heute besuchte ich ein kleines Sozialprojekt in den Favelas im Süden Curitibas, das den Kindern und Jugendlichen eine Zukunft ermöglichen soll; ihnen helfen soll, trotz der widrigen Bedingungen gute Schulabschlüsse zu schaffen und der Favela entkommen zu können. Erreicht werden soll dies durch PEI, eine von Reuven Feuerstein entwickelten Methode zur Effizienzsteigerung des Denkens. Die Eltern können die Kinder dort anmelden und dann werden sie entweder den Vormittag oder Nachmittag (in Brasilien gibt es in vielen Schulen die Möglichkeit, sie vormittags oder nachmittags zu besuchen) betreut. Während ich mangels Erfahrung mit der Methode nicht viel über ihre Effektivität oder Qualität urteilen kann, wurde mir klar, dass es sich nicht nur bei der Methode, sondern bei dem ganzen Projekt um eine Unter-richts-Konstellation handelt, und das dies vermutlich bei dem Grossteil der Entwicklungshilfeprojekte der Fall ist.
Unter-richt deswegen, weil es sich um eine Konstellation handelt, in dem nicht die Träume und Ziele der Favela-Bewohner das Projekt schufen, sondern die Idee der Projektbetreiber. PEI wurde nicht auserwählt, weil die Favela-Bewohner erkannt haben, dass sie ineffizient denken. PEI wurde auserwählt, weil die Projektbetreiber das Gefühl hatten, die Favela-Bewohner denken zu ineffizient und bräuchten hier Hilfe von aussen.
Nun, angeblich funktioniert es gut, es gibt positive Veränderungen, plötzlich könnten Kinder lesen, die vorher nicht lesen konnten (inwieweit dies auf die Methode zurückzuführen ist, halte ich für schwer feststellbar, während sich die Projektbetreiber „sicher“ sind). Vielleicht hilft diese Methode wirklich einigen Kindern und Jugendlichen, ihre Zukunft ausserhalb der Favela verbringen zu können, und ich streite diese Erfolge auch nicht ab. Aber die Favela bleibt bestehen. Alle paar Wochen oder Tage werden neue Kinder und Jugendliche in die Favela geboren. Ja, das Problem wird behandelt. Aber gelöst wird es so nicht.
Langfristig müssen Lösungen gefunden werden, die Favela selbst zu transformieren, nicht nur die Kinder der Bewohner. Dies kann von aussen angeordnet werden, aber es hilft den Bewohnern nicht, ihre eigene Hilflosigkeit zu überwinden. Dies kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, in dem den Bewohnern geholfen wird, ihre Favela selbst nach ihren Träumen zu transformieren. Und hier schliesst sich der Kreis zum Bunterricht: ähnlich, wie Bunterricht dem Lerner helfen soll, seine eigenen Träume zu realisieren und nicht die des Lehrers oder des Lehrplans zu kopieren, muss gute Entwicklungshilfe
1) dem zu Helfenden helfen, seine eigenen Träume zu erkennen und in schaffbare Einzelschritte zu konkretisieren und
2) dem zu Helfenden dort helfen, wo dieser es will, um seinen Autonomieprozess nicht zu bedrohen.
Ich denke, es macht als Lehrer Sinn, seinen eigenen Methoden daraufhin zu untersuchen, welche Auswirkungen sie in der Entwicklungshilfe haben würden. Würden sie von mir abhangig machen? Würden sie dazu fühern, dass die Bewohner der Favela in Zukunft ohne fremde Hilfe ihre Schwierigkeiten bewältigen können? Betreibe ich als Meister Entwicklungshilfe, helfe ich wirklich anderen, ihre eigenen Meister zu werden? Ist die Antwort auch nur vielleicht ein Nein, so wird es Zeit, neue Wege einzuschlagen.
Niklas