Gestern durfte ich an der Sonnenhausschule in Lambach hospitieren und konnte etwas Faszinierendes beobachten: mathematische Fantasien. Keine „lebensnahen“ und trotzdem gekünstelten Beispiele der Marke „Frau Mayr kauft Eier“, sondern Kinder, die sich in ihrer Fantasie Welten erschufen und sich die Fakten dazu errechneten. Es gab viele andere interessante Beobachtungen an diesem Tag, aber diese ist es wert, sie hier gesondert zu behandeln.
Ich bau mir meine Welt
Anfangs dachte ich (durch meine Beobachterposition konnte ich nicht direkt hinsehen), es handle sich um eine Art Brettspiel, das motivierend genug gestaltet war, dass die Kinder „nebenbei“ rechneten. Doch nach längerer Beobachtung kam ich zu dem Schluss, dass es gar keine Anleitung gab, und die Welten, um die es ging, nur in den Köpfen der Kinder (und einiger Zeichnungen und Zahlen auf Papier) existierten. Eine Gruppe von Mädchen sähte Pflanzen aus und überlegte sich, was wohl der Ertrag sein würde, zahlte Steuern, wählte Bürgermeisterinnen und definierte sich als Millidardäre oder Bettler. Sie schätzten den Ertrag an Eiern pro Legehenne, den Verkaufspreis für eine Schachtel Eier und den möglichen Verkaufserlös, gingen völlig selbstverständlich mit Begriffen wie Umsatz und Gewinn um.
Eine Gruppe junger Burschen plante eine Schisprungschanze, Schneekanonen, die möglichen Besucherzahlen, Absprungwinkel und „Rutschigkeit“ der Schanze. Vor einigen Wochen, als diese Spiele begonnen hatten, hatte es laut einer Betreuerin mit Kriegsspielen begonnen. Panzer- und Soldatenzahlen wurden verglichen und auf imaginären Schlachtfeldern bewegt, bevor die weiblichen Schülerinnen die zivilen Anwendungen dieses neuen Spiels in den Mittelpunkt rückten. Die Ereignisse, die in der vorgestellten Situation passieren können, werden von der Gruppe durchdiskutiert, bis für alle realistische Ergebnisse geschehen. Die Mathematik dient dabei als Instrument, um Realistisches von Unrealistischem zu trennen, so kann etwa eine Schachtel von 10 Eiern in der Gruppe kaum um mehr als drei Euro verkauft werden (man einigt sich in diesem Fall auf zwei Euro für 10 Eier). Ein Mädchen rechnet einem anderen vor, dass es, um zu einen Verkaufspreis zu gelangen, eben alle seine (imaginären) Kosten zusammenrechnen und diese verdoppeln soll, „weilsdas ja aufbaut hast“.
Herr Lehrer, wie finde ich das raus?
Diese Fantasiespiele sind in mehrfacher Hinsicht faszinierend für mich. Sie lösen das Problem, dass Mathematik von vielen Schülern als weltfremd wahrgenommen wird (meine Nachhilfeschüler beschweren sich da regelmäßig), schaffen eine subjektive Betroffenheit (die Schüler-/innen wollen z.B. Geld verdienen oder mit ihren Handlungen möglichst effektiv ein Ziel erreichen) und aus ansonsten unzusammenhängenden Beispielen werden logisch aus einer Geschichte oder Situation abgeleitete und damit nachvollziehbare Szenarien. Zudem können aus der Situation Situationen entstehen, die die Schüler noch nicht selbst lösen können – was Situationen schaffen mag, in denen ein Schüler ein tatsächliches Interesse hat, etwa die Zinseszinsenrechnung zu erlernen – eine vermutlich ungewohnte Situation für viele Lehrer.
Wie fördern?
Schwierig wird es wohl, wenn es darum geht, wie dieses konstruktive Fantasiespiel von einem Lehrer eingeführt werden kann. In dieser Schule ist es von selbst entstanden, sicherlich gefördert durch die große Freiheit bei der Auswahl der Aktivitäten an einer Montessori-basierten Pädagogik. In einem fächergegliederten Unterricht dürfte sich auch die Schwierigkeit stellen, wie viel dieser Fantasiespiele nun tatsächlich mit Mathematik zu tun haben, denn es finden sich mit Sicherheit auch viele Aspekte anderer Fächer in den Diskussionen der Schüler wieder, etwa Physik, Biologie, Wirtschaftskunde, Politik. Ob dies ein Hindernis oder eher ein Vorteil ist, möge ein jeder für sich selbst entscheiden.
Ob es eine Möglichkeit gibt, diese Fantasiespiele etwa durch sehr offen gestaltete Brettspiele oder Übungen zu fördern, wird auch von den Rahmenbedingungen einer Schule abhängen. Aber dort, wo sie spontan auftreten und ein Lehrer dies mitbekommt, mag es Sinn machen, diese nicht zu unterbinden oder geringzuschätzen, sondern mit konstruktiven Fragen eher noch zu fördern. Anstatt etwa eine Diskussion zweier Schüler darüber, wer den stärksten imaginären Panzer habe, zu unterbinden, könnte ein Lehrer auch raten, sich ihre Panzer aufzuzeichnen, das Terrain, in dem sie sich befinden, zu beschreiben und ihren Wettstreit mit (auch imaginären) Fakten zu untermauern. Wie schnell kann der Panzer mit seinem Gewicht von einem definitiv zu groß dimensionierten Rohr tatsächlich einen Gebirgszug hinauffahren? Kann er aufgrund seines Gewichts mit der Geschwindigkeit eines leichteren und damit schnelleren Gegners mithalten oder wird er leicht von hinten überrascht?
In einer regulären Schulklasse finden sich üblicherweise nicht allzu viele anregende Objekte, die ein mathematisches Verständnis fördern würden, beziehungsweise ist ein Ausprobieren vieler Aktivitäten mit diesen Objekten aus Sicherheitsgründen untersagt (etwa Gegenstände verschiedenen Gewichts umherwerfen). Diese Experimente jedoch in der Fantasie auszuführen und mit anderen nachzuvollziehen, dies ist durchaus möglich, und kann – wie ich an besagter Schule beobachten durfte – zu sehr tiefem mathematischen Verständnis führen. Vor allem aber erlösen diese Fantasie-Experimente die Mathematik ein wenig aus der Langeweile der ewig gleichen Schulbeispiele.
Falls ihr also die Möglichkeit habt, hierbei Erfahrungen zu sammeln, wünsche ich euch viele schöne Momente dabei, und vielleicht könnt ihr mir ja schreiben, wie es euch dabei ergangen ist.
Niklas